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Interviews mit Dokumentarfilmern

Heimat, schöne Fremde

Ein Gespräch zwischen Michael Girke und Reinald Schnell

pdf Gespräch zwischen Michael Girke und Reinald Schnell

MICHAEL GIRKE: Als ich am Beginn des Jahres einen Text für das Programmheft der Veranstaltungsreihe „Der Pott filmt“ schrieb, hast du moniert, darin fehlten Einlassungen über den besonderen Charakter des Ruhrgebiets. Wie würdest du diesen Charakter denn beschreiben?

Reinald Schnell

REINALD SCHNELL: Man muss einfach wissen: mit der Industrialisierung des Ruhrgebietes war eine Bevölkerungsexplosion verbunden. Vorher war es ein Agrarland, die Städte waren noch Dörfchen. Die Unternehmer stellten dann solche Siedlungen wie Eisenheim oder Mausegatt mitten auf die Felder; die Städte wurden größer, breiteten sich aus und schließlich wurden die Siedlungen integriert. Und natürlich trafen hier nicht Kulturen, sondern Mentalitäten, fremde Mentalitäten, aufeinander, die sich zunächst richtig heftig gerieben haben. Innerhalb dieser enormen Expansion fanden also diese starken gesellschaftlichen Auseinandersetzungen statt, aber den Ruhrgebietlern gelang es mit der Zeit sozusagen eine Einheit zu finden, dazu eine gewisse Form der Offenheit. Übrigens auch eine eigene Art des Sprechens. Wenn man in den Betrieben Anleitungen gab, musste man schreien, in den Siedlungen unterhielten sich die Leute über die Gartenzäune ihrer recht weit auseinander liegenden Häuschen hinweg. Hier war es also stets ein bisschen laut.  
Die aus all dem erwachsene Mentalität kann man vielleicht so skizzieren: wenn sich in den 20er Jahren Leute begegneten, hieß es beispielsweise ʹNa, du altes Arschloch, wie geht’s dennʹ. Keiner nahm so etwas übel, denn die Fremdheit, die es ja lange Zeit gegeben hatte, wurde mit solchen Formen ironisiert. Und so hat das Ruhrgebiet eigene, sehr direkte Kommunikationsformen entwickelt, die in meinen Arbeiten, nicht nur als Filmemacher, eine große Rolle gespielt haben. Es geht mir darum, ein Thema immer möglichst direkt anzugehen.
Im Verlauf der Zeit kamen immer wieder Leute her, die sich fürs Ruhrgebiet interessierten, die auch Sympathien hatten, aber ihren Blick über diese ihnen fremde Welt legten und oftmals eine Form der Romantisierung betrieben. Da wurden Elemente in die Darstellung des Ruhrgebietes gemischt, welche mit dem Kern der Ruhrgebietsmentalität nicht viel zu tun hatten. Das war meine gar nicht wirklich kritische Wahrnehmung deines Textes: wieder so ein typischer Blick von außen!

Wie sollte es anders sein?
Sicher. Aber ich hätte es eben gut gefunden, wenn du wenigstens erwähnt hättest, dass durch diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, zu der die Menschen sich verhalten mussten, eigene Lebens- und Umgangsformen entstanden. Denn, auch wenn in deinem Text gar nichts Falsches steht, berührt er die Wurzeln nicht. Ich glaube, dass meine Filme zu den wenigen gehören, die das Ruhrgebiet in dieser Weise begreifen und begreifbar machen.

Nun bist du lange schon ein Bürger Mülheims. Kannst du einmal die Veränderungen der Stadt in der jüngeren Zeit, in den letzten drei Jahrzehnten beschreiben?
Bei mittelalterlichen Städten, um einen Vergleich heranzuziehen, war es so, dass in ihnen Fürsten residierten … das hat Folgen, wirkt bis heute nach außen hin prägend. Das Ruhrgebiet hingegen kann man nicht als etwas Statisches verstehen, es war eigentlich immer in Veränderung begriffen, die Umgestaltung ein Problem in Permanenz. Kohle und Stahl waren ja nicht länger als hundertfünfzig Jahre dominant. Ab den 60er Jahren veränderten neue Produktionsprozesse alles noch einmal, auch durch eine neue Urbanisierung, Universitäten mussten nun her, auch ist das Ruhrgebiet heute nicht mehr expansiv – aber wieder nimmt alles eine andere Gestalt an.
Mülheim ist eine ganz typische Stadt, sie hat klassische Industrien und gleichzeitig ein Max-Planck-Institut, dessen Mitarbeiter etwas mitbrachten, neue Formen der Kommunikation. Dazu kommen die traditionelle Oberklasse und die Arbeitenden. Alle diese Leute haben aber ein Miteinander gefunden, das einen ganz anderen Charakter hat als beispielsweise in Berlin. Bloß weiß man nicht recht zu sagen, was nun wirklich repräsentativ für das Ruhrgebiet ist.

Wird man angesichts der permanenten Veränderungen zuweilen auch sentimental?
Sentimentalität entsteht für mich dadurch, dass viele Formen, die für mich wesentlich waren, Wurzeln meiner Phantasien, einfach wegsterben. Vielleicht gehöre ich noch zu den Romantikern, die sagen, dass auch etwas bleibt. Es ist mir aber überaus bewusst, dass Veränderungen unvermeidlich sind. Als alter Dialektiker weiß ich, es ist immer etwas in Bewegung, wie es ja schon Heraklit in der Antike mit seinem berühmten Satz ʹAlles fließtʹ gefasst hat – das sind Gesetzmäßigkeiten. Und die werden durch das bestimmt, was real stattfindet, durch das Neue, das in einer Zeit hinzukommt. Die Besonderheit des Ruhrgebietes als einem industriellen Zentrum ist eben, dass die Prozesse, auch alle Geschehnisse, welche mit Migration zu tun haben, weitaus schneller ablaufen als anderswo.

