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Machtstrukturen im künstlerischen Prozess. Workshop und Filmvorführung am 14. September 2022 in Wuppertal

Event Rückblick

 

GEMEINSAMES NACHDENKEN

Der Film THE CASE YOU von ALISON KUHN hat uns in diesem Jahr durchgerüttelt, berührt, begeistert und inspiriert.

Er macht einen weiten Raum auf, den wir in unserer Arbeit betreten durften und den wir auch in unserem Diskussionspanel am Tag das Screenings gemeinsam erkunden wollten – mit unserem Publikum, sowie Regisseurin ALISON KUHN, Schauspieler und Aktivist JOHANNES LANGE und Regisseurin und Filmprofessorin ERICA VON MOELLER. Zusammen haben wir uns Fragen gestellt, die uns als Kunstschaffende und Menschen, die sich immer wieder in hierarchischen Strukturen bewegen (müssen), direkt betreffen: Welche Strukturen befördern Machtmissbrauch im künstlerischen Prozess? Was brauchen Betroffene um solche Situationen zu erkennen und richtig einordnen zu können? Wie findet man die richtige Worte dafür? Welche Verantwortung haben wir als Zeug*innen und als Teil von kollektiven Schaffensprozessen?

Im schwarzen Proberaum des denkmalgeschützten Schauspielhaus Wuppertal haben wir im Rahmen von Let’SDOK eine riesige Leinwand aufgebaut und THE CASE YOU gezeigt. Der dunkle Theatersaal, einst Zuhause des Pina Bausch Ensemble, verlängerte die Leinwand und ließ den filmischen und den realen Raum verschmelzen. So oft hatten wir diesen außergewöhnlichen Dokumentarfilm in der Vorbereitung bereits gesehen und dennoch: Durch die Location entfaltete er eine neue Wucht, die uns überwältigte.

Maria Kindling (Dokomotive Plattform): Ich habe den Film noch nie so erlebt, wie jetzt heute. Ganz interessant, was dieser Raum und die große Leinwand mit einem machen. Ich saß da hinten und war so wütend gerade.

Johannes Lange (Ensemble Netzwerk): Da sind viele Bilder hängengeblieben. Als die eine Schauspielerin sagte:„Ich habe gehofft, da muss doch jetzt jemand aufstehen und mich aus dieser Situation befreien.“ Das fand ich sehr eindrücklich, weil das den Filz von toxischen Machtzusammenhängen ganz gut beschreibt. Dass wahrscheinlich viele Leute in dem Raum saßen, die hätten helfen können. Aber durch dieses ungute Machtgefüge und durch die machtmissbräuchliche Situation selber in eine Blindheit geraten. (…) Den Vorgang im Film, der ist fast singulär, den möchte ich niemals mit meinen Erfahrungen vergleichen. Aber ich kenne, wie schnell das in diesen Zusammenhängen des vermeintlichen Kunstbetriebs kippen kann.

Im Vorfeld zu unserer Veranstaltung beschrieb die von uns eingeladene Künstlerin und Therapeutin POH LIN LEE den Film als einen Halbkreis in der Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse der Protagonistinnen. Wenn der Film gesehen wird, wird miterlebt, was die Frauen darin berichten. Erst durch diese „Zeugenschaft“, durch das Miterleben und Anerkennen dieser Erlebnisse, kann der Kreis geschlossen werden und wir können Verbündete der Frauen werden.

Ein schöneres Bild für Filmvermittlung können wir uns gar nicht vorstellen!

