Hilfe zur Archiv Suche
Dropdown-Listen = Filtern nach Themen, Veranstaltungsarten, Medien und Schlagworten.
"Suchwort eingeben" = freie Suche nach beliebigem Suchwort (z.B. auch Namen)
Beide Sucharten können einzeln oder kombiniert benutzt werden.

Das Archiv mit den Veranstaltungen der dfi erschließt sich in der mobilen Ansicht am einfachsten über das Dropdownfeld "Themen" und dann auf "Suche" klicken.

 


Interviews mit Dokumentarfilmern

Im Strom des Unvorhersehbaren

Ein Gespräch zwischen Michael Girke und Klaus Wildenhahn

 Logo PDF Gespräch zwischen Michael Girke und Klaus Wildenhahn

Michael Girke: Als ich neulich Fotos aus meiner Kindheit betrachtete, fiel mir auf, wie anders vor nur dreißig Jahren alles noch ausgesehen hatte: Kleidung, Farben, Geschäfte. Ich stelle mir vor, während Ihrer frühen Jahre muss Deutschland wiederum ganz anders ausgesehen haben als heute. Gibt es bei Ihnen ein Bewusstsein für solche Veränderungen?
Klaus Wildenhahn: Ich erinnere mich noch etwas an das Gymnasium, das in einem kleinen Ort in der Lausitz war, an den Platz, welcher vor den Fenstern der Stuben lag. Und an Potsdam, wo wir eine Behelfswohnung hatten. Die Veränderungen sind mir aber nicht deutlich bewusst. Vielleicht habe ich einfach zuviel vergessen. Es kann aber auch mit dem Schmerzlichen des Erinnerns [zu tun haben], das mir deswegen schwer fällt. Es ist damals zuviel auf einmal passiert.

Klaus Wildenhahn

Befreiung von den Nazis bedeutete für einen Jungen eine Art Aufatmen?
Unbedingt. Als die Russen in Potsdam einmarschierten, saßen wir mit einigen wenigen älteren Menschen im Keller. Es kam dann zu dem, was als schlimmster aller Schrecken angekündigt war: ein russischer Soldat drang mit seiner MP in diesen Keller. Wir dachten, er vergewaltigt all die Frauen. Er kam dann aber rein, sagte bloß das übliche 'Uri, Uri', nahm meine Konfirmationsuhr, band sie um sein Handgelenk, wo bereits fünf andere Uhren waren und ging wieder raus. Damit war’s gut. Das war für mich unheimlich schön.
Es gab auch Gefechte in unserer Straße, natürlich sah man Leichen da liegen, betrachtete seine Toten in dieser Situation aber wie eine Normalität. Hinterher traf ich meinen besten Kumpel wieder und uns war irgendwie klar, dass nun etwas Neues begann. Ich habe überhaupt kein Gefühl des Schreckens in Erinnerung. Auch keine Vergewaltigungen, ich will aber überhaupt nicht ableugnen, dass so etwas passierte.

War das Gefühl der Befreiung allgemein verbreitet?
Das kann ich hauptsächlich an meiner Mutter festmachen. Bei ihr war es auf jeden Fall so. Es tut mir leid. Jeder Nazi behauptet ja, er wäre eigentlich Anti-Faschist gewesen. Aber bei meiner alten Dame stimmt es wirklich, sie war im Ersten Weltkrieg zu einer entschiedenen Pazifistin geworden. Die vielen Geschichten, die sie mir über diesen Krieg erzählte, in dem sie als Krankenschwester an der belgischen Front gearbeitet hatte, waren der Grund, weswegen ich dann später einen Film über den Ort Ostende gedreht habe. Im Großen und Ganzen verstand ich mich mit meiner Mutter nicht sehr gut, aber an diesem Punkt verdanke ich ihr sehr viel.

Haben Sie als Junge die von Amerikanern, Russen, Engländern mitgebrachte Kultur wahrgenommen?
Wahrscheinlich sahen wir ein paar russische Filme. Aber in Potsdam war alles zerschossen, Berlin war kaputt und zerstört. Das ist mein dominanter Eindruck. Das mit der Kultur setzte erst später ein. In Schmargendorf lebten wir im Britischen Sektor. Im Amerikanischen Sektor, am Breitenbachplatz, gab es ein Kino, das Lido. Man musste eine halbe Stunde hinlaufen, konnte dort aber amerikanische Filme sehen. Das war, wenn man so will, mein kulturelles Aha-Erlebnis.

Welche Filme konkret?
Konkret weiß ich sie nicht mehr zu nennen. Ich erinnere mich mehr an Gestalten mit bestimmten Haltungen. Beispielsweise an Humphrey Bogart. Wahrscheinlich wohl im „Malteser Falken“. Die für mich bis heute schwer definierbare Haltung schauspielernder, amerikanischer Männer - etwas unterkühlt, aber humorvoll – hat mich schwer beeindruckt.

Klaus Theweleit hat einmal die Art beschrieben, wie amerikanische Schauspieler sich bewegen. Er stellt ihre betonte Körperlichkeit heraus. In deutschen Filmen der 1930er- bis 60er-Jahre hingegen werde jegliche Körperlichkeit verdrängt; diese seien vergleichsweise steif, verkrampft, asexuell.
Das stimmt. Man kann über die Amerikaner lästern, ihren Imperialismus beklagen, tausend andere Gründe finden, warum man sie nicht toll findet, aber für uns war da sehr viel zu finden. Sie dürfen nicht vergessen: unsereiner war mit deutschen Soldaten in Uniform aufgewachsen, die immer zackig zu sein hatten. Und auf einmal kamen diese so ganz anderen Amis in unseren Blick.  
Vielleicht spielte irgendetwas in der damaligen amerikanischen Erziehung die entscheidende Rolle; dass den Kindern dort immer ein Stück Eigenverantwortung mitgegeben wurde. Was bei uns ja überhaupt nicht der Fall war. Hier mussten die Kinder parieren, wie es der in dieser Hinsicht sehr eindrückliche Film „Das weiße Band“ ja gut zeigt. Vielleicht etwas zugespitzt, aber dieses 'Herr Vater, Herr Lehrer', dieses unbedingt Autoritätshörige, was dann tückische Auflehnungsformen nach sich zieht, das gab es durchaus. Heute hat sich das sicherlich geändert, auch Dank der Achtundsechziger, aber da wirkt auch noch etwas nach, das ist sehr schwer fassbar.

Sie erwähnten Humphrey Bogart. Für einen Bewunderer Bogarts läge es nahe, Spielfilme machen zu wollen.
Das war bei mir nie der Fall! Wahrscheinlich fehlt mir da irgendwas, was ich Gott sei Dank rechzeitig erkannt habe. Aber noch mal zurück zu dieser anderen Seinsweise der Amerikaner. Die zeigt sich ja auch in der amerikanischen Spielart des Dokumentarfilms, dem Direct Cinema, das nach dem Kriege plötzlich aufbrach. Wobei einer der Protagonisten ein Engländer von den Kanarischen Inseln war: Richard Leacock. Der lebte aber in Amerika und arbeitete als Kameramann von Robert Flaherty. Jedenfalls verkörpert das Direct Cinema diese amerikanische Haltung, anders, freier mit Film umzugehen. Man missachtete die gezielte Einstellung und Kadrierung völlig, legte auf andere Dinge Wert, nämlich darauf, den Zufall gelten zu lassen, ließ sich ohne vorgefassten Plan auf etwas ein.

Im Italien der 1940er passierte etwas Ähnliches. Die faschistische Kultur Mussolinis war eine monumentale und kitschige Kulissenwelt zur Verdeckung gesellschaftlicher Realitäten. In dieser Zeit übersetzten die Schriftsteller Pavese und Vittorini amerikanische Literatur: Melville, Whitman, Dos Passos und sahen das als ästhetischen Widerstand an. Denn die Amerikaner hatten eine realistische Sprache. Regisseure wie Fellini, Antonioni lasen diese Literatur, was dann den Neorealismus stark prägte. Das ist eine interessante Parallele zu Ihrer persönlichen Entwicklung.
Wobei die diesen Einfluss allerdings in Spielfilme umsetzten, die aber tatsächlich nicht mehr in Kulissen, sondern auf der Straße gedreht wurden. Jedenfalls hat der direktere Umgang des amerikanischen Direct Cinema mit der Wirklichkeit auf mich solch einen Eindruck gemacht, dass es dem gleichkam, was man eine Epiphanie nennt. Ich war auch Austauschstudent in Amerika, habe das Land besser kennen gelernt, dort auch bis heute bestehende Freundschaften entwickelt.