Ein Staat wie die DDR, dessen Existenz für mich, wie bewusst oder tief erlebt auch immer, zum Alltag gehörte, ist inzwischen historisch geworden; viele junge Leute wissen schon fast gar nichts mehr über die DDR oder die historischen Gründe der Existenz dieses Staates. Wie erlebst du dieses  Wegwehen bestimmter Ruhrgebietsrealitäten, in welchen du gelebt hast?

Reinald Schnell - Flurstraße

Ich bin Jahrgang 1935 und gehöre einer Generation an, die ungeheuer viele Veränderungen erlebt und durchgemacht hat. Mein erster bewusster Schock war die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Meine Eltern waren Antifaschisten und haben mich sehr geprägt. Plötzlich wurde dann in Westdeutschland wieder über Militarisierung und Aufrüstung geredet. Mir war stets bewusst, dass der deutsche Militarismus in den 20er Jahren den Faschismus mit hervorgebracht hatte - und mir schien das nun wieder zu beginnen oder weiter zu gehen. In einer solchen Situation fragt man als junger Mensch, an wem man sich denn orientieren könne. Mein großer Held war zunächst Gandhi (lacht), der hatte beinahe die Züge eines Heiligen.
Nun waren meine Großeltern väterlicherseits sehr fromm gewesen, mein Vater aber war Marxist. Es gab eine große familiäre Ambivalenz, die aber bewirkte, dass ich mich auch mit dem dialektischen Denken beschäftigt habe – mein Vater hatte mir die entsprechende Literatur gegeben. Dabei stellte ich fest: die von Marx festgestellten Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche der Geschichte gingen in Westdeutschland immer schneller vonstatten. Von der Eisenbahn hin zum Auto - das hat hundert oder fünfzig Jahre gedauert, die Menschen konnten sich ganz allmählich mit technischen Entwicklungen vertraut machen. Heute entwickeln die Kommunikationstechnologien sich rascher, fordern die Menschen auch anders.
Also: diese Art von Denken und mein persönliches Erleben stehen in einem Zusammenhang. Und daraus folgt für mich, dass die Fragen, nach dem was ich bewahren will und was meine Vision nach vorne sein könnte, gleichberechtigt nebeneinander stehen. Weil Bewahren allein nicht zu einer produktiven Lebensform führt, bieten meine Filme, die sich mit Ruhrgebietsgeschichte befassen, niemals ein sentimentales Zurück an. Wie Bewahren und Nach-Vorne-Streben zusammenzuführen sind, da habe ich zwar keine Antwort darauf, aber ich bin optimistisch.

Vor über vierzig Jahren hast du zusammen mit Peter Nestler den Film „Mülheim/Ruhr“ gedreht. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Zufall. Hier kommt mein Vater ins Spiel: Robert Wolfgang Schnell. Er war Schriftsteller und kam immer sporadisch angereist, aus Berlin, wo er wohnte. Eines Tages stand er mit seiner üblichen Zigarette im Mundwinkel wieder vor der Tür und hatte noch jemanden dabei, den er mit folgenden Worten vorstellte: der hier macht Filme!
Forsch behauptete ich, auch Filmemacher zu sein. Und zwar, weil ich Mitglied in der Internationale der Kriegsdienstgegner war und zusammen mit einem Freund Bilder aus Konzentrationslagern mit einer 8-mm-Kamera abgefilmt und geschnitten hatte; das wurde dann auf Veranstaltungen gezeigt und war als Film natürlich gar nicht ernst zu nehmen. Aber Nestler guckte fasziniert darauf. Nachdem wir einige Male trinken waren, entstand dann langsam ein Verhältnis zwischen uns. Eines Tages kam ein Brief, in dem stand, dass Peter einen Film über das Ruhrgebiet machen und mich besuchen wolle. Wir einigten uns dann auf Mülheim, weil der Etat nicht groß war und ich Hinz und Kunz kannte - das war wichtig, so habe ich dem Nestler viele Leute vorstellen können. Wir gingen an diesen Film und führten ähnliche Diskussionen wie auch wir am Anfang dieses Gesprächs, nämlich darüber, was das Ruhrgebiet eigentlich ist. Im Grunde ist „Mülheim/Ruhr“ ein Film über diesen Dialog.

Ist der Film dokumentarisch oder gibt er in erster Linie eure Gefühle gegenüber der Stadt wieder?
Das kann ich eigentlich nicht beantworten. Die Bilder gaben Mülheim so wieder, wie ich es verstand. Was ja doch bei jedem Dokumentarfilm so ist. Peter Nestler verstand Mülheim ähnlich, das Bild Mülheims entspringt einer erfahrenen Realität. Der, der die Stadt kannte, zeigte sie dem, der sie nicht kannte. Das Bild Mülheims halte ich für realistisch, aber es gibt natürlich ganz andere Definitionen von Dokumentarfilmen.

Nun hat „Mülheim/Ruhr“, auch noch lange Jahre nach der Fertigstellung heftigste negative Reaktionen hervorgerufen. Haben die euch als Filmemacher überrascht?
Nein! Wir haben zwar nicht damit gerechnet, aber man war solche Auseinandersetzungen durchaus gewohnt. Ich erinnere mich, wie mein Vater vom damaligen Intendanten des Theaters nach Düsseldorf eingeladen wurde, um dort Büchners Stück „Leonce und Lena“ zu inszenieren. Da war ich noch ein kleiner Junge, habe also gar keine Szene mehr vor Augen, nur dass Valerio zum "Badenweiler Marsch" mit Hitlergruß die Bühne betrat, denn in der Inszenierung des Stücks wurde versucht zu erklären, wie Faschismus eigentlich möglich wird. Das wurde als skandalös empfunden, es gab heftigste Beschimpfungen und Verunglimpfungen. Ähnliches, wie gesagt, erlebte ich bei dem Konflikt um die Remilitarisierung Deutschlands. Es war einfach ständig Druck spürbar und mein Gefühl war, in einer Art Widerstand zu stehen.

