
DOING TIME.
Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit.
9./10. Januar 2025 im Filmhaus Köln
Dokumentarfilme sind immer auch die Aushandlung zweier Zeitlichkeiten — die der materiellen Welt vor der Kamera und die der ästhetischen Erfahrung in der Projektion: Die Zeitlichkeit der Welt muss für den Dokumentarfilm eingefangen werden und in eine filmische Form übersetzt werden, die wiederum durch eine bestimmte Dauer geprägt ist.
Das zweitägige dfi-Symposium widmet sich dokumentarischen Verfahren, die in ihrem Umgang mit Zeit die Konventionen von Kino, Fernsehen und Streaming herausfordern, aufbrechen, erweitern und damit einzigartige Erfahrungsräume eröffnen.
Ein einführender Vortrag versucht im Dialog mit einer Auswahl experimenteller Kurzfilme einen fragmentarischen Überblick über die weitgefasste Thematik zu geben und eine Vielfalt künstlerisch-dokumentarischer Formen und Praxen zu präsentieren, die der Dokumentarfilm im Nachdenken über und in der Hervorbringung von Zeit im Lauf seiner Geschichte entwickelt hat, um diese auf unterschiedliche Weise festzuhalten, zu erzählen, zu skulpieren, zu manipulieren, in ihrer Vergänglichkeit auszustellen und dem Publikum erfahrbar zu machen. Die gemeinsame Sichtung von Arbeiten, die durch Licht, Bewegung, Beschleunigung, Dehnung, Schnittrhythmus, Bildschichtungen oder Umkehrungen Prozesse des Sehens, des Wahrnehmens und Erinnerns bewusst machen und sich als zeitbasierte, oft analoge Medien mitsamt ihrer technischen und ästhetischen Dimensionen selbst ins Zentrum der Reflexion stellen, sollen auf weitere Seherfahrungen einstimmen und erste Gesprächsimpulse setzen.
Filmen, die Zeit dehnen, bisweilen die Geduld strapazieren und teilweise unter dem Label „Slow Cinema“ international zu neuem Ruhm gelangt sind, widmet sich der Nachmittag. AUS EINEM JAHR DER NICHTEREIGNISSE beobachtet den repetitiven, schwerfälligen Alltag eines 90-jährigen Bauern, der pragmatisch-sturen Widerstand gegen das eigene Absterben und Verschwinden übt. In HOTEL MONTEREY, Chantal Akermans entschleunigter Vermessung eines in die Jahre gekommenen New Yorker Hotels, offenbart sich das home away from home als Ort der Einsamkeit, des Wartens, der Isolation und Depression, als Lebensform des inneren wie äußeren Exils.
Nach einer gemeinsamen Diskussion, die das Gesehene Revue passieren lässt, zusammenführt und Fragen erneut aufgreift, wird mit SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE zur genuin dokumentarischen Methode der Langzeitbeobachtung übergeleitet. Helena Třeštíková komprimiert in 83 Filmminuten fast vier Dekaden aus dem Familienleben ihrer Freundin und erzählt neben den privaten Entwicklungen auch gesellschaftliche Umbrüche. Marion Biet wird den zweiten Tag des Symposiums mit einem Vortrag über Třeštíkovás Arbeitsweise eröffnen, die die Dokumentarfilmerin selbst als „zeitsammelnde Methode“ beschreibt.
Durch Auswahl, Verdichtung und Raffung von über Jahre oder Jahrzehnte gesammelten Momentaufnahmen offenbaren sich auch in Volker Koepps WITTSTOCK-Zyklus persönliche, gesellschaftliche und landschaftliche Veränderungen in sonst nicht wahrnehmbaren Dimensionen. Entlang von Ausschnitten aus dem Siebenteiler spricht Koepp über in Wittstock verbrachte Lebens- und Arbeitszeit, dokumentarische Ansätze, außergewöhnliche Filmemacher-Protagonistinnen-Verhältnisse und eigene Umbruchserfahrungen. Fragen nach ihrem persönlichen, gesellschaftlichen und historischen Wert sind im Nachdenken über Langzeitbeobachtungen ebenso relevant wie die Frage nach einer künstlerisch-moralischen Haltung oder den energetischen, narrativen, technischen, ökonomischen oder distributiven Herausforderungen, die mit dieser dokumentarischen Form einhergehen.
Anhand Jasco Viefhues‘ RETTET DAS FEUER, der das Vermächtnis des Berliner Fotografen, Künstlers und AIDS-Chronisten Jürgen Baldiga aus dem Archiv hebt, gemeinsam mit dessen Weggefährt:innen aus dem Jetzt in die Vergangenheit blickt und diese mit der Gegenwart und der Zukunft in einen Dialog bringt, wird die Medienwissenschaftlerin Natascha Frankenberg im Gespräch mit Jasco Viefhues queere Perspektiven nach ihrem Potenzial zur Zerschlagung heteronormativer Zeitlichkeiten, Narrative und Identitätskonstruktionen befragen.