DAS UNBEHAGEN

Der Tag begann mit einem einführenden Workshop, den wir gemeinsam mit POH LIN LEE entwickelt hatten. Das komplexe Thema Machtmissbrauch bearbeitete sie darin ausgehend von dem Moment des Unbehagens. Dieses irritierende Gefühl ist auch der Kern einer Faustregel, die das Ensemble Netzwerk entwickelte, um Machtmissbrauch schneller zu erkennen und die Johannes Lange, Mitbegründer des Netzwerkes, in der Podiumsdiskussion mit uns teilte:

Johannes Lange: Wenn dich etwas stört und du hast das Gefühl, du kannst oder darfst es in dem Moment nicht ansprechen, dann weißt du schon: Hier stimmt etwas nicht. Das hat mir zumindest geholfen, Situationen leichter als machtmissbräuchlich oder toxisch zu identifizieren.

Aus dem Publikum: Auch im Workshop vorhin ging es genau um diesen Augenblick: Was ist Unbehagen und was löst das aus? Unbehagen kann auch eine Art Warnung sein, eine Vorahnung, vor dem was passiert.

Die genannte Faustregel kann eine Erinnerung sein, die eigenen warnenden Gefühle nicht zu übergehen. Denn der Film zeigt es sehr plastisch: Im Kunstbetrieb (und nicht nur da) ist es üblich, dass Unbehagen weggeschoben wird. Betroffene machen sich für die Irritationen und Unsicherheiten, die sie spüren, oft selbst verantwortlich. Diese Gefühle werden aber teilweise ganz bewusst erzeugt, um eine graue Zone zu erschaffen:

Maria Kindling: Zum Beispiel wenngesagt wird: „Stell dich vor!“ Und es wird nicht klar: Soll sie sich als sich selbst oder als Figur vorstellen? In diesem Moment wird so eine Unsicherheit geschaffen, die es erst möglich macht, dass die betroffene Person sich fragt: „Hä, was war das gerade eigentlich? Bin ich jetzt Psycho?“, so wie im Film beschrieben. Da entsteht eine Unsicherheit, die nicht entstehen würde, wenn man vorher kontextualisieren würde: „In der Szene geht es darum und wird das passieren und das ist deine Ansprechpartnerin. Ist es okay für dich?“ Aber diese Unsicherheit wird bewusst auch genutzt, um Macht auszuüben.

Erica von Moeller (Filmprofessorin): Diese Frage: Warum habe ich meine Grenzen nicht früher klar gemacht? Ich glaube, das kennen viele in ihrem Leben, in eine Situation zu kommen und das Gefühl zu haben: Ich muss das gut machen und in diesem „gut machen“, völlig blind werden.

Überhaupt um diese vermeintlichen Grauzonen, die auch aus einem Fehlen von Begriffen entstehen, drehte sich ein Großteil der Diskussion. Aus dem Publikum kam dazu noch eine wichtige Anmerkung:

Aus dem Publikum: Meiner Meinung nach gibt es keine Grauzonen. Übergriff ist Übergriff. Und der muss so benannt werden. Die Betroffenen wissen eigentlich oft sehr genau, was da passiert. Es ist aber sehr schwierig, das zur Sprache zu bringen. Und ich glaube da liegt das grundlegende Problem: Dass wir gerade jungen Menschen beibringen müssten, darüber zu reden.

DIE ROLLE DER AUSBILDUNG

Denn nur was gesagt werden kann, kann auch adressiert werden. Aber dafür müssen erst die Worte etabliert und das darüber Sprechen gelernt werden. Thomas Schmidt, auch Mitglied des Ensemble Netzwerk widmet der Ausbildung viele Seiten seiner Studie über die Arbeitsbedienung im Theaterbetrieb. Er kritisiert, dass gerade dort toxisches Verhalten und Strukturen reproduziert und damit verfestigt werden.

Alison Kuhn (Schauspielerin und Regisseurin): In meiner Schauspielausbildung wurde uns vermittelt: „Ja“ ist das wichtigste Wort. Immer „Ja“ sagen, immer irgendwie offen sein für alles, was kommt. Das kann aber, wenn man es so pauschal betrachtet, zu der Fehlannahme verleiten, dass „Nein“ ein verbotenes Wort ist. (…) Es wurde nie wirklich thematisiert, wo unsere Position in diesem Machtgefüge liegt, wie wir damit umzugehen haben, was für Risiken es gibt. Das würde ich mir sehr wünschen, dass das in Zukunft mehr ins Curriculum integriert würde.