Springen wir in die 1950er-Jahre, in die Adenauerzeit.
Das ist meine verkrachte Zeit. 1949 machte ich Abitur, 1950 begann ich an der Freien Universität Publizistik zu studieren, wechselte dann später auf Jura. Eigentlich jedoch wusste ich überhaupt nicht wohin, war mit mir selbst im Unreinen und wurde zu einem dieser typischen deutschen Langzeitstudenten. Das einzige Sinnvolle war, dass ich in dieser Zeit, angeregt von den Lektüren der Amerikaner, Kurzgeschichten schrieb, auch erste Gedichte. Irgendwann meinte meine amerikanische Freundin, es sei wichtig, dass ich hier raus komme. Sie half mir, nach London zu gehen, wo ich mich plötzlich in der harten Realität zu bewähren hatte. Damals brauchte man als Ausländer noch eine Arbeitsgenehmigung. Ich wandte mich dem für Ausländer einzig erreichbaren Beruf zu, ging als Krankenpflegerlehrling in ein Mental Hospital, also praktisch in eine Irrenanstalt. Aber in England fand ein entscheidender Teil meiner Selbstfindung statt.

Das wäre in Deutschland nicht möglich gewesen?
Vielleicht. Wenn ich energischer auf irgendetwas hingearbeitet hätte. Vielleicht hätte ich dann einen ebensolchen Realitätsbezug herstellen können, was mir aber einfach nicht gelang. Zuviel hing nach in diesem Land. Es brauchte dazu wohl eine befreundete amerikanische Seele, die mir zu dem Sprung in ein Englisch sprechendes Land verhalf. 

Das Kino war weit weg.
Sehr weit weg! Damit hatte ich nichts zu tun. Bloß dass ich ab und zu schrieb. Was mich dabei inspirierte, war die wöchentlich erscheinende Radiozeitung der BBC „The Listener“, die Gedichte abdruckte. Diese englischen Gedichte fand ich außerordentlich interessant, weil sie eigentlich kleine Reportagen waren.

Wegen all der Ereignisse zwischen 1933-45 war die deutsche Kultur für Sie gleichsam kontaminiert?
Das scheint tatsächlich so gewesen zu sein. Ich hatte überhaupt kein Interesse an der großen deutschen Literatur, auch kein Verständnis für deutsche Dichter, welche wir ja in der Schule durchgenommen haben. Als junger Mensch war ich durch den Krieg und all das verletzt worden und die Begegnung mit den englisch-amerikanischen Autoren und ihrer Realitätsannäherung bedeutete offenbar so etwas wie eine Heilung.

In den 1960er-Jahren arbeiten Sie dann fürs deutsche Fernsehen und machen erste Dokumentarfilme. Und es findet in jenem Jahrzehnt eine starke Politisierung statt.
Es liegt noch einiges dazwischen. In London dachte ich, als Ausgleich zu meinem Job sollte ich mich mit etwas Phantasievollem beschäftigen. Woraufhin ich bei der Londoner Universität anrief und mir ein Privatlehrer für Japanisch vermittelt wurde. Das war ein ehemaliger Besatzungsoffizier, der Japanisch gelernt hatte, um Gefangene zu vernehmen. Sehr abenteuerlich. Der unterrichtete mich für wenig Geld. Diese Geschichte erzähle ich, weil ich so zu einer japanischen Freundin gekommen bin, mit der ich dann ein Kind bekam. Wir heirateten. Und so stand ich vor dem Problem, mehr Geld verdienen zu müssen. Und das ging leider nur in meinem Heimatland. Eigentlich gefiel es mir in London viel besser.
Ich ging dann nach Hamburg zurück, wo mein Vater lebte, dazu noch eine sehr freundliche Tante. Und nun kommt der Zufall ins Spiel. Ein Freund von mir kannte ein Mädchen in Berlin, welche die Geliebte eines Produzenten der Fernsehlotterie war. Mein Freund meinte, sie könnte vielleicht ein Wort für mich einlegen, was sie dann tatsächlich gemacht hat. Zur Vorstellung nahm ich zwei meiner merkwürdigen Gedichte mit, die waren ja alles, was ich vorzuweisen hatte. Und ich erzählte, dass ich eigentlich nichts konnte. Trotzdem sagte der: 'wir werden es versuchen'. Das war mein Anfang beim Fernsehen. Ich wurde Assistent bei der Herstellung der Fernsehlotterie, erlebte Dreharbeiten von Werbespots mit, kleinen, an die Tagesschau angehängten Storys, die stets mit dem Slogan „Mit fünf Mark sind Sie dabei“ endeten. In der Tat waren die Macher dieser Spots meine Lehrer für Film.  
Mit meiner Fähigkeit, Werbespots herstellen zu können, kam ich dann in die ganz neu konzipierte Sendung „Panorama“, in den Journalismus also. Der Chef war Gert von Paczensky, die Redaktion voller hochkarätiger Journalisten, die eigentlich zum „Spiegel“ sollten, der damals beabsichtigte, eine Tageszeitung auf den Markt zu bringen. Das zerschlug sich aber und der NDR kaufte die ganze Mannschaft dann für „Panorama“ ein. Meine Aufgabe war es, die Storys der Journalisten in Film zu übersetzten. Und schließlich kam es dazu, dass ich regelmäßig zu den Festivals nach Oberhausen und Mannheim fuhr und so mir Filmbildung aneignete. In Oberhausen hatten es mir besonders die Polen angetan, zum Beispiel Karabasz. In Mannheim lernte ich die Regisseure Leacock, Maysles und Pennebaker persönlich kennen und mit ihnen das Direct Cinema. Das war’s dann.

Aber Sie hatten noch keine Identität als Filmemacher.
Nein, Filmemachen war ein Job. Ich war froh ihn zu haben, um meine Familie ernähren zu können.

All das heißt, die Form des Direct Cinema gab es in Deutschland noch gar nicht?
Wie ich jetzt in Stuttgart erfuhr, nahmen einige Mitarbeiter vom SDR das damals für sich in Anspruch. Stuttgart lag ja in der Amerikanischen Besatzungszone, und Leute wie Elmar Hügler und Bittdorf haben sicher mit solchen Formen gearbeitet. Ich glaube auch, dass der deutsche Journalismus manchmal derlei Methoden benutzte, sie aber letztendlich immer wieder nur in ein sehr deutsches journalistisches Format eingliederte, statt sie als freiere Form anzusehen und anzuwenden.

Gab es jemals Konflikte mit den Journalisten, weil die möglicherweise andere Vorstellungen von dieser Arbeit hatten?
Nein, ich versuchte  denen im Sinne eines guten Handwerkers gerecht zu werden. 

Wann war der Moment, wo Sie erstmals sagten: dies ist ein Klaus Wildenhahn Film?
Für „Panorama“ versuchte ich häufig etwas zu realisieren, was durch das Direct Cinema angeregt war. Aber der erste gezielte Versuch Direct Cinema zu machen, waren dann Reportagen über Parteitage der CDU, der CSU und der SPD.

Sie waren Ihr ganzes Filmemacherleben lang Angestellter des Fernsehens, haben also in fest gefügten Produktionsverhältnissen gearbeitet. Liest man Ihre Äußerungen, wirkt es, als hätten Sie starke Vorbehalte, den Autorenbegriff auf sich anzuwenden.
Das ist ja in jeder Hinsicht schwierig. Buch und Regie, so hießen die Bezeichnungen, die ich zunächst für mich anwendete, weil es beim Fernsehspiel halt so üblich war. Auf das Direct Cinema treffen diese Bezeichnungen in der Form aber gar nicht zu. Hierbei liegt die Autorschaft ja in etwas ganz anderem, nämlich darin, einem Geschehen zu folgen, vorauszuahnen, ob ein Moment etwas hergeben mag oder nicht, dem Kameramann Einsätze zu geben. Zuletzt sagte ich, ich sei zuständig für Filmerzählung und Ton.

Gibt es beim Filmemachen so etwas wie einen Reifungsprozess, Dinge also, die einem im Laufe der Arbeit zuwachsen?
Dazu kann ich allenfalls etwas sagen, was vielleicht damit zu tun hat. Als ich meinen letzten Film in Mostar machte, stellte ich fest, dass ich nicht mehr konnte, rein körperlich an Stamina verloren hatte, an Kraft und Durchhaltevermögen, geduldig, gespannt und aufmerksam zu bleiben. Da habe ich zu mir selbst gesagt, ich muss aufhören, sonst versaue ich mir die Filme. Ich habe von da an lieber geschrieben. Zum Beispiel das Buch „Der Körper des Autoren“. Es zu schreiben, war in gewisser Weise wie einen Film zu drehen, hat genau dieselbe Befriedigung gegeben.