Würdest du sagen, der Film „Mülheim/Ruhr“ hat, ähnlich wie die erwähnte Theaterinszenierung, deutliche politische Aspekte?
Peter Nestler hat einmal geschrieben, Filmegucken sei Arbeit, und dass es darauf ankomme, was ein Zuschauer, der ja ein Bewusstsein darüber hat, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang er lebt, zu einem Film assoziiert. Somit ist der Film schon politisch gedacht, und es wurde auf ihn ja auch immer politisch reagiert. Denn sowohl romantisierende als auch damals absehbare Vorstellungen der großen ökonomischen Konsortien darüber, wie eine moderne Stadt aussehen soll, werden von uns hinterfragt. Ob man unser Bewusstsein nun Klassenbewusstsein nennt oder sonst irgendwie, ist mir egal. Der Film war nicht gegen eine bestimmte Schicht gerichtet, sondern als eine realistische Reflektion gedacht, um mit Gleichgesinnten über gewisse Dinge überhaupt sprechen zu können, um sich sozusagen selber zu finden.

Neulich führte ich den Film in einem Seminar an der Fachhochschule in Dortmund einigen Filmstudenten vor, die waren zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt. Eigentlich alle bezeichneten den Film als deprimierend.
Ich würde diese Sichtweise nicht beanstanden, sondern den Film als einen Anlass nehmen, über diese zu reden. Wenn die Studenten solch einen alten realistischen Film sehen, entsprechen ihre Reaktionen wohl den augenblicklich in der Gesellschaft dominierenden Anschauungen. Und mein Eindruck ist schon, dass unsere Gesellschaft sich selbst immer mehr im Konsum verliert.

In der von euch gefilmten Stadtlandschaft, so sehen es die jungen Leute, mag man nicht gerne sein.
Das sind alles Bemerkungen, die ich sehr interessant finde, weil sie zeigen, was Leute schön finden, wo die Wurzeln ihrer Visionen liegen. In der Nachkriegszeit wurden ja schon Häuser als schön erachtet, die nicht ganz so kaputt waren, wie hässlich sie auch sonst gewesen sein mögen. Und obwohl die wilhelminische Ära verachtet wurde, entdeckte man in der Nachkriegszeit auch die Vorzüge mancher erhaltener Fassade aus dieser Epoche. Nun gehören Häuser zu dem existentiellen Bereich, in dem Menschen wohnen und kommunizieren, aber man betrachtet seine Umwelt stets nach dem Stand seines Wissens. Und in der gegenwärtigen Phase tiefer gesellschaftlicher Unzufriedenheit, wenn nicht Depression, kann ich verstehen, dass man unsere damaligen Bilder als düster empfindet. In den 60ern empfanden viele Leute den Film aber durchaus als optimistisch. Denn wir zeigten ja etwas von dem, was unsere Wirklichkeit ausmachte, den Jetzt-Zustand eines Ortes. Nimmt man derartiges nicht zur Kenntnis, ist man ignorant. Heute sind die Straßen vielleicht sauberer, aber dafür sehe ich kaum mehr wirklich offene Bilder.

Nun entstand „Mülheim/Ruhr“ kurz vor den 68ern, der Film gehört in gewisser Weise zu diesem Ereignis dazu. Wie hast du das damalige Klima in Deutschland erlebt?
Dadurch dass ich ein entschiedener Kriegs- und Wiederbewaffnungsgegner war, lernte ich Arno Behrisch kennen, der zusammen mit Willy Brandt in der Illegalität gearbeitet hatte. Er war der deutsche Vertreter bei der Dänischen Widerstandbewegung und von 1949 bis 1961 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er tritt auch in Peter Nestlers Film „Sie dürfen nicht wiederkommen“ auf. Solche Begegnungen führten dazu, dass ich vor dem Entschluss stand, ein Mitglied der SPD zu werden. Dann aber fand hier in Mülheim eine heftige Diskussion mit einem Landtagsabgeordneten des konservativen Flügels der SPD statt; dessen Antworten erschienen mir unzureichend. Schließlich fand die Remilitarisierung auch bei den Sozialdemokraten immer mehr Zustimmung; ich hingegen war für die Neutralität Deutschlands, wurde zum Mitbegründer der Deutschen Friedensunion. Solche Auseinandersetzungen gingen auch in die Filmarbeit mit ein.

In dem Film „Nicht versöhnt“ von Huillet und Straub gibt es eine sehr markante Einstellung: eine alte Dame zielt vor der Fassade des Kölner Doms mit einem Revolver auf jemanden. Man erfährt nicht, auf wen, kann aber aus dem Film schließen, dass es einer derjenigen ist, die sowohl bei den Nazis als auch im vermeintlich neuen, eigentlich aber bedrückend restaurativen Deutschland Karriere machten.
Die ganze Wahrheit ist das aber nicht. Nehmen wir mal meinen Film über den Ort Kassenberg. Der Außenstehende, der da durchkommt, stellt nur fest, wie hässlich dieser Ort ist. Aber die Menschen, die dort leben, sehen auch das Schöne, das vielleicht im Abseits zu finden ist. In dem Film ist eine Straße zu sehen, in welcher sich das Leben des gesamten Ruhrgebiets widerspiegelt – von ihr ging ein Weg ab, der einmal zu einem Gefangenenlager der Fremdarbeiter führte und den man offiziell nicht begehen durfte. Ich will darauf hinaus, dass es sehr viele wahrzunehmende Facetten gibt und in unserem alten Film „Mülheim/Ruhr“ steckt die Schönheit der Stadt durchaus auch mit drin. Denk´ doch an die Schulkinder, welche die Kamera einfängt, die voller Vitalität sind. Oder auch an die Wirtin, diese ältere Dame, zu der man sofort Vertrauen fasst. Anders gesagt: in dieser bundesdeutschen Atmosphäre leben auch Menschen, die eine gewisse Gelassenheit zum Ausdruck brachten. Und unser Film entstand ja in derselben historischen Phase wie „Nicht versöhnt“.

