Dokumentarfilminitiative
Schwarz-Weiß-Foto einer zerstörten Straße. Der Asphalt ist geborsten, eine Brücke ist eingestürzt. Im Hintergrund kahle Bäume und ein wolkiger Himmel.
Symposium

DOING TIME.

Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit.

Beschleunigen, raffen, schichten, wiederholen, dehnen...

Mit der Zeit verändert sich der Blick auf die Dinge
Impulsvortrag mit experimentellem Kurzfilmprogramm von Kuratorin Michelle Koch

Zeit ist eine der wesentlichen Dimensionen, die das Medium Film von anderen Kunstformen – wie etwa der Fotografie oder der Malerei – abgrenzt. Der Film friert den Moment nicht ein, zeigt nicht nur ein Bild, sondern einen kontinuierlichen Fluss von Bildern. Er stellt Bewegung und Veränderung über die Zeit hinweg dar und gibt den Momenten der Welt eine zeitliche Dynamik, die sich erst im Verlauf des Films entfaltet.

Um über „Zeit“ im Dokumentarfilm zu sprechen, lohnt sich ein Blick in die frühe Filmgeschichte, in der das Verständnis von Zeit stark an die technologischen Bedingungen der Filmproduktion gebunden war und das Verhältnis von filmischer Zeit und realer Zeit in seiner „reinsten“ Form sichtbar wird. Die ersten Filme der Filmgeschichte, etwa der Brüder Lumière, sind geprägt von einer Einschränkung, die durch das technische Medium definiert wurde: Die filmische Zeit ist aufgrund der limitierten Länge der Filmrolle und der Technologie des frühen Kinematographen an die Dauer der technischen Aufnahme gebunden. Diese zeitliche Begrenzung ist auch eine ästhetische Gegebenheit, die die Art und Weise beeinflusst, wie die filmische Zeit konzipiert wird. Die Filme dauern etwa eine Minute, bestehen aus einer Einstellung mit festem Kamerastandpunkt und zeigen Momente aus dem Alltagsleben – etwa einen einfahrenden Zug, oder aus der Fabrik strömende Arbeiter:innen. Die filmische Form ist auf die unmanipulierte Wiederholung der realen Zeit reduziert. Diese unmittelbare Aufnahme der Welt in ihrer realen Zeit ist im Grunde das, was wir als „Realismus“ des frühen Kinos bezeichnen.

Der Filmtheoretiker und -kritiker André Bazin widmete sich zwar nur marginal dem Dokumentarfilm, sein Werk ist allerdings durchzogen mit Überlegungen zum Verhältnis von Film und Realismus – und immer wieder ist es die Dimension der Zeit, über die er diese Beziehung herstellt. Anders gesagt: Das Maß an Realität, das seinen Weg in den Film hineinfindet, steht in einem Verhältnis zum Umgang des Films mit der Zeit. In seiner „Ontologie des photographischen Bildes“ (1945) formuliert er mit der „Mumie der Veränderung“ die Metapher für das Wesen des Films. Als Erweiterung oder Vollendung der Fotografie, die die Erscheinungen dem Strom der Zeit entreißt, die Dinge einbalsamiert, um sie vor dem Verfall, dem Vergessen, dem „geistigen Tod“ zu bewahren, gründet auch der Film auf dem Wunsch nach der Transzendenz der Vergänglichkeit. Anders als die Fotografie hält der Film den Ablauf des Lebens aber nicht an, sondern definiert sich gerade über seine Fähigkeit, das Leben, die Dinge und Ereignisse in ihrer zeitlichen Kontinuität zu enthüllen, die Zeit der Welt selbst zu konservieren und sichtbar zu machen.