Was das Schöne an Ihren Filmen ist, diese enorme Aufmerksamkeit für Nuancen, für Kleinigkeiten, ist zugleich enorm zehrend.
Ja, Körper und Seele müssen Hand in Hand gehen. Man muss ja stundenlang in realen Situationen stehen und warten, dabei permanent aufnahmebereit bleiben und zugleich freundlich mit den all sehr verschiedenen Menschen umgehen. Damals konnte man ja nicht unaufhörlich drehen, sondern musste sparsam mit dem vorhandenen Filmmaterial umzugehen.

Wie war Ihr Verhältnis zu den Achtundsechzigern, zu dem damaligen gesellschaftlichen Aufbruch?
Das ist vielschichtig. Im Vergleich zu den meisten Protagonisten jener Zeit, war ich viel älter. Und mit deren Sprache, die mich stark beschäftigte, war ich überhaupt nicht einverstanden. Als ich dann an die Berliner Filmhochschule berufen wurde, versuchte ich die Studenten in erster Linie zum Filmemachen zu motivieren. Denn damals war die DFFB in ständigem Aufruhr, regelmäßig kam es zu Vollversammlungen, welche stark von bestimmten Politsprechern dominiert wurden. Ich erinnere mich an Thomas Mitscherlich, den Sohn des berühmten Psychoanalytikers. Er wirkte in dominierender Weise an den internen Diskussionen der DFFB mit, konnte nahezu endlos parlieren, war aber dennoch ein anderes intellektuelles Kaliber als diese, wie ich finde, in ihren marxistischen Theorien sich verlierenden, dazu oft auch noch opportunistischen Politsprecher. Weil ich die Studenten wieder zum Filmemachen bringen wollte, ging ich daran, eine Wochenschaugruppe zu gründen. Dabei verfuhr ich sozusagen zweigleisig, schlug einerseits vor, dass die Studenten ihre Auseinandersetzungen drehen, gleichzeitig aber auch immer ein äußeres Ereignis, irgendein Berliner Geschehen mit hinein nehmen sollten. Es war ein Versuch, deren Ansichten irgendwie mit äußerer Realität anzufüllen, was aber nur ein paar Mal annähernd gelang.

Es gab ja diese Versuche der Studenten, mit Arbeitern in Verbindung zu kommen. Man ging in die Fabriken. Kann man sagen, in den 1970er Jahren machen Sie so etwas mit der Kamera?
Bei den politisch engagierten Studenten waren das meistens rauschhaft kurze Momente, denn die Wirklichkeit sah natürlich sehr spröde und langweilig aus. Dieser langen Weile haben wir uns dann intensiv ausgesetzt. Der linke Aufruhr der Achtundsechziger war für mich ein Hinweis, mich stärker auf die innenpolitische Situation der Bundesrepublik zu konzentrieren. Zunächst machte ich, das war der Anfang meiner Beziehung mit Gisela Tuchtenhagen, den Film „Der Hamburger Aufstand“, der die Geschichte des Hamburger Arbeiteraufstandes von 1923 erzählt. Ich bin Jahrgang 1930 und dachte, von den Aufständischen müssten einige noch leben. Und weil Hamburg meine Heimatstadt geworden war, suchte ich dort sehr gern nach den alten Frauen und Männern der Kommunistischen Partei, die diesen Aufstand überlebt und einen großen Teil ihres Lebens in Gefängnissen und Konzentrationslagern gesessen hatten. Diesen Film zu machen, hat mich richtiggehend getragen, das antifaschistische Engagement dieser Leute zu vermitteln, vielleicht weiterzuentwickeln, war für mich wichtiger als alle Versuche der damaligen linken Szene. Der Sender wollte dem Film dann einen ganz anderen Schluss anhängen, was wir aber abzuwehren vermochten. Er wurde dann nicht gesendet, erst Jahrzehnte später ein Drittel davon.
Danach wandte ich mich mit „Emden geht nach USA“ den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zu. Denn ich wollte mich keiner Partei annähern, auch nicht den neu gegründeten linken Parteien, sondern dachte, die Gewerkschaft ist die geeignete gesellschaftliche Formation, um Arbeiterinteressen vernehmbar zu artikulieren und politisch durchzusetzen. Und so lernte ich einen Lehrer aus Sprockhövel kennen, einen IG-Metaller, Emil Plump, der mir entscheidende Hinweise gab.
Die älteren Menschen aus der DKP und die Gewerkschafter – die haben mir immer wieder den größten Respekt abgefordert, wurden aber von den Maoisten und anderen Achtundsechzigern als Pest empfunden. Und so ging ich auf meinen angepassten, revisionistischen Polittrip, wie es im damaligen Jargon hieß.

Kann man auch Ihr Buch „Über synthetischen und dokumentarischen Film“ - als Versuch ansehen, diesen extrem politisierten Menschen das Kino nahe zu bringen?
Es war in gewisser Weise die Fortsetzung meiner Arbeit an der DFFB. Es war ein großes Privileg gewesen, dass ich in Berlin ungeheuer viele Filme sehen und kennenlernen konnte. Und es gab den Dozenten Ulrich Gregor, der immer weiter seine Filmvorführungen machte. Im Archiv der DFFB befanden sich beispielsweise die Filme von Dziga Vertov, die einen großen Einfluss auf mich hatten. Dazu mochte ich die englischen Dokumentarfilme nach wie vor sehr. Und so konnte ich mich in dem Buch auf all diese Dokumentarfilme beziehen, die kaum jemand kannte, und diese dabei auch vorstellen.  
Es wurde mir oft unterstellt, dass ich den Dokumentarfilm über alles stellen würde. Das ist Unsinn. Mit meinem Filmbuch versuche ich auszudrücken, dass das Dokumentarische und das Fiktive sich gegenseitig respektieren, dass es zusammenhängt und zusammengeht. Da ist also keine Feindschaft, dazu waren Spielfilme in meiner persönlichen Entwicklung viel zu wichtig.

Sie sind Mitbegründer der Duisburger Filmwoche als eines Festivals des Dokumentarfilms. Dort fand zu Beginn der 1980er eine heftige und folgenreiche Debatte zwischen Ihnen und Klaus Kreimeier statt. Es ging darum, was einen Dokumentarfilm eigentlich substanziell ausmacht. Ist dieser Streit noch ein Nachklang der 1968er-Zeit?
Das kann man wohl so sagen. In den 1960ern war Klaus Kreimeier, ganz im Gegensatz zu mir, ein Sympathisant der maoistischen Linie gewesen, dazu war er hoch gebildet, ein ungeheuer kluger Kopf. Eine Zeit lang lehrte auch er an der DFFB. Auf der einen Seite habe ich ihn immer respektiert, auf der anderen Seite gab es gewisse Dinge an seinen Positionen, die mir nicht passten. Und so schrieb ich zu Beginn eines damaligen Aufsatzes, dass etwas lange Angestautes einmal geäußert werden sollte. Allerdings war das, worauf ich konkret reagierte, nur eine kleine Kritik von ihm gewesen, auf die ich nun mit wer weiß wie vielen Seiten antwortete. Das war einfach unverhältnismäßig. Und dazu war es für ihn ein Leichtes, meine Positionen auseinander zu pflücken, denn dummerweise zitiere ich an einer wichtigen Stelle einen Begriff aus irgendeinem DDR-Lexikon. Jedenfalls geht diese ganze Auseinandersetzung von 1980 auf die Zeit an der DFFB zurück, wo ich gegen die sich oftmals sehr laut äußernden radikalen Studenten zu argumentieren hatte.

Auf welche Themen würde Klaus Wildenhahn heute mit Filmen reagieren?
Gerade ist dieses Buch mit dem Titel „Die Vier“ erschienen. Es geht darin um diese vier Abgeordneten in Hessen, die von der Parteilinie abwichen, wodurch die SPD nicht mit der LINKEN koalieren, Andrea Ypsilanti nicht Ministerpräsidentin werden konnte. Das sind sehr bezeichnende Vorgänge, die mich interessieren. Wie genau funktioniert Macht? In unserem System hat es ja eine enorme Relevanz, wie die Bindungen der Politiker untereinander und die Bindung an ihre Posten sich gestalten. Das Funktionieren von Organisationen wie den Gewerkschaften darzustellen - das war es ja, was ich mit meinen Gewerkschaftsfilmen versucht habe. Und heute würde es mich interessieren, einen genauen Blick in unsere Parteien hineinzuwerfen, zu sehen, wie es dort eigentlich wirklich zugeht.