Du hast erwähnt, du seiest in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Kunst, Theater, Literatur durch Vater und Mutter ganz selbstverständlich präsent waren. Gehörte auch das Kino zur Kultur der Eltern?
Jetzt muss ich etwas erzählen, das vielleicht missverständlich wirken könnte. Wenn mein Vater und ich ins Kino gingen, dann meist, wenn wir müde und abgespannt waren. In solchen Momenten waren allein noch Filme attraktiv, Hauptsache Peter Alexander spielte mit, oder Gunther Philipp, „Graf Mucki“ [Peter Alexander als Graf Bobby und Gunther Philipp als Baron Mucki z.B. in „Die Abenteuer des Grafen Bobby“ Ö 1961] oder ähnliches. Wir haben uns totgelacht und das Kino nicht ernst genommen. Ich finde aber nach wie vor, dass solche Filme eine hohe Qualität hatten. Diese Filme der 50er waren blöd, aber offen und ehrlich blöd. Und wir waren auch oft blöd, und dann passte so etwas zu uns.Mein Vater hatte ein großes Verständnis für solche einfachen Filme, weil die Zeit damals sehr bedrückend war. Und diese Bedrückung brauchte irgendein Ventil. Später schrieb Vater Scripts, wirkte auch in verschiedenen Filmen von Wolfgang Staudte mit. Kino interessierte ihn, aber es war nicht seine Welt. Zugleich aber waren wir sehr an Malerei und Literatur interessiert, an den Klassikern: Kleist, Büchner, Goethe. Das fand aber im Theater statt. Ich erinnere mich noch an eine Inszenierung von „Faust“, die mich beeindruckte – später habe ich dann ja meinen eigenen „Faust“-Film gemacht, zehn Minuten lang, zu der Frage, was die Realität dieser klassischen Figur heute sein mag.

Reinald Schnell

In deinen Filmen geht es stets um wirklich passierte Geschehnisse, die Fiktion wird strikt vermieden. Das heißt, es gibt ein enormes Interesse für Geschichte. Woher rührt es?
Hat man ein Interesse an Menschen, kann man diese ja nicht in einem leeren Raum wahrnehmen. Das stelle ich in den Mittelpunkt, auch in den Filmen. Wenn man sich vor Augen führt, was wir nach 1945 alles gemacht haben – manches hätte uns ins Gefängnis bringen können. Trotzdem haben wir uns immer als Teile der Gesellschaft empfunden. In unseren damaligen Diskussionen hat das Grundgesetz eine große Rolle gespielt, dessen erste zwanzig Artikel unveränderliche und einklagbare Grundrechte sind. Das waren Maßstäbe, die wir anerkannten und akzeptierten, das heißt, die humanistischen Maßstäbe unserer bundesdeutschen Gesellschaft waren ein wichtiger Pol - und so konnten wir beispielsweise niemals in anarchistischer Richtung denken. Es war immer darum gegangen, dass es ein gesellschaftliches Bewusstsein geben sollte, dass beispielsweise der Humanismus dieses Grundgesetzes begriffen, es nicht nach dem jeweiligen Eigennutz ausgelegt wurde.

Du hast einen bürgerlichen Beruf erlernt und ausgeübt. Hast du deine Filme immer außerhalb der eigentlichen Arbeit gemacht?
1943, also während des Krieges, war mein Vater Opernregisseur in Den Haag. Er hatte dieses Engagement angenommen, weil er so nicht Soldat werden musste. Wir waren bei einer Haager Familie einquartiert, die holländische Juden über den Ärmelkanal nach England schleuste. Eines Tages kam meine Mutter dahinter, aber wir haben das natürlich gedeckt. Wir gaben der Familie unsere Lebensmittelkarten, denn wir hatten ja die Möglichkeit, in der Kantine des deutschen Theaters zu essen. Als mein Vater dann doch Dienst mit der Waffe leisten musste, desertierte er, so dass wir uns auch verstecken mussten. Durch all diese Ereignisse fehlten mir ganze Schuljahre. Lesen und Schreiben lernte ich allein von meinen Eltern.
Die Künstler: deren eigenartige Diskussionen hingen mir als Kind zum Halse raus. So wie ich jetzt in unserem Gespräch, haben die auch permanent geschwafelt. Und irgendwann sagte mein Vater, hör mal, Schule ist doch Scheiße! Er war als Kind ein großer Schulschwänzer gewesen und akzeptierte meinen Wunsch, Handwerker werden zu wollen. Kunst, meinte er, könne man später immer noch machen.

Ich dachte, in dieser Berufswahl wird wohl eine Art Revolte gegen dieses intellektuelle Elternhaus stecken.
War auch so. Bloß mein Vater durchschaute das. Und er konnte die Dinge sehr wohl auseinanderhalten.

Wie findet man zu einer eigenen künstlerischen Form?
Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Wenn ich einen Brief schreibe, dann so, dass mein Gegenüber mich versteht. Genauso ist es beim Malen oder Filmen. Diejenigen, die meine Arbeit schätzen und auch die, die sie nicht schätzen, erkennen an, dass ich meine eigene Sprache habe. Schon in der Zeit mit meinem Vater war ein wesentlicher Teil meiner Erfahrung, dass Kunst und Leben nicht zu trennen sind, dass die Glaubwürdigkeit einer Kunst allein mit der Lebenserfahrung eines Künstlers wächst. Wenn du ein Bild von mir ansiehst, erfährst du immer mich, meine Konflikte mit der Wirklichkeit. Wenn ich male, dann setze ich mich mit gewissen Visionen auseinander, um in mir etwas Bildhaftes zu haben, zugleich auch, um meine gesellschaftlichen Sinne zu qualifizieren, wie Marx das genannt hat. Das Feld dieser Konstellation habe ich nie verlassen und will es auch nicht.