Auch sechs Jahre später erforscht Bazin in „Die Entwicklung der Filmsprache“, wie der Umgang mit filmischer Zeit das Kino näher an die Realität rückt. Den Realismus des Kinos findet er vor allem in jenen filmischen Formen, die die Einheit des Ortes und die Dauer des Geschehens „respektieren“. Die zeitlichen Abläufe in langen Einstellungen und Plansequenzen darzustellen und durch Schärfentiefe die Vieldeutigkeit der Welt zu bewahren, bringe das Publikum in ein Verhältnis zum Bild, das eher der Wahrnehmung von Realität entspreche, als eine Zerstückelung und durch Montage auf eine Zeitordnung und Bedeutung zugespitzte narrative Konstruktion. Bazin sieht in diesen Formen „das Geheimnis einer Wiedergeburt realistischen Erzählens, das imstande ist, die wirkliche Zeit der Dinge, die Dauer des Geschehens in sich aufzunehmen, die der klassische Filmschnitt klammheimlich durch eine intellektuelle, abstrakte Zeit ersetzt hatte.“

Dass filmische Zeit nicht einfach die objektive Abbildung der realen Zeit ist, sondern als eine Dimension reflektiert werden muss, die aktiv gestaltet und moduliert werden kann, die als ein Werkzeug dient, das die Wahrnehmung der realen Zeit und der realen Welt strukturiert und transformiert, offenbart sich bereits im letzten Satz von Bazins „Ontologie“: „Andererseits ist der Film eine Sprache“.

Der Dokumentarfilm also ist in dieser Zuspitzung eine Aushandlung zwischen einer filmischen Zeit und der Zeit der realen Welt.

Dass der Film zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Aspekte der Zeit vereint, beschreibt auch der amerikanische Filmwissenschaftler Gilberto Perez in seinem Buch „The Material Ghost“ (1998). Er spricht von den „zwei Lichtern des Kinos“, dem Licht, das von der Welt in die Kamera fällt, und dem Licht, das vom Projektor auf die Leinwand strahlt ,  um das Spannungsverhältnis zu beschreiben zwischen der Materialität des Films, dem Licht, das die physische Welt auf der Filmrolle festhält , und der immateriellen, „zeitlichen“ Dimension des Films – der ästhetischen Erfahrung, die sich während seiner Projektion entfaltet und über die Dauer des Films hinweg eine spezifische Wahrnehmung der Zeit und der Ereignisse vermittelt. Im Film legt sich eine völlig eigenständige Zeit des Kinos auf die Zeitlichkeiten der Welt.

Die Dokumentarfilmer:innen, die sich sozusagen zwischen diesen beiden Lichtstrahlen befinden, sind nicht bloß objektive Betrachter:innen, sondern kreative Vermittler:innen, die die außerfilmische Welt in eine filmische Struktur, die eine in die andere Zeit übersetzen.

Eine These, die uns im Verlauf der beiden Tage vielleicht noch weiter beschäftigen könnte, wäre, dass die Modulation von Zeit im Dokumentarfilm ein zentrales Element in der Erforschung der Realität ist, dass also die filmische Zeit eine zentrale Dimension ist, um die Zeitlichkeiten der Realität sichtbarer zu machen, gerade indem sie sie bearbeitet.

In der Auseinandersetzung mit dem Dokumentarfilm, selbst mit Arbeiten aus der frühen Filmgeschichte, die mit einer „realistischen“ Erfassung der Welt operieren, sind folgende Fragestellung zentral:  Wie denkt der Dokumentarfilm über Zeit nach? Wie geht er mit ihr um?  Wie modifiziert der Film die Wahrnehmung der Realität, und wie stellt er die Verbindung zur realen Welt her? Und was bedeutet es für die Darstellung und Wahrnehmung der „Wirklichkeit“, wenn wir die filmische Zeit als formenden Faktor erkennen? Die Frage nach der Zeit ist nicht nur eine Frage der Abbildung, sondern eine Frage der künstlerischen Forschung. Und der Dokumentarfilm ein Versuch, die Dauer und den Ablauf von Ereignissen in einer neuen Form zu begreifen und uns die Möglichkeit zu geben, die Welt anders zu sehen. Es geht nicht nur um eine authentische Repräsentation von Ereignissen, sondern auch um eine Reflexion über die Wahrnehmung von Zeit und deren Einfluss auf unsere Weltanschauung.

Da sich im Laufe der vergangenen 130 Jahre die Welt, die Zeitwahrnehmung, die Raumwahrnehmung, der Umgang mit Medien und die Gegenwart von Medientechnologien komplett verändert haben und immer weiter verändern werden, müssen auch dokumentarische Formen immer wieder neue Möglichkeiten der Modulation von Zeit finden, um diesen Veränderungen gerecht zu werden und sie künstlerisch zu reflektieren.