In Ihrem Film über das Tanztheater der Pina Bausch spielt der Schriftsteller Peter Weiß eine gewisse Rolle. Dessen bekanntestes Buch ist „Die Ästhetik des Widerstands“. In Ihrem Buch „Der Körper des Autoren“ heißt es einmal, Sie hätten Ihre Filme auch immer als eine Ästhetik des Widerstands verstanden.
Es widerstrebt mir, das allzu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Auf der anderen Seite scheint es aber auch offensichtlich zu sein. In ihrer Zeit wurden meine Filme stets als etwas recht Sperriges angesehen. Kurz vor Ablauf meiner Zeit beim NDR habe ich eine Reihe ganz kurzer Filme gemacht: „Reeperbahn nebenan“. Damals wurde ein Magazinformat entwickelt, es gab aber immense Schwierigkeiten, Leute dafür zu finden, denn die Mitarbeiter des NDR hatten die Schnauze voll von all diesen Magazinformaten. Ich ahnte, dass es dort wohl einem Spielraum geben könnte, um einiges auszuprobieren. Und so machte ich lauter kurze Filme mit Bewohnern St. Paulis, wo ich selbst lange gewohnt hatte. Und diese Filme, darauf will ich hinaus, haben ein bisschen etwas mit einer solchen Ästhetik zu tun. Die Fernsehansager strengten sich ungeheuer an, meine Beiträge auch ja fernsehgerecht zu präsentieren. Was aber oft danebenging, weil diese kleinen Filme dem normalen Magazincharakter offenbar wenig entsprachen. 

Man denkt immer, mit einer Ästhetik des Widerstands sei eine dezidiert politische Form gemeint. Es hat bei Ihnen aber viel eher etwas mit einer Moral des Blicks zu tun und einer ausgeprägten Empfindsamkeit für das Alltagsleben der Menschen…
…an dieser Stelle habe ich mich nicht so sehr als politischen Aufklärer betrachtet, sondern versucht, etwas von der von mir entwickelten Ausdrucksform festzuhalten. Die Form, in der ich mich ausdrücke, war für mich wirklich eine Art Glaubenssache: kleine Entdeckungen im Alltag, vor, neben, nach dem so genannten Eigentlichen – dazu, synchron aufgenommen: Bild und O-Ton. Ich hatte das Privileg bei einem Fernsehsender angekommen zu sein. Aber auch an einem solchen Ort, das war mir ohne tiefgründiges Nachdenken klar, wollte ich nicht von meiner Ausdrucksform abrücken.

Das, was Sie eben Sperrigkeit nannten, entsteht, weil Leute an bestimmte Formate gewöhnt werden. Ihre Filme sind nicht sperrig, bloß anders. Wenn man sich darauf einlässt, zeigt sich, dass sie zuweilen bezaubernd einfach sind. Man stellt so etwas zu mit der Erwartung, es käme hier ein entschieden politischer Regisseur.
Um Himmels Willen, bitte nicht. Instinktiv war ich immer auf Seiten der Achtundsechziger gewesen, aber das war auch mit Ablehnung durchsetzt, mit fortwährender Abwägung. Ich bin ja durch die Nazizeit geprägt. Das heißt, ich reagiere auf bestimmte Formen sehr stark, auf auftrumpfende Redeweisen etwa, die möglicherweise ganz anders gemeint sind, aber doch etwas an sich haben, was etwas von der Zeit damals wachruft.

Was ist bei der sehr speziellen Art Ihrer dokumentarischen Arbeit ein Kameramann? So etwas wie ein äußerer Teil des eigenen filmenden Ichs?
Ich habe mich darum eigentlich immer nur insoweit gekümmert, dass der Kameramann von mir seine Einsätze angezeigt bekommt. Damals ging es beim Film noch anders zu. Man hatte immer eine festgelegte Anzahl Filmrollen und die waren nicht länger als zehn Minuten. Danach musste neu eingelegt werden. Das heißt: Man hatte immer die Buchhaltung im Kopf: wann geht die Rolle zu Ende, wie viele hast Du noch in Reserve, reicht das Material? Für einen Film hatten wir nie mehr als 15 bis 18 Stunden Material, was als sehr viel galt.
Also: Was ist der Kameramann? Einen Film macht man zu zweit, dann zu dritt, weil die Cutterin eine sehr große Rolle spielt. Ich verstehe mich so, dass ich Anregungen gebe, den Schnitt mitbestimme. Heute würde ich wohl laut aufschreien, wenn ich, wie so viele, einen Film nahezu allein machen müsste. Das ist natürlich durch ökonomische Umstände bestimmt, die viele Filmemacher zwingen, alles allein zu drehen, mit der großen Wahrscheinlichkeit, dass vieles nicht gut läuft und dann nachher auch noch alles selbst im Computer zu schneiden, weil für etwas anderes kein Geld da ist.
Filmemachen ist für mich ein kooperatives Verhältnis, mit dem ich mich wiederum auch als solches beschäftigen muss. Das Filmauge liegt also auch in den Händen eines Nebenmannes, dem ich nach einer gewissen Zeit total vertraue, in dessen Bildarbeit ich mich deswegen gar nicht einmische, der aber wiederum ahnen muss, wo meine Aufmerksamkeit gerade hingeht. Gott sei Dank konnte ich immer mit mindestens zwei Menschen zusammenarbeiten. Mein Glück. Schreiben kann man alleine.

Verschmilzt man bei dieser Form intuitiver Zusammenarbeit zuweilen zu einem Organismus?
Beim NDR konnte ich nur mit einer Minderheit der Kameraleute arbeiten. Denn ein Kameramann ist normalerweise so erzogen, dass er gern eine Anweisung bekommt. Daraufhin kann er seinen Aufbau machen, das Licht für diese oder jene Einstellung bestimmen. Auch im Dokumentarfilm wollen sie etwas gesagt bekommen und tun dann handwerklich ihr Bestes. Aber dieses freie Agieren beim Direct Cinema, wo man, immer mit der Kamera auf der Schulter, die Aufmerksamkeit über Stunden aufrecht erhalten muss, dafür Sorge tragend, dass die Leute Dich akzeptieren…das können und wollen nur wenige.

Entstehen bei einer solch intensiven Zusammenarbeit nachhaltige Beziehungen?
Das war mit den verschiedenen Kameraleuten sehr unterschiedlich. Mit Gisela Tuchtenhagen habe ich ja dann in der Tat viele Jahre zusammengelebt. Bei der Arbeit mit Rudi Körösi und mit Wolfgang Jost ist jeder nach einem Film wieder in seine Welt gegangen. Immer wenn etwas von uns im Kino läuft, sage ich ihnen Bescheid. Sie kommen auch, alles ist sehr herzlich, aber wir haben keine Freundschaften entwickelt. Denn ich bin ja ein eigenartiger Mensch. Vielleicht halte ich das nicht aus, Freundschaften aus solchen Dingen heraus zu entwickeln, vielleicht ist das eine zu große Anforderung. Ich bin ganz froh, wenn man eine Zeit lang in großer Nähe gewisse Probleme bearbeitet hat, wieder Abstand davon nehmen zu können. Aber mit jedem verbindet mich eine lange, unausgesprochen solidarische Kollegialität.

Gegen Ende der 1970er Jahre, nach den aufreibenden Erfahrungen mit „Emden geht nach USA“ gingen Sie nach Köln, zum WDR mit seiner großartigen Filmredaktion. Haben Sie dort versucht, Ihre Filme zu platzieren?
Mir schien, dass ich beim WDR, damals der größte Sender, nicht wirklich zurechtkommen würde. Ich war ja für ein Jahr zum Rundfunk des WDR gegangen, um Abstand zu meinem Sender NDR zu gewinnen. Ich lernte dort zwar viele nette Kollegen kennen, aber die klagten derart viel über Veränderungen beim Sender, dass es mir unmöglich schien, irgendetwas anzubringen. Zudem war ich viel zu erschöpft, um noch einmal eine Redaktionsarbeit zu machen, wie zuvor beim NDR. Nach einem Jahr war ich wieder zurück in Hamburg, um die Filmarbeit wieder aufzunehmen. Allerdings landete ich im Dritten Programm, war nicht mehr, wie zuvor, im Ersten.