Es gibt von dir einen schönen Film über den Maler Otto Pankok, über dessen in den 1930ern entstandenen Bilderzyklus „Passion“. Du magst diesen Zyklus sehr, aber er ist nicht der alleinige Entstehungsgrund des Films?  
Otto Pankok ist ein alter Freund unserer Familie, ich habe ihn schon als Junge kennengelernt. Seine humanistische Einstellung hat mich immer fasziniert, auch der Zigeuner-Zyklus, den er gemalt hat. Darin zeigt er Menschen - und erklärt sich mit ihnen solidarisch - die während des Dritten Reiches in Ghettos gedrängt wurden, dort zu leben versuchten, wissend, das sie später ins Konzentrationslager kamen. Insofern war Pankok vorbildlich für mich, schon gar sein Credo ʹman darf sich nicht alles gefallen lassenʹ. Für ihn war das Christentum ein Antrieb zum Widerstand. Ich bin kein Christ, aber ich hatte immer großen Respekt davor. 

 
Bei dir ist das Dokumentarische immer mit der Idee des Bewahrens verbunden, mit dem Erinnern an etwas, das zu verschwinden droht.
Ja und nein. Ja: Ich habe nach dem Krieg eine Zeit erlebt, in der man als junger Mensch ohne Solidarität keine Chance gehabt hätte, körperlich oder auch gesellschaftlich zu überleben. Du brauchtest immer wieder die Hilfe von anderen, warst also vom anderen abhängig. So wuchs man aber zusammen. Meine Mutter malte damals Porträts von Besatzungssoldaten. Dafür erhielt sie kein Geld, aber Marmelade, Milch oder Butter. Diese Solidarität, die wir damals erfuhren und die uns überleben ließ, sie hat sich mir verinnerlicht. Und ich denke, solche Erfahrungen müssen weitertransportiert, weitergegeben werden. Mit meinen Filmen möchte ich dokumentieren, dass in der Vergangenheit Werte, Potentiale geborgen liegen, die uns helfen können, gesellschaftlich zu leben. Was aber nicht bedeutet, dass alles übernommen werden soll; das würde an Schwachsinn grenzen und wäre auch nicht dialektisch. Es geht darum, etwas zu bewahren und es zugleich aber auch weiterzuentwickeln.  
Dabei fällt mir gerade etwas ein, was wir gegenwärtig erleben müssen, nämlich, dass immer mehr öffentliches Eigentum privatisiert wird. Wenn die Gesellschaft aber immer mehr ihrer Aufgaben delegiert, ist das eine subtile Zerstörung von Gemeinschaft.

Das mit dem Bewahren gilt auch für deinen Film „Auf dem Weg zur gesellschaftlichen Wirklichkeit“, dem Portrait eines evangelischen Pfarrers. Wie bist du auf diesen Stoff gekommen?
Auch den Emil Menz habe ich persönlich kennen gelernt. Er wollte seine Mitchristen davon überzeugen, dass die Verantwortung des Christen für seine Mitmenschen immer Gültigkeit hat, egal welcher Religion ein solcher Mitmensch angehört. Ich war ja nun Marxist, aber zwischen uns gab es kaum Widersprüche. Ich wollte in dem Film herausarbeiten, wie er zu seiner radikalen Haltung gekommen ist.

Der Film fängt Erzählungen von Emil Menz ein, lässt den Betrachter im Wesentlichen lauschen. Waren lange Überlegungen vorausgegangen, wie man mit diesem Lebenslauf verfahren sollte?
Emil Menz war schon in seinem achten Jahrzehnt angekommen und fing an, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Davon wusste ich und teilte ihm dann mit: Aufschreiben ist nicht so glaubwürdig, als wenn du das alles erzählen würdest. Er ging tatsächlich darauf ein. Und bei einem solchen Mann, muss man die Geschichte nicht mit dramatischen Bildern illustrieren. Er hatte seine Biographie bereits schreibend geordnet und erzählte sie dann vor der Kamera, das heißt: er hatte die Regie eigentlich selbst in der Hand. Dazu gibt es das zu sehen, was diesen Menschen umgibt: Landschaften und Orte. Diese Dramaturgie stand vorher fest.
Ich will eine Situation herstellen, wo der Betrachter des Films die Person, die er betrachtet, als Diskussionspartner versteht und sein Hinschauen und Hinhören ein Teil des Dialoges ist. Es ist aber nicht allein entscheidend, was Emil Menz inhaltlich sagt, sondern auch, was sein Gesichtsausdruck erzählt. Meine Mutter war Porträtistin, von daher gab es bei mir ein Wissen darüber, dass jedes Gesicht eine ganz eigene Sprache spricht, dass jeder Mensch mit seinem Gesicht auch spielt, etwa, wenn er beabsichtigt, Trauer zu unterdrücken und dergleichen mehr. Die Dramaturgie, die ein Mensch entwickelt - beispielsweise ein Politiker, der ständig ʹich denkeʹ sagt, aber damit bloß bestimmte Wirkungen erzielen will - kann man und, wie ich denke, muss man lesen lernen. So entwickelt man ein gutes Gefühl für Lügen und lässt sich weniger vormachen.