Vor der abschließenden Diskussion widmet sich der letzte Programmpunkt anhand zweier den Teilnehmenden im Vorfeld des Symposiums im Kino und online präsentierten Filme dem überlangen Dokumentarfilm. Anhand von Ausschnitten aus Thomas Heises MATERIAL (DE 2009) und HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT (DE/AT 2019) reflektieren die Editoren René Frölke und Chris Wright im gemeinsamen Dialog über die Zusammenarbeit mit dem 2024 verstorbenen Dokumentarfilmemacher und über die Frage, wie das Heisesche Verständnis von Zeitlichkeit und Geschichte in der Montage von unzähligem Material in eine Form und einen Rhythmus gefunden hat, die die Komplexität und Vielschichtigkeit von Zeit-(Ge)Schichten, Zeit-Räumen und Erinnerungen als existenzielle Erfahrung vermitteln.
Das Symposium richtet sich an Filmschaffende aller Gewerke, Studierende, Wissenschaftler:innen und generell Dokumentarfilminteressierte.
Teilnahmebeitrag (zahlbar durch Überweisung vorab)
2 Tage: 55 € / 35 € ermäßigt
1 Tag: 35 € / 20 € ermäßigt
1/2 Tag: 20 € / 12 € ermäßigt
Anmeldung
zum Anmeldeformular online
Veranstalterin
dfi-Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW e.V.
Konzept & Programm
Michelle Koch
Veranstaltungsort
Filmhaus Köln • Maybachstraße 111 • 50670 Köln
Pressekontakt
Stefanie Görtz • goertz@dokumentarfilminitiative.de • mobil: 0170-2037198
Pressemitteilung vom 31.10.2024
Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW e.V.
Kommissarische Leitung: Michelle Koch
Filmhaus Köln
Maybachstraße 111
50670 Köln
0221 170 66 508
dfi@filmbuero-nw.de
dokumentarfilminitiative.de
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instagram.com/dfi.dokumentarfilminitiative
Foto: "Heimat ist ein Raum aus Zeit". DE/AT 2019. Regie: Thomas Heise © Stefan Neuberger
Das Symposium wird moderiert von Birgit Kohler und Sven von Reden
09:30 Foyer
AKKREDITIERUNG
10:00 – 10:15 Kino
BEGRÜSSUNG
10:15 – 12:15 Kino
Beschleunigen, raffen, schichten, wiederholen, dehnen … Mit der Zeit verändert sich der Blick auf die Dinge
Impulsvortrag von Michelle Koch mit experimentellem Kurzfilmprogramm
o GESCHWINDIGKEIT. KINO EINS (Edgar Reitz, BRD 1963, 13’, kein Dialog)
o GO GO GO (Marie Menken, US 1964, 12’, stumm)
o CEREAL / Soy Claudia, soy Esther y soy Teresa. Soy Ingrid, soy Fabiola y soy Valeria. (Anna Spanlang, AT 2022, 35’, Deutsch, Chinesisch, Englisch, Polnisch, Spanisch mit englischen Untertiteln)
o W O W Kodak (Viktoria Schmid, AT 2018, 3’, kein Dialog)
o NYC RGB (Viktoria Schmid, AT/US 2023, 7’, kein Dialog)
o FOG LINE (Larry Gottheim, US 1970, 11’, stumm)
12:15 – 13:30 Foyer
MITTAGESSEN
13:30 – 15:00 Kino
AUS EINEM JAHR DER NICHTEREIGNISSE (Ann Carolin Renninger, René Frölke, DE 2017, 83’, Deutsch)
15:00 – 15:45 Kino
Nichts passiert, aber die Zeit vergeht unaufhaltsam
Filmgespräch zu AUS EINEM JAHR DER NICHTEREIGNISSE mit Ann Carolin Renninger
15:45 – 16:00 Foyer
KAFFEEPAUSE
16:00 – 16:45 Foyer
GLOSSAR
Austauschrunde über Schlüsselbegriffe zu Zeitlichkeiten im Dokumentarfilm
Begriffssammlung: Alejandro Bachmann, Mirjam Baumert, Helan Darwish, Franca Pape, Elena Ubrig, Marja Vormann
16:45 – 18:00 Kino
HOTEL MONTEREY (Chantal Akerman, BE 1972, 63’, stumm)
18:00 – 18:45 Kino
PUBLIKUMSDISKUSSION
18:45 – 20:00 Foyer
ABENDESSEN
20:00 – 21:30 Kino
SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (Helena Třeštíková, CZ [1974–]2012, 83’, Tschechisch mit englischen Untertiteln)
9:30 – 10:45 Kino
SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (CZ [1974–]2012) –
Der Langzeitdokumentarfilm als Archivarbeit der longue durée
Vortrag von Marion Biet
10:45 – 12:15 Kino
Über die Jahre – Leben, Arbeit und Wandel in Wittstock
Werkstattgespräch mit Volker Koepp entlang von Ausschnitten aus seinem siebenteiligen Wittstock-Zyklus (DDR 1975 – DE 1997)