Welche Vielfalt an dokumentarischen Formen und Praxen der Dokumentarfilm im Nachdenken über und in der Hervorbringung von Zeit im Lauf seiner Geschichte entwickelt hat, soll in den kommenden beiden Tagen zumindest ausschnitthaft sichtbar werden.

Das folgende Programm aus kurzen, experimentellen dokumentarischen Arbeiten aus unterschiedlichen Epochen, die durch Licht, Bewegung, Beschleunigung, Dehnung, Schnittrhythmus, Bildschichtungen oder zeitliche Umkehrungen Prozesse des Sehens, des Wahrnehmens und Erinnerns bewusst machen und sich als zeitbasierte, oft analoge Medien mitsamt ihren technischen und ästhetischen Dimensionen selbst ins Zentrum der Reflexion stellen, soll das weite Feld der Tagung ein wenig abstecken und erste Impulse für das weitere Nachdenken und Sprechen über das komplexe Verhältnis von Zeitlichkeit, Wirklichkeit und Dokumentarfilm setzen. Wenn also diese Tagung mit eher experimentellen Formen beginnt, dann vielleicht deshalb, weil das explizite Aushandeln des Verhältnisses der beiden Zeitlichkeiten in diesen Formen oft radikal verdichtet wird und oft ihr zentraler Gegenstand ist.

Erinnerung, Geschichte, Identität, Familie, technischer Fortschritt und Wandel sind zentrale Themen im filmischen Œuvre des inzwischen 92-jährigen Edgar Reitz. In ihnen offenbart sich das wiederkehrende Interesse des Uhrmachersohns, Zeit als existenzielle wie ästhetische Herausforderung und Erfahrung zu erforschen. Band 17 der dfi-Publikationsreihe „Texte zum Dokumentarfilm“, der eine Fülle von Aufsätzen, Gesprächen und Fundstücken aus fünf Jahrzehnten des filmischen und theoretischen Wirkens von Edgar Reitz versammelt und bezeichnenderweise den Titel „Zeitkino“ trägt, liefert einige Zeugnisse dafür, dass sich dieses Interesse auch in Reitz‘ theoretischen Auseinandersetzungen mit den Potenzialen des Films und des Kinos, mit dessen Sprache und Erzählweisen sowie den ästhetischen und technischen Entwicklungen wiederfindet.

Lange bevor der Chronist der deutschen Geschichte mit seiner epischen Heimat-Erzählung Weltruhm erlangte, komponierte Reitz, der im Feld des experimentellen Industriefilms seinen Unterhalt verdiente und sich als Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests von allen Konventionen des Erzählkinos zu befreien hatte, mit GESCHWINDIGKEIT. KINO I (1963) einen Film, der auf Narration verzichtet und stattdessen auf eine sinnliche Zeit-Raum-Erfahrung setzt. GESCHWINDIGKEIT beginnt langsam, mit statischen Naturbildern. Im Lauf der Zeit setzt sich die Kamera in Bewegung, wird schneller, entfesselter. Sie fährt, schwenkt, taumelt, schießt mit rasendem Tempo durch den Raum, hinein in die Moderne und vorbei an den Dingen, die sie im Rausch der akzelerierenden Geschwindigkeit nur noch bruchstückhaft oder verzerrt abbilden kann, bis sich die Welt schließlich in abstrakte Zeichen und Rhythmen auflöst. Der Film kommt hier der Musik nah, und tatsächlich ist das „Drehbuch“ des Films kein Text, sondern eine Partitur. Der Zusammenhang von technischem Fortschritt und der Veränderung unserer Wahrnehmung erschließt sich hier über die Bewegung im Raum in der Zeit. Dabei zeigt sich bei Reitz gerade nicht der von Bazin geforderte Respekt für die Einheit von Ort und Dauer des Ereignisses. Reitz geht es um die Zerstückelung dieser Einheit. In der Fragmentierung von Raum und Zeit, der Zerstörung von Kontinuität und der allmählichen Atomisierung der Dinge durch beschleunigtes Tempo und dynamische Montage, spiegelt sich die Erfahrung der Moderne wider. Was Georg Simmel in seiner Studie über das Geistesleben des Großstadtmenschen als Zustand der Neurasthenie beschreibt, wird in GESCHWINDIGKEIT sinnlich erfahrbar gemacht.