Kannst du für dich das Dokumentarische und das Fiktive auseinander halten?
Da tue ich mich schwer. Für mich ist es so: ich gehe immer von meinem eigenen Erleben aus. Und manche Werke verdichten diese Erfahrungen, vielleicht verfremden sie diese aber auch dabei. Die Romane meines Vaters waren immer eine Verdichtung der Erfahrungen, die er mit anderen gemacht hat.
Wenn ich einen Dokumentarfilm mache, gebe ich dem Protagonisten immer die Freiheit der Gestaltung seiner eigenen Erzählung. Wenn ich Filme sehe, in denen die Menschen zu rein synthetischen Abstraktionen werden, gehe ich nicht mit. Beim Inszenieren von Spielhandlungen sind Robert Bresson und Jean-Marie Straub wichtige Vorbilder, vor allem aber Bertolt Brecht. Ihnen allen geht es darum, Geschichte zu zitieren. Zu jedem meiner Schauspieler in gespielten Filmen sagte ich, dass er nicht derjenige sei, den er da spielt, sondern dass er zitiert. Es geht darum, sich nicht mit dem Dargestellten zu identifizieren, sondern es zu kommentieren. Dadurch entsteht ja eine große dramaturgische Spannung.   

Du willst nicht definieren, was das Filmen ausmacht.
Ich will mal so sagen: Ich will andere Menschen erfahren, will, dass eine Kommunikation entsteht, die der Wahrheit Genüge tut. Meine Filme waren inhaltlich immer gut vorbereitet – bevor wir eine Aufnahme machten, sprachen wir immer lange mit den Leuten. Das ist die eigentliche Arbeit. Denn dadurch haben die Menschen für sich selber immer schon eine Form gewählt, wie sie etwas nach Außen tragen wollen.
Dies vielleicht noch: Peter Nestler und auch ich - wir sind keine Voyeure. Wenn ein Mensch die Seins- oder Ausdrucksweise eines anderen einmal erfasst hat, dann setzt er bestimmte Dinge in seinem Vorstellungsvermögen weiter fort, und zwar realistisch. Deswegen muss man nicht alles zeigen. Wir brauchen keine Inszenierungen von Gewalt oder Leid, sondern menschliche Dimensionen, Glaubwürdigkeit. Überraschungssituationen oder Voyeurismus kommen ja einer Wahrheit gar nicht nahe. Zwar hat man möglicherweise einen bestimmten Moment erfasst, aber noch lange nicht die Realität eines Menschen oder eines Themas.

Es gibt eine umstrittene Szene in Claude Lanzmanns Film „Shoah“. Der Regisseur spricht mit einem der wenigen Überlebenden aus einem Vernichtungslager der Nazis. Es ist aber viel mehr als ein Gespräch. Im Lager hatte dieser Überlebende als Friseur gearbeitet, alle, die in die Gaskammern gehen mussten, bekamen von ihm die Haare abgeschnitten. Lanzmann hat eine Harrschneidesituation nachgestellt, damit dem Mann das Erinnern leichter fällt, doch das ist so schrecklich, dass der Mann abbrechen möchte. Lanzmann drängt immer weiter, will die Erinnerung bergen. Du hingegen wärst als Dokumentarist nicht so weit gegangen.
Nein. Ich hätte auch die Szene nicht in den Film genommen. Weil Achtung vor dem Menschen doch darin besteht, ihn in dem zu achten, was er selber, aus freien Stücken, von sich erzählen will. Wie oft wird diese Grenze überschritten. Und wenn sie überschritten wird, will ich es nicht wissen. Persönlich wäre ich natürlich neugierig, aber …
Und ich habe es manchmal erlebt, dass einer eine Frage zwar nicht beantworten mag, aber ein halbes Jahr später wieder kommt und dann doch etwas über ein Thema sagt. Dann hat er es für sich geordnet. Manchmal passiert so etwas erst nach Jahren. Ich glaube auch, der Hörer kann in solchen Momenten viel mehr erfahren, als wenn da jemand nur einen bestimmten Augenblick zugestanden bekommt.

Deine Filme machen den Eindruck einer großen Einfachheit. Das ist etwas, was du suchst?
Das ist, was schwer zu machen ist. Die sogenannte Einfachheit besteht in nichts anderem, als darin, sich seiner Sache einigermaßen sicher zu sein. Du merkst nun an meinem Geschwätz, dass sich ab und an ein vielleicht komplizierter Gedanke einschleicht, aber ein Werk muss zugänglich sein. Die theoretische Auseinandersetzung ist mitunter kompliziert, der Film selber nicht.
Der Maler Otto Pankok war auch so. Er sagte: wir müssen den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Und das ist auch der Kernpunkt meiner Haltung.

Hat das auch etwas mit der Mentalität des Ruhrgebietes zu tun? Es gibt eine Bemerkung von dir, nach der die Leute in Kassenberg, dem Ort deiner Kindheit, eine Kunst dann nicht akzeptierten, wenn sie mit ihrem Alltag gar nichts mehr zu tun hatte.
Du musst begreifen, dass für Menschen, welche eine dem eigenen Leben doch sehr nahe stehende Kunst machen, Herkunft etwas überaus Wichtiges ist. Und meine Kassenberger lasen zwar nicht viel, aber ihre Erfahrungen und ihre Intellektualität, habe ich überaus geschätzt. Also wollte ich nie etwas machen, das ihnen nicht entspricht. Die Kassenberger müssen meine Filme nicht mögen, aber zumindest sollen sie mich verstehen. Es geht mir also darum, die Bereiche in denen man sich alltäglich bewegt, nicht zu übersteigen. Aber vielleicht ist das der Grund, warum meine Filme derart passé sind.
All das Gesagte ist auch der Grund, warum ich viele Filme, auch Reportagen, für Schrott halte, die in irgendetwas vermeintlich Großes hineinlangen wollen, die zuerst eine hehre intellektuelle Sichtweise über alles stülpen, wo man aber merkt, dass keine Erfahrungen dahinter stecken. Dagegen hilft technische Perfektion gar nichts, die ist oft lediglich Kaschieren von Dummheit und Leere.