Sie haben eine erkleckliche Anzahl von Filmen im und über das Ruhrgebiet gemacht. In einer Zeit als Sie einige Auseinandersetzungen mit Ihrem Sender, dem NDR, gehabt hatten. Zugleich bewegen wir uns nun in der Zeit nach dem Deutschen Herbst.
Ich hatte in meiner Berliner Zeit an der DFFB viel mitbekommen, kannte auch Ulrike Meinhof relativ gut, mochte die auch, war also einigermaßen nah dran. Aber als Thema, so schrecklich und dramatisch es natürlich war, habe ich dieses Geschehen, das man den Deutschen Herbst nennt, nicht so wichtig genommen. Nach meinen Erfahrungen mit dem Film „Der Hamburger Aufstand“ wandte ich mich dem aktuellen Arbeitsleben in der BRD zu, und dann mit „Die Liebe zum Land“ auch den Veränderungen des Landlebens. Es ging darum, das Normalleben der Leute in Industrie und in Landwirtschaft vor Augen zu führen. Wenn wir mit Landarbeitern drehten, in irgendwelchen Zimmern wohnten, setzten wir uns dem Alltag ja aus, in dem die Maschinerie der Arbeit täglich ablief. Und dadurch rückten alle mit der RAF verbundenen Fragen in eine große Distanz. Wir waren mehr davon besetzt herauszufinden, was das Alltagsleben für die Leute hier eigentlich wirklich bedeutet und mit sich bringt. Im Nachhinein glaube ich, meine praktische Arbeit hat mich sowohl vor hochfliegenden Theorien als auch vor Hysterien geschützt.

Haben Sie diese Filme den darin vorkommenden Menschen vorgeführt? Wie wurden sie von denen aufgenommen?
Bei „Die Liebe zum Land“ hat Gisela Tuchtenhagen den Schnitt gemacht. Wobei der Schneidetisch in dem Bauernhaus untergebracht war, wo wir drehten und auch wohnten. Wir haben den Leuten aber nur relativ fertige Produkte gezeigt. Bei dem Projekt „Emden geht nach USA“ waren die Leute, die wir gefilmt hatten, mit dem fertigen Produkt weitgehend einverstanden. Aber dann mussten wir erleben, wie eine von der Presse angeheizte öffentliche Stimmung sich plötzlich sehr heftig gegen diese Filme wandte. Das war ein seltsamer Kontrast zu der Stimmung vor Ort.

Haben Sie im Ruhrgebiet eine spezifische Mentalität angetroffen. Und wie würden Sie diese beschreiben?
Als erstes machte ich dort den Film über Günter Westerhoff, den Dichter. Durch seine eigenwillige Art, er war mir sehr sympathisch, hat er mich wahrscheinlich zu diesem Thema Ruhrgebiet gebracht. Vielleicht ist die damals im Ruhrgebiet verbreitete Haltung mit jener zu vergleichen, die ich in London kennengelernt habe. Eine Mentalität, die natürlich mit der schweren körperlichen Arbeit zusammen hängt, welche die Leute oft ein Leben lang leisten mussten; in Fabriken, die inzwischen wie eine ferne und völlig fremde Welt wirken.
In London, wie erwähnt, arbeitete ich in einem Mental Hospital. Und die älteren Pfleger waren alle Waliser, die in der großen Arbeitslosenzeit vor dem Zweiten Weltkrieg nach London gekommen waren und die auch heftige Streiks, sogar Märsche auf den Regierungssitz, mitgemacht hatten. Von denen waren dann viele in die Mental Hospitals gegangen, weil man damals, als noch nicht mit Chemie behandelt wurde, für die Arbeit körperlich fit zu sein hatte. Auf Stationen, wo, als ich sie kennen lernte, zwei Pfleger arbeiteten, hatten vor dem Krieg noch fünfzehn Männer gearbeitet; das waren dann oft diese Waliser, die fünfzig zum Teil wirklich tobende Wahnsinnige beruhigen mussten. Und mir scheint, der von diesen Walisern verkörperte Pragmatismus ist vergleichbar mit der Haltung des Mülheimers Günter Westerhoff. All die Härten der Geschichte, denen diese Leute im Verlaufe ihres Lebens ins Gesicht sehen und damit fertig werden mussten, diese langen Schichten, die ein Arbeitsleben ausmachten, die Kenntnis von Hunger - das hat einen gewissen Typus hervorgebracht, der von einer trockenen Hartnäckigkeit bestimmt ist, verbunden mit einem eigentümlichen Witz. Und sie alle waren natürlich sehr gut darin, an Theken herum zu stehen und Bier zu trinken. Das sind aber alles lediglich Assoziationen.

In den frühen 1960ern geht Pier Paolo Pasolini in die Vorstädte von Rom, weil er sich von den Armen, die ihm so ganz anders als die korrupten Bürgerlichen zu sein schienen, Anstöße für eine andere Politik und Kultur erhofft. Hat Ihr Gang zu den Arbeitern des Ruhrgebietes ähnliche Motive?
Nein. Natürlich waren mir die Leute im Ruhrgebiet sehr sympathisch, aber mein Einsatzpunkt war ein ganz anderer. Nachdem ich vier Jahre an der DFFB in Berlin war, wo, wie erwähnt, nur geredet und gestritten wurde, hatte ich, als ich raus kam, derart die Schnauze voll von allem revolutionären Gerede und dachte: wo und wie kriege ich wieder einen Zugang zu den alltäglichen Dingen.

In dem Film „Stilllegung“ ist Herbert Mösle häufig zu sehen, ein Arbeiter, der sehr reflektiert über die Ruhrgebietsgeschichte erzählt, auch darüber, wie die deutsche Politik nach 1945 die Chance auf einen wirklichen Neuanfang aus der Hand gibt.
Mich interessiert zunächst einmal ein Mensch oder ein gewisser Typus. Als ich in den Sechzigern vier Filme in Amerika drehte, arbeitete ich mit Christian Schwarzwald zusammen, dem Bruder von Michael Blackwood. Als Kameramann war der Christian ein expliziter Vertreter des Direct Cinema, der dann zu mir sagte, ich müsse diese Methode in Deutschland anwenden. Was bei mir ja auf fruchtbaren Boden fiel. Zu dieser Kinoform gehörte, dass ich mit Menschen Umgang suchte, deren Stimmen in der Öffentlichkeit viel zu wenig gehört werden. Denen habe ich dann vermittels des Films einen öffentlichen Raum verschafft, weswegen ich dann im Fernsehen mehr und mehr an den Rand gedrängt wurde. Zu einer solchen Vorgehensweise gehört für mich, solche Menschen nicht, wie es häufig geschieht, mit Kommentaren zuzudecken, sondern sie sich entfalten zu lassen. Und genau das zieht sich auch durch meine Arbeiter- oder Gewerkschaftsfilme hindurch.
Und der Herbert Mösle gehörte zu dieser älteren Generation, die in finsteren Zeiten viele Erfahrungen gesammelt hatten und dabei einerseits eine politische Entschiedenheit, aber auch eine gewisse Gelassenheit entwickelten. Vielleicht  suchte ich auch instinktiv immer wieder ein starkes Gegenbild zum deutschen Nazi und brachte eine Figur wie den Herbert Mösle sehr gerne in einen Film hinein.

Wo stecken in Dokumentarfilmen, wie Sie welche machen, die Gefühle? „Der Nachwelt eine Botschaft“ empfinde ich als todtraurig. Aber ich weiß nicht, ob es sich um meine Trauer handelt angesichts des Lebens Günter Westerhoffs, der im Ruhrbergbau und im Zweiten Weltkrieg viel Schlimmes durchgemacht hat, oder ob es Gefühle sind, welche der Regisseur mir zeigt.
Bei einem Filmemacher muss ja ein Sensorium für den Protagonisten, für dessen Problematik oder Symptomatik vorhanden sein, für gewisse Gefühlsschwingungen, ansonsten würde er einen solchen Film gar nicht anfangen. Das gilt zumal für Günter Westerhoff. Und wenn ein Nerv getroffen ist, der Filmemacher von einer gewissen Vibration berührt ist, dann wird er das entsprechend umsetzen, wird sich zusammen mit dem  Kameramann darum bemühen, diese Vibration oder Stimmung  auszudrücken, Momente festzuhalten, in denen sich etwas davon äußert. Das sind aber überhaupt nicht die Momente, in denen üblicherweise Tränen vergossen werden, sondern so kleine Zwischenmomente. Beim Vorlesen eines Gedichtes zeigen sich womöglich solche Realitätsschichten.