Maria Kindling: Eine der Protagonistinnen sagt im Film: „Ich habe in der Schauspielschule gelernt, dass extreme Rollen zu mir passen.“ Die Frage, die sich für mich stellt, ist: Hast du auch gelernt, wie du aus dieser extremen Rolle wieder sicher „nach Hause“ kommst? Ich würde mir wünschen, dass das in der Ausbildung viel mehr fokussiert wird: Was tue ich, um in eine Rolle reinzugehen? Was macht das mit mir? Und wie komme ich auch wieder raus?

Schmidt kritisiert in seiner Studie auch, dass gerade Ausbilder*innen aus der alten Generation machtmissbräuchliche Verhaltensweise an die Unis bringen. Verbreitet ist vielerorts noch die Einstellung: „Kunst ist Grenzüberschreitung. Und wenn du nicht dafür bereit bist, bist du hier falsch.“

Johannes Lange: Uns wurde von älteren Kolleg*innen gesagt: „Das war schon immer so am Theater“. Mit dieser Haltung: Weil wir uns nicht auf die Beine gestellt haben, sollt ihr euch auch nicht auf die Beine stellen. Wie würden wir dann dastehen?“ Wir haben das „Theater-Folklore“ genannt. Das war so eines der Schlagbegriffe, mit denen wir das Netzwerk vom Küchentisch hochgezogen haben. Damit konnten gerade viele junge Kolleg*innen etwas anfangen, die sich von älteren Schauspielern irgendwie sagen lassen mussten: „Ich habe mit 39 Grad Fieber und zwei Tage nach dem Tod meines Vaters noch auf der Bühne gestanden. Also hab dich nicht so!“

VERÄNDERUNG: VON DER VEREINZELUNG ZUM KOLLEKTIV

In der Vorbereitung dieser Veranstaltung hat es uns viel Hoffnung gemacht, die Arbeit von Gruppen, wie das Ensemble Netzwerk und auch das Junge Ensemble Netzwerk (JEN) kennenzulernen. Das JEN besteht aus Studierenden verschiedener Theater- und Filmschulen, die sich vernetzen. In Workshops und Konferenzen beschäftigen sie sich unter anderen mit Machtmissbrauch, Umgang mit Grenzen in der Kunst und in der Schauspielarbeit. Alles Themen mit den wahrscheinlich Generationen von Studierenden vorher auch schon am Küchentisch gehadert haben.

Johannes Lange: Über das JEN hat sich über die letzten Jahre in der Schauspielausbildung ein ganz anderer Geist eingeschlichen. Jetzt wird dort über höhere Mindestgagen gesprochen und es gibt überhaupt ein größeres Bewusstsein für die strukturellen Probleme, die ja Machtmissbrauch am Theater begünstigen. „Machtmissbrauch“ – das ist ja ein Sammelsurium an ganz vielen unterschiedlichen Situation: Das ist Frauenfeindlichkeit, das ist Transfeindlichkeit, das ist Homophobie, das sind prekäre Arbeitsbedingungen, es ist Überlastung…

Maria Kindling:Es ist so wichtig, diesen ersten Schritt zu gehen, sich zusammenzuschließen. Und man muss auch auf die Idee erst einmal kommen, wenn man sich so viel in einem System bewegt, was so stark vereinzelt.

Das ist auch, was uns an diesem Film so beeindruckt – das anhaltende Gefühl von „Sisterhood“ zwischen den Frauen. Das zeigt den Weg zur Veränderung auf: Der Vernetzungsgedanke als rettender Anker und Empowerment durch Solidarität. Das Überwinden von traumatischen Erlebnissen ist keine private Angelegenheit und erst durch die kollektive Verarbeitung, kann die strukturelle Ebene dieses Systems, das Missbrauch begünstigt, überhaupt verändert werden.