Wie war dein Verhältnis zum WDR, für den du einige Filme hergestellt hast?
Die kamen eines Tages zu mir, und meine erste Anmerkung war, dass sie mich ja nicht nehmen müssen. Ab und zu gab es bezüglich eines Films auch mal Krach mit der Redaktion. Es gibt bei mir etwas, was kaum jemand versteht: wenn ich eine Arbeit fertiggestellt habe, dann interessiert mich die Verwertung eigentlich nicht mehr. Dass wir „Mülheim/Ruhr“ damals beim Oberhausener Festival einreichten, lag allein daran, dass Peter Nestler mich dazu überredet hat. 

1967 kam es wieder zu einer Zusammenarbeit mit Peter Nestler. Es entstand „Im Ruhrgebiet“. „Mülheim/Ruhr“ ist das Bild einer Stadt - war das nunmehrige Ziel, das Bild einer ganzen Region zu zeichnen?
Peter Nestler reiste damals immer aus München an. Bei manchen dieser Gelegenheiten stellte ich ihm Ruhrgebietler vor, mit denen ich bekannt war. Und so entstand die Idee, diese Menschen, welche ansonsten kaum ein öffentliches Sprachrohr hatten, in einem Film zu präsentieren. Menschen, die von Erfahrungen lebten, die sie im Ruhrgebiet gemacht hatten und die einen beträchtlichen Teil dieser Region repräsentierten. Wir haben also nicht wirklich gesucht, aber die Menschen schon nach dem ausgewählt, was unser Interesse an der Geschichte des Ruhrgebietes war.

Es wird vom Kampf gegen die Rechte in den 20er Jahren berichtet. Der Film ist eine Widerstandsgeschichte.
Kann man so sagen. Du musst einfach die Zeit sehen. Damals gab es in Deutschland einen massiven, regelrecht hysterischen Antikommunismus. Ich war nie Mitglied der DKP gewesen, aber jeder, der sich negativ zu Rüstungsfragen äußerte – und es waren auch viele entschiedene Christen Rüstungsgegner -, wurde öffentlich als Kommunist denunziert, egal, wo er wirklich stand. Durch diese Abstempelung entstand dann aber auch eine große Solidarität untereinander.

Der Film verdüstert sich zu seinem Ende hin, ist schließlich ganz und gar lichtlos. Wie kommt, ein Jahr vor 1968, dieser negative Ton zustande?
Ich sehe das eigentlich gar nicht so, der Film ist überhaupt nicht düster. Aber es war eine Zeit, in der die Stimmung wirklich kaputt war. Dem konnte man gar nicht ausweichen. In dem Film ist ja eine große Demonstration zu sehen, wobei es, glaube ich, um eine Zechenschließung ging. Und wir sahen es so, dass es einen gesellschaftlichen Aufbruch geben müsse. Sollte es den nicht geben, dann wäre jeder Pessimismus begründet. 1968 lag in der Luft, wir dachten alle, irgendwann platzt etwas. Peter Nestler und ich dachten aber zudem, bestimmte gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die es bereits in den 20ern, gegeben hatte und die zum Faschismus geführt haben, griffen nun wieder um sich; zwar nicht in der gleichen Form wie damals, aber sie sind nach wie vor existent.

Ihr habt den Film aus einer radikal antikapitalistischen, radikal linken Position heraus gemacht.
Er ist von Menschen gemacht, die dem Dialektischen Materialismus nahe standen, sich damit identifizierten. Mit dem Wort Kommunismus wurde, wie gesagt, stets bloß pauschalisiert. Und wie du weißt, gab es in der Geschichte der linken Bewegung immer wieder zerstörerische Fraktionskämpfe. Dass die Linke so wenig kooperationsfähig war oder ist, ist wahrscheinlich ihre größte Schwäche. All das betone ich, um deutlich zu machen, dass wir uns innerhalb dieses Feldes zwar als Marxisten verstanden, aber nie etwas mit irgendeinem Parteien- oder Fraktionsgeklüngel zu tun hatten.

Die von euch gefilmten Arbeiter, welche an den Kämpfen der 20er Jahre beteiligt waren, waren für euch Helden?
Nein! Das waren Menschen, die sich den Auseinandersetzungen ihrer Zeit gestellt haben. Und es waren ja auch welche darunter, die gebrochen worden sind, oder die mit einem ungeheuren Misstrauen aus diesen Jahren herauskamen. Wenn einer an der Tür klingelte, dachten sie sofort an den Geheimdienst, stieg die Angst vor dem Terror wieder hoch.

Klaus Wildenhahn sagt, diese alten Arbeiter seien ihm stets näher gewesen als die Studenten von 1968.
Wohl weil die Arbeiter etwas konkret machten - genau das macht auch etwa den Heinz Rabbich im Film „Im Ruhrgebiet“ glaubwürdig. Während die Studenten ihre Wirklichkeit oft nicht konkret, sondern in erster Linie theoretisch fassten. Und man weiß ja inzwischen, wie viele Opportunisten aus der Studentenbewegung hervorgegangen sind, Leute, die später das absolute Gegenteil von dem gemacht haben, was sie damals verkündeten.

Von all deinen Filmen empfinde ich „Ruhrort“ als den eigenwilligsten. Warum ist der nur sechs Minuten lang?
Ich fing an, den Film mit einem Bekannten zu machen. Er hieß Herbert und hatte viel übers Ruhrgebiet geschrieben - der Film sollte ein Portrait über Ruhrort (ein Stadtteil von Duisburg) werden. Wir hatten schon einiges recherchiert und gefilmt, aber eines Tages lag der Herbert tot in seinem Zimmer. Ich musste allein weitermachen, aber das ganze Projekt war doch sehr von seinem persönlichen Zugang zu Ruhrort geprägt. Ich habe es dann dabei belassen. Der Film ist jetzt eigentlich eine Hommage an unser gemeinsames Erlebnis und die Kürze möglicherweise seine Stärke.