In GO GO GO (1964) hat Marie Menken das Stadtleben New Yorks dokumentiert – hat aus einem fahrenden Auto und einem Zug, mal in statischen Einstellungen, mit reduzierter Framerate ihrer Bolex-Kamera das Treiben der Menschen aufgenommen. In Bezug auf Perez könnte man also sagen, dass das eine Licht eine Sekunde in vier Bilder auflöst und das andere Licht eine Sekunde mit 24 Bildern anreichert. Was Menken in dieser beschleunigten und extrem gerafften zeitlichen Darstellung des urbanen Lebens sichtbar macht – in Teilen vielleicht wie Godfrey Reggio über zehn Jahre später in KOYAANISQATSI (1976-1982), wenngleich ganz ohne Pathos und Hybris –, sind vor allem die Strukturen urbanen Lebens, die dem Auge in der Realität verborgen bleiben: Der Rhythmus der Stadt, seiner Architektur, seiner Farben, das Pulsieren des Verkehrs und der Menschen, die sich als gleichförmiger Strom durch belebte Straßen schieben, durch Uniformierung, sich ähnelnde Körper oder ritualisierte Gesten und Bewegungen zum Kollektiv verschmelzen. Zeit wird hier als eine Art choreografisches Element eingesetzt, um die Hektik der Stadt und die Dynamik ihrer Menschen zu überformen und als Lebensgefühl erfahrbar zu machen.

In CEREAL / Soy Claudia, soy Esther y soy Teresa. Soy Ingrid, soy Fabiola y soy Valeria. (2022) greift die österreichische Künstlerin Anna Spanlang auf ihr privates Handyvideo-Archiv zurück und verdichtet die festgehaltenen, über zehn Jahre gesammelten digitalen Momentaufnahmen aus dem eigenen Leben sowie Fragmente aus aufgezeichneten Nachrichten, Filmen, Videospielen, Serien und Comics zu einem 35-minütigen Videotagebuch. Anders als Jan Peters, der die Kamera in seinen Tagebuchfilmen in regelmäßigen zeitlichen Abständen auf sich selbst richtet, um seine Gedanken festzuhalten und in manchmal manisch wirkenden Redeschwallen mit der Welt zu teilen, tritt Anna Spanlang nie selbst im Bild oder als Stimme in Erscheinung, sondern wird ausschließlich über die radikal subjektive Perspektive sichtbar, in der das individuelle Erleben immer an eine solidarische Gemeinschaft gebunden ist, Privates, Kunst und Politik unauflöslich ineinander verschaltet sind.  In einer rasanten Montage des Materials ordnet Spanlang die aufgezeichneten Momente aber nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge an, um etwa einen linearen Lebenslauf nachzuzeichnen. Vielmehr scheint sie durch das Ordnungsprinzip ihres Films sichtbar machen zu wollen, wie Erinnerung funktioniert: Spanlang clustert die Momentaufnahmen thematisch, verkettet die Ereignisse assoziativ, lagert unterschiedliche Zeitebenen übereinander, schichtet sie als Bild im Bild oder lässt einzelne Einstellungen in unterschiedlichen Kontexten gleich mehrfach in Erscheinung treten, sodass der Eindruck entstehen könnte, Spannlang zappe durch das Bildarchiv ihrer eigenen Geschichte. Die Bilder der Vergangenheit werden nicht in eine festgeschriebene Ordnung gebracht, sie rotieren im Gedächtnis so frei beweglich wie die Blätter in einem Zettelkasten, sind aber dennoch Teil der Identiät.

In Spanlangs Umgang mit Zeit offenbart sich vielleicht eine gewisse Verwandtschaft mit der Arbeitsweise von Thomas Heise, dessen Filme morgen Gegenstand unserer Betrachtung sein werden. Auch Spanlangs Strukturprinzip bricht mit der Vorstellung linearer Geschichtsschreibung.

