Interview Yvonne Heise q

Abschied von Thomas Heise

Thomas Heise, „*1955 in Berlin (DDR), u.a. Meisterschüler der Akademie der Künste, Dokumentarist der Wende, sein Werk – ein Speicher von Erfahrungen und Geschichten“, verzeichnet knapp der Klappentext zu seinem Buch „SPUREN. Eine Archäologie der realen Existenz“, erschienen 2010 in der dfi-Buchreihe. Diese Angaben enthalten bereits viele der ihn prägenden Ereignisse.

Er war gelegentlich als Gast bei den dfi-Symposien anwesend, wo er seine dokumentarische Arbeitsweise, Ideen für Filme vortrug, nicht so oft wie bei der benachbarten Duisburger Filmwoche, wo er alle seine Filme vorstellte. Aber er hat die Auffassungen des dokumentarischen Arbeitens und seiner Grundlagen, die für die dfi relevant waren, geprägt.

Seine Aufmerksamkeit für das Material jeglicher Art, filmisch, akustisch, grafisch, für die Aussagen seiner Protagonist:innen, hat ihn oft zu seinem dokumentarischen Stil des spezifischen Gleichgewichts und der wechselseitigen Intensivierung von Bild- und Tonspur geführt. Sprache und Bild, Gehörtes und Gesehenes, hinzu kommt das geschriebene Wort, hat er als Materialien behandelt, mit den ihnen inhärenten Kohärenzen wie ihren unterschiedlichen Valeurs.

So enthält der Band „SPUREN“ die Transkripte aller seiner Filme, Hörspiele und Tondokumente bis 2010, dokumentarische Fotoarbeiten, private Briefe der Familie und zuletzt auch den Briefwechsel zur Relegation von der HFF Potsdam-Babelsberg (DDR) und mit der Behörde „Der Beauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ um die Freigabe jener Dokumente und um seine Rehabilitierung. Dies alles gesetzt oder als Faksimile, auch die Form der Behördenbriefe ist ein Dokument. Dieser Vorgang von 1982 hat ihn nachhaltig geprägt, ihn in seiner genauen Wahrnehmung der Zumutungen durch Kulturbürokratien sensibilisiert, wie zuletzt bei der Einflussnahme der Politik auf die Entscheidung der Dokumentarfilmjury bei der Berlinale 2024.

Eine DVD mit dem Film MATERIAL konnte die dfi ebenfalls mitherausgeben, dem einzigen Werk, das im Herbst 1989 die Hoffnungen und Forderungen vieler gesellschaftlicher Gruppen in der DDR festhielt. Dieser Film ist das definitive Dokument des Moments, als die Entwicklung politisch offen war, bevor der Anschluss kam.

Thomas hatte weitgespannte Kenntnisse der Literatur und des Theaters, unter anderem inspiriert durch seinen Fixstern Heiner Müller. Dadurch entstand sein Gespür für die ästhetische Form und so lesen sich zum Beispiel die Transkripte seiner Filme wie Theaterstücke, die gleich auf die Bühne gebracht werden könnten. Er besaß die Gabe der Freundschaft und seine Filme waren auch immer Ausdruck dieses künstlerischen Netzwerks.

Er wird der gesamten Dokumentarfilmlandschaft fehlen. Seine Filme und Dokumente werden über seine eigene physische Existenz hinaus Wirkung auf die Erinnerung und Hoffnungen vieler Generationen haben.

Petra L. Schmitz, bis 2020 Leiterin der dfi - Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW

 

Links zu seiner Arbeitsweise
Zum Buch "Thomas Heise. SPUREN. Eine Archäologie der realen Existenz", zur Leseprobe (PDF) und zur Lesung aus dem Buch.
Zu den in der Edition Filmmuseum eschienenen DVDs "Material" und "Dokumentarisch Arbeiten 2".
Zu Thomas Heises Vortrag "Zukunft ist Vergangenheit und Gegenwart ist das, was bleibt" im Rahmen des dfi-Symposiums BILDERSTRÖME.
Einige von Thomas Heises Filmen sind als Stream über die Bundeszentrale für politische Bildung verfügbar.