Wie bei der Radiomeldung vom Tode des Peter Weiß, die Sie in ihren Film über Pina Bausch einmontiert haben. Am Ende des Films gibt es dann beinahe experimentelle Super 8 - Bilder von Zeitungsartikeln über Peter Weiß. Die Empfindung des Verlustes ist sehr präsent, aber es wird kein aufdringliches Ausrufezeichen gesetzt.
Letzteres ist natürlich sehr wichtig. Wobei wir zu der Zeit viele Aufnahmen mit Super 8 gemacht haben. In irgendwelchen Pausen,  Zwischenmomenten, hat Wolfgang Jost oft seine Super 8 - Kamera rausgeholt und gefilmt, Zwischen- oder vielleicht auch Amateurmomente, in denen neben dem Hauptstrom des Geschehens etwas für das private Auge aufleuchtet.

In späteren Film haben Sie das dann wieder gelassen. Warum?
Der größte Teil von „Ein kleiner Film für Bonn“, der mein letzter Dokumentarfilm war, ist ja schon mit kleinen DV-Kameras gedreht. Das war ja gewissermaßen schon alles Amateurmaterial, also konnte man solche Momente nicht mehr dazwischen schieben. 

Kann man sagen, die 1980er-Jahre, in denen Sie Ihre Ruhrgebietsfilme machen, das ist die letzte große Zeit der Gewerkschaft?
Gewiss gilt das für die Sorte Kampf und Auseinandersetzung, wie den großen Streik der britischen Bergleute zu Zeiten Margaret Thatchers, über den ich zwei Filme machte. Jetzt, glaube ich, geht es um ganz andere gesellschaftliche Prozesse. Aber das war noch einmal ein Kulminationspunkt. Weil ich das Gefühl hatte, es passiert etwas Besonderes, nahm ich zwei von mir geschätzte Theoretiker, Emil Plump und Egon Netenjakob, mit zu den Dreharbeiten nach England. Bei uns allen war schnell das Gefühl übermächtig, dass die Gewerkschaften in eine schwere Niederlage gingen.
Zu diesen Filmen gibt es noch etwas Wichtiges zu sagen. Alles, was in meinem Buch »Über synthetischen und dokumentarischen Film« über das Dokumentarische gesagt wird, habe ich vorher lange mit Egon Netenjakob diskutiert und entwickelt. Für die Emdenfilme nahmen wir dann noch einen Schriftsteller mit, der über den ganzen Prozess ein Buch schreiben sollte. Der Schriftsteller war Hubert Wiedfeld, eigentlich ein Hörspielautor, und die Hoffnung war, dass es ihm womöglich gelingt, den Sprung über die dokumentarische Realität hinaus zu einer Art gedanklicher Synthese zu schaffen, konkret: ein Drehbuch für ein Fernsehspiel zu schreiben. In meinem Buch hatte ich den Übergang zwischen rein dokumentarischen Momenten und gedanklichen Synthesen ja als »poetischen Film«  bezeichnet. Aber dieser ist, durch viele Schnitte und Eingriffe, ja auch bereits eine Synthese, wenn auch mit dokumentarischem Material hergestellt. Also, neben dem eigentlichen Filmemachen ging auch die Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Dokumentarfilms immer weiter.

Sie waren nicht in Versuchung, den Sprung in die Synthese selbst zu wagen, also doch noch einen Spielfilm anzugehen?
Dazu reichte es bei mir nie. Es gab da eine Grenze, einen Spielfilm hätte ich, obwohl ich das immer mit allergrößtem Respekt betrachtet habe, nie zu inszenieren vermocht. Es ist überhaupt ein sehr seltener Fall, das ein Filmemacher beides wirklich beherrscht.

Sehr auffällig und sehr besonders ist Ihre Art, Texte in Filmen zu sprechen. Wie kam es dazu?
Es gab zunächst einen Widerspruch. Im Direct Cinema wurde jeglicher Kommentar weggelassen. Aber die Journalisten des NDR, für die ich Filme herstellte, arbeiteten natürlich alle mit Text. Was ich damals beim Fernsehen herstellte, waren Bildteppiche für Texte. Irgendwie kam ich dann aber dazu, meine Sehnsucht nach Worten, meine allerfrühesten schüchternen Äußerungen in Form von Halbsätzen in das beobachtende Direct Cinema hinein zu fügen, ohne die Bilder zu stören. Mein einziger Film ohne jeden Text ist „Heiligabend auf St. Pauli“, in die anderen habe ich immer wenigstens einige dieser winzigen Hinweise eingebaut. Solche Wortformationen dienten nie dazu, eine Person oder Situation zu erklären, vielmehr waren es gleichsam schnelle Notizen, um einen Film an gewissen Stellen weiter zu führen, so geartet, dass die Sprache filmischen Charakter bekam, eben zu einem Stück des Filmischen werden konnte.

Die Sprache zeichnet eine gewisse Lakonie aus. Hat das mit amerikanischen Einflüssen zu tun, mit Ihrer Vorliebe für Lyrik? Und entstehen solche Sprachstücke allein am Schneidetisch?
Da kommt vieles zusammen. Die Satzformationen in meinem Bändchen „Filmtheorie Nr. 2“, so eine Art quasi Gedichte, sind ja dem Sprechen in meinen Filmen ähnlich. Hinzu kommt, dass meine in Amerika gedrehten Dokumentarfilme auch deutsche Übersetzungen englischer Wortbeiträge enthalten. Diese spreche ich selbst und sie sind immer so gesetzt, dass die Übersetzung vor oder nach dem originalen Ausspruch erfolgt, aber stets bloß etwas antickt. Wodurch die Leute aber dem Englischen meist gut folgen können. Aber fragen Sie mich nicht nach einer Gesetzmäßigkeit. In welchen Abständen diese Sprachstücke fallen, dafür gibt es keinerlei Regel, es hat allein mit meinem Gefühl zu tun. 

An der Sprache wird sehr gefeilt?
Ja, schon. Ich muss bei jeder Äußerung erst herausfinden, inwiefern sie meiner Haltung entspricht. Das ist nicht einfach. Man kann vieles denken, sich verschlungen äußern. Die Arbeit an der Sprache ist eine des Entkernens. Dabei finde ich aber den Film ohne Sprache, das heißt, den Originalton im Direct Cinema als etwas sehr Schönes. In meiner Filmgeschichte „Der Körper des Autoren“ erzähle ich ja, dass ich manchmal den Kameramann bitten möchte, anzuhalten, weil ich irgendetwas Auffälliges höre und er das dann aufnehmen soll, was da zufällig in einem offenen Fenster zu hören ist. Solche Töne gehören zu Bildern unverbrüchlich hinzu. Das ist der Klang des gegebenen Moments, des Augenblicks, den ich erfasse. Der Umgang mit Bildern, Tönen und Worten bewegt sich bei mir auf einer Ebene.

Späterhin gibt es allerdings nicht mehr allein Direktton. In Ihren Film über Pina Bausch sind Radiotöne, Nachrichtmeldungen zeitversetzt eingefügt. Der Umgang mit Ton ist spielerischer.     
Je älter ich wurde, desto mehr nahm ich mir gewisse Freiheiten. Dennoch sind es ganz seltene Momente. Am Anfang war ich ganz strikt darin, immer den O-Ton zu nehmen, dann gab es eine, allerdings ungeheuer langsame Loslösung.          

Sie haben einmal geäußert, Sie hätten durch die Sprache der Literatur Zugang zu vielen Dingen gefunden. Können Sie erläutern, was genau das bedeutet?
Es fehlt einem selbst natürlich die Einsicht, wie Beeinflussungen nun genau vor sich gehen. Als der Krieg zu Ende ging, war ich vierzehn Jahre alt und mein jugendlicher Kopf, ob ich wollte oder nicht, war voll von dieser Nazi-Propaganda. Sie können sich nicht vorstellen, wie diese Zeit war: es dröhnte von allen Seiten auf einen ein. Wenn man das Radio einschaltete, wenn man bei der HJ anwesend sein musste, wurde in einer bestimmten Tonlage gebrüllt, war man diesen abgehackten Kommandosätzen ausgesetzt. Die Kurzgeschichten von Hemingway, später die Romane von John Steinbeck waren eine andere Welt. Mit der habe ich mich im Nachkrieg stark identifiziert, denn sie gaben eine andere Orientierung, waren eine Art, Dinge anders zu sehen. Dieser Umstand steht hinter dem von Ihnen erwähnten Satz.
Und er hat auch einiges damit zu tun, dass ich später, als ich beim Filmemachen die Verantwortung trug, immer auf Nebensächliches achtete, auf Dinge, die anderen nicht so wichtig waren. Denn aus vermeintlich nebensächlichen Situationen entwickelt sich manchmal etwas ganz Eigenes.  Wenn sich beispielsweise zwei Leute gegenübersitzen, entsteht zuweilen eine Atmosphäre des Wartens. Vielleicht aber passiert doch etwas Unvorhersehbares, drückt sich in einer alltäglichen Beobachtung etwas Eigentümliches oder Merkwürdiges aus, wodurch das Alltägliche zu etwas Besonderem wird. Im Zusammenhang eines Filmes werden mittels solcher Momente ganz eigenartige Zusammenhänge  sichtbar, obwohl er das Maß des Alltäglichen nicht übersteigt. Also sollte man als Filmemacher nicht dauernd ins Geschehen eingreifen wollen.