Für WOW KODAK (2018) greift Viktoria Schmid auf das digitale Archiv von YouTube zu, einer Bilddatenbank voller Zeitfragmente aus unterschiedlichsten Schichten und geografischen Formationen, die danach fragen, in ein Verhältnis gesetzt zu werden. Schmids Found Footage Arbeit besteht aus fünf hintereinander montierten Clips aus unterschiedlichen Quellen, die das gleiche Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Die zeitliche Modulation, die Schmid hier vornimmt, erschöpft sich allerdings nicht in der mehrfachen Wiederholung eines unwiederholbaren Spekatels, zu dem sich etliche Schaulustige versammelt haben: der Sprengung des Firmenhauptsitzes von Kodak, die der Analogfilmhersteller mit dem Slogan „A Day for a Revolution“ bewarb. Schmid nimmt diesen Slogan ernst und verwirklicht ihn, indem sie die Clips rückwärts abspielt und die Sprengung des Gebäudes in eine Wiederauferstehung transformiert. Mit dieser Technik, mit der bereits die Brüder Lumière in ihrem Film DÉMOLATION D’UN MUR (1895) die einfachste Form der Zeitmanipulation deutlich machten, stellt Schmid nicht nur eine Verbindung zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen her. Sie gibt auch einen Kommentar zur Zukunft des analogen Films ab, dem sie sich in der im Programm folgenden Arbeit NYC RGB (2023) wieder widmen wird, um sich mit historischen Farbfilmverfahren zu beschäftigen und die Effekte der Dreifachbelichtung zu erforschen. Überhaupt hat sich erst zufällig und dann beim Betrachten des Programms vielleicht auch gar nicht so zufällig ergeben, dass ein Großteil der ausgewählten Filme analog gedreht wurden. Vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Faszination des grundlegenden Prinzips des Films –nämlich Zeit in Einzelbilder zu unterteilen und uns als Ablauf zu präsentieren –, immer aufs Neue dazu herausfordert, über Zeit reflexiv künstlerisch zu arbeiten.

In NYC RGB also lässt Schmid den Filmstreifen zeitlich versetzt dreimal mit drei unterschiedlichen Farbfiltern durch die Kamera laufen, und schichtet so drei unterschiedliche Zeitlichkeiten auf das Filmmaterial und damit diese in ein einziges Bild auf der Leinwand. In einem vollkommen neuen Blick auf New York verlieren die starren, unbeweglichen Konturen der Stadt ihre Schärfe, während all das, was sich bewegt und im Lauf der Zeit verändert – Wolkenformationen, das Licht, die Schatten, die Autos und Menschen auf der Straße –, sich von den Strukturen starrer Architektur abhebt und in drei verschiedene Farben aufgefächert sichtbar wird.

Mit dem letzten Film in diesem Programm, Larry Gottheims FOG LINE von 1970, läuten wir nicht nur das dokumentarische Format ein, dem sich der Nachmittag verschrieben hat und das uns unter dem Label des Slow Cinema mit einer besonders langsamen Erzählweise konfrontiert, die sowohl unsere Sehgewohnheiten als auch unsere Geduld auf die Probe zu stellen vermag. Wir nähern uns mit diesem Film auch wieder jenem Konzept von Zeitlichkeit, mit dem wir diesen Vortrag begonnen haben, und kehren damit zur konstituierenden Fähigkeit des Films zurück, die Zeit auf unveränderte Weise zu dokumentieren, die wirkliche Zeit der Dinge in sich aufzunehmen und, um es mit Siegfried Kracauer zu sagen, die äußere Wirklichkeit zu erretten.

FOG LINE besteht aus einer 11-minütigen statischen Einstellung auf eine nebelverhangene Landschaft. Nur langsam beginnt sich der dichte Schleier zu lichten, der den Blick auf die Dinge verstellt. Das ausgedehnte Warten, die kaum merkliche Veränderung, das Nichts-Sehen schärft den Blick aber zugleich: für den Nebel und für das Korn, für seine Bewegung und jene des Films, um schlussendlich uns zurück zur Zeit an sich zu führen. Das also wäre die dritte Dimension der Zeitlichkeit, über die wir gemeinsam nachdenken werden: jene der Erfahrung im Blick auf die Bilder.