12:15 – 13:30 Foyer
MITTAGESSEN
13:30 – 15:00 Kino
RETTET DAS FEUER (Jasco Viefhues, DE 2019, 82’, Deutsch mit englischen Untertiteln)
15:00 – 15:45 Kino
Dokumentarische Reflexionen normativer Zeitlichkeit
Filmgespräch zu RETTET DAS FEUER mit Jasco Viefhues und Natascha Frankenberg
15:45 – 16:15 Foyer
KAFFEEPAUSE
16:15 – 17:45 Kino
„Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen.“
Birgit Kohler und Sven von Reden sprechen mit den Editoren René Frölke und Chris Wright über Zeit-(Ge)Schichten und die Zusammenarbeit mit Thomas Heise entlang von Ausschnitten aus MATERIAL (DE 2009, 166’) und HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT (DE/AT 2019, 218’)
17:45 – 18:30 Kino
ABSCHLUSSDISKUSSION
AUS EINEM JAHR DER NICHTEREIGNISSE (Ann Carolin Renninger, René Frölke, DE 2017, 83’, Deutsch)
CEREAL / Soy Claudia, soy Esther y soy Teresa. Soy Ingrid, soy Fabiola y soy Valeria. (Anna Spanlang, AT 2022, 35’, Deutsch, Chinesisch, Englisch, Polnisch, Spanisch mit engl. Untertiteln)
FOG LINE (Larry Gottheim, US 1970, 11’, stumm)
GESCHWINDIGKEIT. KINO I (Edgar Reitz, DE 1963, 13’, kein Dialog)
GO GO GO (Marie Menken, US 1964, 12’, stumm)
HOTEL MONTEREY (Chantal Akerman, BE 1972, 63’, stumm)
NYC RGB (Viktoria Schmid, AT/US 2023, 7’, kein Dialog)
RETTET DAS FEUER (Jasco Viefhues, DE 2019, 82’, Deutsch mit engl. Untertiteln)
SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (Helena Třeštíková, CZ [1974-]2012, 83’, Tschechisch mit engl. Untertiteln)
W O W Kodak (Viktoria Schmid, AT 2018, 3’, kein Dialog)
Ausschnitte aus:
HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT (DE/AT 2019, 218’)
MATERIAL (DE 2009, 166’)
WITTSTOCK-ZYKLUS (DDR 1975 – DE 1997)
Thomas Heises überlange Dokumentarfilme MATERIAL und HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT laufen im Vorfeld des Symposiums im Filmhaus Kino Köln – für angemeldete Symposiumsteilnehmende ist der Eintritt frei:
MATERIAL (DE 2009, 166’) – Freitag, 03.01.2025, 17 Uhr
HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT (DE/AT 2019, 218’) – Sonntag, 05.01.2025, 11.30 Uhr
Alejandro Bachmann (Professor für Filmgeschichte und Filmtheorie / Kunsthochschule für Medien Köln), Mirjam Baumert (Filmbildung und Atelier / Filmhaus Köln), Marion Biet (wissenschaftliche Mitarbeiterin der Filmwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft / Goethe-Universität Frankfurt), Helan Darwish (Studierende der Medizin, Mentee im Filmhaus 2022), Natascha Frankenberg (Medienwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin / Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig), René Frölke (Editor, Kameramann und Regisseur), Michelle Koch (dfi-Leitung), Volker Koepp (Dokumentarfilmregisseur), Birgit Kohler (Leitung Kinoprogrammbereich / Arsenal – Institut für Film und Videokunst Berlin), Franca Pape (Studierende Mediale Künste / Kunsthochschule für Medien Köln), Ann Carolin Renninger (Filmemacherin, Dokumentarfilmproduzentin, Künstlerin im Bereich Buchkunst), Elena Ubrig (Studierende Dokumentarfilm, Bildgestaltung und literarisches Schreiben / Kunsthochschule für Medien Köln), Jasco Viefhues (Filmemacher und Dramaturg am Schauspiel Dortmund), Sven von Reden (Filmjournalist und Redakteur), Marja Suna Vormann (Dokumentarfilmerin, Kamerafrau und Studierende Mediale Künste / Kunsthochschule für Medien Köln), Chris Wright (freier Dokumentarfilmer, Editor und Schnittberater)
Eine Veranstaltung der dfi – Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW e.V., gefördert von Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Kulturamt der Stadt Köln und VFF Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten mbH. In Kooperation mit AG DOK Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm • Filmhaus Köln • Kunsthochschule für Medien Köln • Netzwerk Filmkultur NRW.