Maria Kindling: Der künstlerische Prozess lebt auch von unkontrollierbaren Situationen, in denen es eigentlich nur helfen kann, eine Kollektivität zu schaffen. Selbst wenn ich in eine grenzüberschreitende Situation gerate und zum Beispiel alleine mit dem Regisseur bin. Wenn es da eine Kollektivität gibt, die sich zusammen tut, um das zu thematisieren, erst da habe ich die Struktur, um überhaupt darüber sprechen zu können. Das kann ich aus der Individualität nicht schaffen.

Alison Kuhn: Ich finde es auch immer schwierig, dort anzusetzen: Was müssen Betroffene machen, um sich zu schützen. Es ist viel wichtiger, die andere Seite anzugucken und zu schauen: Wie können wir, die diese Macht in der Hand haben, für einen Safe Space sorgen? Also da muss man ansetzen: Menschen gar nicht zu Täter*innen werden zu lassen. Das ist oft das, was in Diskussionen irgendwie nicht so ganz mit bedacht wird.

VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN

Aber was bedeutet all das für unsere konkrete Arbeit? Was müssen wir verändern? Was können wir tun als Regisseur*in, Schauspieler*in, Student*in, Professor*in, Filmvermittler*in?

Erica von Moeller: Es geht da nicht nur um toxische Machtstrukturen, sondern: Wie wollen wir das gesamte Miteinander gestalten? Letztlich wollen wir alle, dass am Ende ein wahnsinnig toller Film dabei rauskommt. Und ich finde das immer so absurd, dass man in der Regie-Position oft in eine Rolle gedrängt wird, oder sich drängen lässt: „Ich sage, wo es lang geht.“ Weil wir sind ja sofort aufgeschmissen, wenn viele eben nicht mitmachen. Und in diesem Gedanken, glaube ich, kann es eigentlich auch nur ein Weg der Regie geben, der alle mitnimmt.

Alison Kuhn: Ich finde, es liegt an den Menschen in Machtpositionen, das zu artikulieren. Zum Beispiel sage ich an jedem ersten Drehtag dem ganzen Team, dass wenn irgendetwas sein sollte, dass sie das bitte jederzeit ansprechen sollen. Das scheint so simpel aber ich glaube solche Sachen müssen ausgesprochen werden. Das muss artikuliert werden, damit sich in solchen Situationen eben gar nicht die Frage stellt: Ist das jetzt okay, wenn ich das anspreche?

Aus dem Publikum: Da gab es auch eine Forderung nach einer externen Struktur, die quasi aufpasst. Ich finde es an sich nicht schlecht, aber auch das ist eher eine allgemeine gesellschaftliche Verantwortung; dass es erst gar nicht zu solchen Situationen kommt, bevor eine Kontrollinstanz darüber urteilt und einschreitet. Das können wir alle.

Die angeregte Diskussion an diesem Abend zeugte vom unglaublichen Redebedarf. Es war eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Wechselspiel zwischen Macht und Empowerment, ein kollektives Ausloten der Grenzen in der Kunst und ein Nachdenken über gewollte Grenzüberschreitung als berechtigter Teil eines konsensuellen künstlerischen Prozesses.

Wir sind froh und dankbar, dass so viele unsere Einladung zum gemeinsam Überlegen gefolgt sind und nehmen tolle Anregungen ins Gepäck mit. Wir danken an dieser Stelle auch dem Pina Bausch Zentrum und der Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW herzlich für die tolle Zusammenarbeit!

Zum Film "The Case You" auf der DOKOMOTIVE PLATTFORM
Zum Diskursvideo "Memory is so linked with Reputation"

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Eine Dokomotive Veranstaltung in Kooperation mit dem Pina Bausch Zentrum, der dfi im Filmbüro NW und Let’sDOK. Gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.