Einige Zeilen aus Ihrem Gedicht „Fluchweg Ostende“:
„Straßenbahnzwischenland
Knokke bis Grenze Chanson
Flaute im subventionierten Fährbetrieb
Die untergegangene Emigration
Mal fällt Nebel lichtet sich…“

In den Zeilen ist ja mehr als die in Belgien beobachtete Gegenwart präsent, nämlich auch die Vergangenheit, die Zeit des Krieges.
In Schriftform ist so etwas natürlich leichter zu handhaben, als wenn ich mit einem Kameramann versuche, Szenen zu finden. Aber das Gedicht besteht, wie ein Dokumentarfilm, aus lauter Nebensächlichkeiten, die montiert sind. Ich habe das nicht mehr zu Ende führen können, aber es interessiert mich nach wie vor und ich rede mit anderen Filmemachern darüber: wie man die lange Weile, die Dauer, mit der wir alle ja umgehen müssen, ästhetisch interessant macht. Ich fuhr ja damals nicht ins Ruhrgebiet, als die großen Streiks waren, sondern erst danach, viel später, sozusagen in der Zeit nach dem Drama. Und irgendwie versuche ich das Interesse für solche Momente weiterzureichen.

Das Besondere einer Situation ist einem bereits während des Drehens bewusst, oder fällt so etwas erst am Schneidetisch ins Auge?
Das ist einem bewusst. Eben habe ich von dem Streik in England erzählt und von diesem Arbeiter, der uns zu sich nach Hause einlud. Da gibt es eine Szene, in der er von einem Kumpel zu einer Streikaktion angeholt wird. Wir bleiben mit der Ehefrau und den Kindern zurück, die kaum etwas zu essen haben. Und dann macht die Mutter ein Sandwich, während ihr Junge, um sich irgendwie abzulenken, Fernsehen guckt. Das Sandwich ist ganz mickrig und trocken. In dieser Beobachtung steckt sehr vieles, obwohl sie auf den ersten Blick unscheinbar ist. Man kriegt auf einer emotionalen Ebene etwas davon mit, was es bedeutet, einen Streik ohne Streikgeld durchzustehen. Die englischen Gewerkschaften handhaben das ja anders als unsere.

In einem Gespräch mit Christoph Hübner sagen Sie, sowohl Spielfilme als auch Dokumentationen seien voyeuristisch, aber Dokumentarfilme wären anders voyeuristisch.
Ja. In der eben beschriebenen Szene filmten wir die Armut dieser Familie. Aber wir waren sicher nicht auf einen Kick aus. Ein Spielfilm würde da etwas dramatischer herauskehren wollen, als es die Belanglosigkeit oder Normalität ermöglicht. Viele Leute schlafen ja bei solchen dokumentarischen Momenten ein, aber für die, die sich darauf einlassen, kann es eine große Bedeutsamkeit bekommen.

Zurück zum Ruhrgebiet. Was mir durch Ihre Filme klar wurde, ist: die Ruhrgebietsarbeiter hatten noch in den 1980ern ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Gleichzeitig sind sie beinahe alle "Bild"-Leser, haben ein bisschen auch ein daher rührendes Weltbild. Sieht man das, versteht man nicht mehr, dass mancher in den Sechzigern und Siebzigern dachte, es könnte hierzulande wirklich eine Revolution geben.
Sie zwingen mich dazu etwas ganz breit auszulegen, wozu ich nicht sehr neige. Der italienische oder der französische Aufruhr jener Jahre entsprang einer anderen Mentalität, die hier einfach nicht anzutreffen war. Wir hatten so etwas früher auch einmal, nach dem Ersten Weltkrieg, etwa in Kiel 1918, aber das ist ja alles immer wieder blutig niedergeschlagen worden. Für mich persönlich, ich muss es noch einmal betonen, waren die Nazizeit und der Krieg so prägend, dass ich es schon als einen enormen Schritt empfand, da angelangt zu sein, wo wir Deutsche in den Siebzigern waren. Also: Protest anzumelden und in geordneten Gewerkschaftsbahnen etwas durchzusetzen versuchen. Diese gewerkschaftlichen Formen empfand ich als das Wirksamste, was damals für uns zu erwarten war.

Ich respektiere die von Ihnen gefilmten Ruhrarbeiter sehr, bewundere jemanden wie Herbert Mösle, auch den Günter Westerhoff. Dennoch, man sieht in Ihren Filmen oft Dinge, die es auch in meiner eigenen Familie gab: man ist Arbeiter, durchaus klassenbewusst, aber auch sehr spießig.
Sie sind jünger. Man darf wirklich nicht vergessen, was der Krieg war und was es nach dem Krieg bedeutet hat, irgendwo Arbeit zu kriegen und für die Arbeit genügend Geld, um etwas zu Essen zu kaufen, sich einzurichten. Das ist etwas sehr Existentielles. Bei mir, und ich denke auch bei anderen, sind all diese Gefühle noch da.
Was mir noch einfällt: In den Achtzigern drehte ich, wie eben schon erwähnt, einen Film in England [„Yorkshire“ D 1985]. Es ging um den großen Bergarbeiterstreik. Im zweiten Teil kommt ein Mann vor, der bei dem langen Streik mitwirkt und der deswegen kein Einkommen mehr hat. Wir sind bei ihm zuhause, und er errechnet, um die dramatische Situation seiner Frau und seiner Kinder zu verdeutlichen, den Geldverbrauch. Als wir den Film in England vorführten, monierten alle radikaleren Gewerkschaftsleute, dass die Zeitung auf die er diese Berechnungen schrieb, die "Sun" war, die englische Entsprechung von "Bild", und das durfte in deren Augen nicht sein. Aber unser Mann war ein äußerst klassenbewusster und kämpferischer Arbeiter. Als es zu den Auseinandersetzungen kam, hat er den Polizisten ihre Schilder entrissen und dafür Prügel eingesteckt. Ich würde nicht den Rückschluss ziehen, dass in einem Haushalt, in dem die "Bild"-Zeitung liegt, kein Aufstand möglich wäre. Heute weiß ich allerdings einfach zu wenig von dem, was wirtschaftlich auf uns zukommt. Vernehmbare Kapitalismuskritik gibt es ja jetzt wieder. Aber vieles verschiebt sich. Dass Leute am Computer sitzen und ausgebeutet werden, bedeutet ja nicht, dass sie noch in irgendeiner Form Gemeinsamkeiten wahrnehmen.

Mein Eindruck ist, dass Sie in Ihren Ruhrgebietsfilmen etwas distanzierter arbeiten als vorher. Sie lassen mehrere Standpunkte, mehrere Blicke auf einen Gegenstand zu.
Bis auf den Unternehmerstandpunkt. Vor allem vollziehen unsere Beobachtungen die Schwierigkeiten mit, die Menschen miteinander haben, wenn sie sich gemeinsam zu etwas durchringen wollen. Was ganz offensichtlich nur sehr selten klappt. Schon in „Emden geht nach USA“ kann man en detail verfolgen, wie schwierig es ist, das eigentlich doch recht bescheidene Ziel zu erreichen, eine Kundgebung durchzuführen und darauf aufmerksam zu machen, dass, falls das VW-Werk in Emden schließt, es zu einer massiven Arbeitslosigkeit kommen wird. Wir zeigen, wie viele Stadien ein solcher Entschluss erst durchlaufen muss, bis er dann realisiert wird. Worin gewiss auch eine Kritik steckt, aber vor allem wird wahrnehmbar, was es bedeutet, innerhalb eines Unternehmens mit all diesen typischen deutschen Denkweisen etwas zu verwirklichen. 

Solche Vorgänge gibt es ansonsten kaum in Kino und Fernsehen zu sehen. Wahrscheinlich, weil das eine zähe und anstrengende Materie ist. Aber in Ihren Filmen bekommt man sehr genau mit, wie Politik und Öffentlichkeit funktionieren, von welchen Strategien man dort bestimmt wird…
… manchmal, wenn diese alten Filme vorgeführt werden, bescheinigt mir jemand, dass sie einerseits die Zeit in sich tragen, in der sie aufgenommen wurden, aber dazu auch, dass sie sehr modern anmuten. Denn man sieht, dass es heute immer noch dieselben Konflikte sind, mit denen man sich allerorten rumschlägt.

Ja, die Vorgänge und Konflikte gibt es heute erst recht, aber sie werden nicht mehr künstlerisch bearbeitet.
Die Methode, die man mit dem Begriff Direct Cinema zusammenfasst, wird heute, glaube ich, als eine Technik betrachtet, die man mal handhaben, aber auch schnell wieder ablegen kann. Im Grunde gilt sie als völlig veraltet, verbraucht. Was ich aber, ohne es methodisch zu Ende erklären zu können, als nach wie vor sehr experimentell daran empfinde, das ist das Improvisieren. Was ja bedeutet, dass man vorher kein Script schreiben kann, wie es die Geldgeber verlangen, sondern es ist verlangt, dass man als Aufnehmender eine geraume Zeit offen sein muss für sich plötzlich vollziehende Entwicklungen. Man kann vielleicht sagen, dass beim Direct Cinema vieles von dem, worauf der Film- und Fernsehbetrieb fixiert ist, wegfällt.
Neulich las ich ein Gespräch mit Michael Haneke. Daraus zitiere ich Ihnen etwas (liest): 'Beim Schreiben sitzt ein Kopf einem Blatt Papier gegenüber. Beim Film stehe ich hundert Leuten gegenüber, die ich dazu bringen muss, mit meinem Kopf zu denken. Also, mit ihren eigenen Köpfen, aber in meinem Sinn. Das Wichtigste ist das Drehbuch. Der kreative Prozess besteht für einen Autorenfilmer darin, die Sache zu erfinden. Danach besetzt man, sucht die Motive und bereitet die Auflösung vor. Auch das passiert am Schreibtisch, im einsamen Kämmerlein. Damit ein Dreh ordentlich funktioniert, ist genaue Planung unerlässlich.' Man kann es sicher so sehen wie Michael Haneke. Aber ich war immer auf das genaue Gegenteil aus, habe mich auf Unvorhersehbares einlassen wollen. Und ich denke, der Film hat den Moment der Improvisation auch noch gar nicht ausgereizt.

Thomas Heise hat mir erzählt, heute seien alle Leute auf Ämtern und alle Politiker von PR-Beratern geschult. Keiner würde frei reden, es ginge immer nur darum, ein öffentliches Image herzustellen.
Ich bin der Meinung, dass mit den Methoden des Direct Cinema trotzdem noch etwas gelingen könnte. Wenn man es ehrlich meint, sich einem Menschen wirklich stellt – ich will solche Leute ja nicht diffamieren –, dürfte mancher doch noch einiges preisgeben. Dazu gehört viel Geduld. Man muss Vorgänge mit großer Aufmerksamkeit begleiten, ganz lange zuhören, den Kameramann nicht ständig den Platz wechseln lassen, damit er eine interessante Perspektive findet, sondern ihm nahelegen zu registrieren.

In dem Film über Mostar ist Ihnen das mit Hans Koschnick geglückt. Er scheint ganz bei sich zu sein, wodurch man viele Dinge sieht und hört, die öffentliche Menschen sonst nicht kundtun.
Deswegen meine ich, könnte es auch heute noch gelingen über solche gewieften Politiker etwas Fundiertes zu machen. Zeit spielt eine große Rolle bei dieser Arbeit. Es kann aber sein, vielleicht sprechen da nun aber meine massiven Vorurteile, dass wir Deutschen für das Direct Cinema nicht wirklich geeignet sind. Es kommt mir jedenfalls so vor, dass auch die allermeisten Dokumentarfilmer alles immer äußerst detailliert organisieren, sich lieber nach vorgefassten Plänen richten. Alles darüber hinaus fällt dann aus dem Zeitrahmen. Bei einer dokumentarischen Arbeit, bei der man sich annähern, ein Empfinden für die Rhythmen eines Menschen, für Schnelligkeiten, Langsamkeiten, Stillstand entwickeln will, spielt Zeit aber die entscheidende Rolle. Aber vielleicht kenne ich einfach viel zu wenige aktuelle Filme. 

Haben Sie je erlebt, dass die Bilder hinterher wegen ihrer zu großen Offenheit nicht freigegeben wurden?
Eigentlich nie. Manchmal, wie bei einem Mann in dem Emdenfilm, den ich heute noch ab und an sehe, ist das Verhältnis zu den Protagonisten richtiggehend von einem tiefen gegenseitigen Vertrauen geprägt. Aber ich habe keine dauerhaften Beziehungen aus der Filmarbeit heraus entwickelt. Dieses Vorgeben von Freundschaft, die eigentlich keine ist, empfände ich als einen Umschlag in Opportunismus. Das ist eine Seite des Filmgeschäftes, die mir unsympathisch ist.  

Ich fragte Thomas Heise einmal, ob er nicht zuweilen das Gefühl hätte, er verpasse etwas, wenn die Kamera aus wäre. Die Antwort war ein entschiedenes 'Nein'. Sonst würde er ja arbeiten wie alle heute, die ständig bloß vermeintlich großen Ereignissen hinterher rennen. Was an Menschen und ihren Beziehungen wichtig sei, so Heise, das würde sich häufig äußern. Man könne also gar nichts verpassen
Das ist sehr schön gesagt. Gleichzeitig weiß ich nicht, ob er das nicht etwas zu idealistisch sieht. Ich glaube, man kommt als Filmemacher nicht um die Erfahrung herum, zu denken: 'Scheiße, Du hättest anwesend sein müssen'.

Kann man diejenigen, die in Ihren Filmen mitwirken Mitautoren nennen?
Natürlich wirken die ganz entschieden mit, klar. Und wenn ich mich Leuten zuwende, dann weil es bemerkenswerte Personen sind. Aber Autoren? Die Filmerzählung zusammenfügen, das ist, so sehe ich es, doch noch mal etwas anderes.

Der Filmkritiker Helmut Färber hat bemerkt, ein Problem des deutschen Kinos sei, dass es zwar eine große Ateliertradition gebe, aber kaum eine Wahrnehmung für die Landschaft oder für die Natur. Wie würden Sie das bei Ihrer Arbeit sehen?
Irgendwie stimmt das. Landschaft taucht oft bloß im Hintergrund auf. Schon möglich, dass auch ich das vernachlässigt habe. Zum Ende meines Werkes hin, in den Englandfilmen, spielt die Landschaft von Yorkshire allerdings doch eine wesentliche Rolle. Mir war grundsätzlich immer wichtiger, Menschen nahe zu kommen, ihnen und ihren Aufenthaltsorten; oft sind Wohnzimmer und Küchen ja deren Landschaften.

Welches Raumgefühl empfinden Sie gegenüber der Landschaft in Deutschland?
Eng und verwinkelt. Verordnet. So jedenfalls wirkt es, wenn man mit der Bahn durchfährt. Aber vielleicht artikuliert sich hier abermals meine Geschichte, mein emotionaler Untergrund, der hinter einer zu großen Ordnung immer etwas Böses vermutet. Wobei ich viele Deutsche als ungeheuer nett und freundlich erlebe. Meinen beim Aufwachsen in Deutschland entstandenen Neurosen und Vorurteilen muss ich immer wieder entgegensetzen, dass ich mich hier auch gut aufgehoben fühle.

Ihre Heimat?
Ich würde das Wort wohl nicht benutzen. Was mir zum Beispiel an Belgien gefällt: man kommt durch endlos lange Straßen, in denen nicht ein Haus dem anderen gleicht, wo selbst jeder Briefkasten ein bisschen anders aussieht. Was ähnlich für England gilt. Wenn Engländer so dermaßen stur sind, dann nur um ihr Eigenes zu behaupten.

Als die Hauptstadt nach Berlin verlegt wird, drehen Sie einen Abschiedsfilm. Wobei Ihr „Kleiner Film für Bonn“ nicht allein wie ein Abschied von der Hauptstadt Bonn wirkt, sondern sehr viel tiefer geht. Es kommt zum Ausdruck, wie sympathisch Ihnen das Deutschland der Bonner Republik war. Kann man sagen, Ihre Filme sind aus diesem speziellen Deutschland der Jahre 1945 bis 89 heraus entstanden und auch dafür gemacht?
Das kann ich heute entschieden mit 'Ja' beantworten. Was eben auch mit dieser Entscheidung zu tun hatte, dieses Direct Cinema auf Deutschland übertragen zu wollen, es hier anwenden. Hier heißt: In diesem Westdeutschland auf seinem Weg raus aus der Nazizeit, der für mich derartig wichtig gewesen ist.