Reinald Schnell - Ruhrort

Was würdest du sagen, wenn man Filme wie „Ruhrort“ als Heimatfilme bezeichnen würde?
Der Begriff Heimat ist eigentlich nichts Schlimmes, der Begriff Film erst recht nicht. Kein Problem also. Natürlich würde ich denjenigen, die die eigentlichen Heimatfilme immer kritisiert haben, recht geben. Möglicherweise bin ich ein alternativer Heimatfilmer.
Ich finde mein Leben im Ruhrgebiet total aufwühlend, habe keinerlei Sehnsucht etwa nach Amerika zu reisen. Manchmal werden mir die Ereignisse im alltäglichen Leben sogar zu viel. Aus der Kunstszene habe ich mich total zurückgezogen, mag viel lieber den Untergrund dessen, was das Leben eigentlich ausmacht: Essen, Trinken, Zusammenleben, den vertrauten Bereich, in dem mein Einfluss liegt. Die Weiterentwicklung des Ichs misst sich doch an dem, was den Alltag ausmacht. Es gibt aber natürlich auch Menschen, die immer rausbrechen; das kann ich verstehen, die schaffen auch tolle Sachen. Aber sie erschrecken mich manchmal, weil bei ihnen eine ständige, vielleicht zwanghafte Abwendung, ein sich Entfernen von den Dingen zu bemerken ist. Solch ein zwanghaftes Weiter kann auch sehr eindimensional sein.

Verändert sich das Filmen mit dem Altern?
Zu mir hat mal jemand gesagt: ʹDu entwickelst Dich ja gar nicht weiter.ʹ Meine Antwort war, dass ich schon bei meinem ersten Film entwickelt war. Wenn ich mich grundlegend verändert hätte, dann … aber ich habe mich nicht verändert. Das gilt ähnlich auch für Otto Pankok. Seine Malweise hatte er schon ganz früh ausgereift, aber es wäre eine immense Unverschämtheit, wenn man behauptet, er habe sich nicht mehr weiterentwickelt. Solches passiert in Nuancen, in Feinheiten. Worte wie Innovation, Entwicklung, die kommen alle aus einem Überbau, den ich nie gebraucht habe.

Reinald Schnell -Die Bank

Aber als es eben um das Politische ging, war deine Behauptung, wir veränderten uns ständig…
Wenn es eine ganz neue äußerliche Situation gäbe, würde ich natürlich auf diese reagieren. Aber mir geht es darum, einen eigenen Standort zu haben. Den musste ich bislang, substanziell, nie verlassen. Eine solche Aussage steht nicht in Widerspruch zu meinem dialektischen Denken. Wenn ich bei einem Thema massiv irre, und das ist nun wahrlich oft vorgekommen, gestehe ich das ein. So etwas findet aber im Rahmen einer Kontinuität statt.

In dem Film „Im Ruhrgebiet“ sind die Arbeiter Träger eines sozialeren Bewusstseins. Wie siehst du denn deren Entwicklung seit den 60ern?
All die Arbeitsplätze von damals, Bergwerke und Hochöfen, gibt es bekanntlich nicht mehr. Früher traf man sich täglich in der Kantine, besprach die Situation, brütete etwas aus, diskutierte nach der Arbeit in der Kneipe weiter. Das war oft der Kern einer Streikbewegung. Die Arbeitsplätze von heute liegen in sogenannten Kommunikationsbereichen, doch sitzen die Arbeitenden einzeln an Computern. Das ist ein gewaltiger technologischer Umbruch, viel größer noch als der in den 20er und 30er Jahren. Ich finde aber, dass der Begriff Klassengesellschaft nach wie vor seine Gültigkeit hat, bloß formiert sich in der heutigen Gesellschaft überhaupt kein gemeinsames Bewusstsein mehr. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wird aber doch weiter gestellt werden müssen: wie verstehe ich mich als Einzelner, etwa als Arzt, eigentlich gesellschaftlich? Eine Neufindung, eine neue Besinnung ist verlangt.
Ich empfinde die Stimmung heute übrigens als durchaus ähnlich wie in den frühen 60ern, derzeit deuten viele Zeichen darauf hin, dass die Menschen genug haben vom besinnungslosen Konsum, wieder mehr zu sich zurückfinden wollen. Aber durch die Globalisierung haben die Auseinandersetzungen um eine soziale Zukunft heute eine ganz andere Bedeutung als damals.  

Reinald Schnell in Jean-Marie Straub / Danièle Huillet - Klassenverhältnisse

Du spielst in Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs Kafkaverfilmung „Klassenverhältnisse“ den Heizer auf dem Schiff nach Amerika. War die Arbeit hart – die Straubs sind ja bekannt für ihre sehr eigene und intensive Arbeit mit den Schauspielern.
Es war in der Tat hart, denn ich kann Texte schlecht behalten. Aber eigentlich waren wir alle bei der Arbeit immer sehr streng, auch der Peter Nestler, über den ich Jean-Marie Straub kennengelernt habe. Man kann ja nicht im Kollektiv agieren und alle beteiligten Stimmen gleich gewichten. Was er methodisch wollte, musste mir Straub aber nicht erklären, das war mir schon vertraut. Mein Vater war am Deutschen Theater gewesen, Bertolt Brecht bekanntlich am Berliner Ensemble. Dazwischen gab es eine Kneipe, der Trichter, da wurde gesoffen, Brecht saß manchmal auch dabei; mein Vater und er diskutierten miteinander und ich schnappte manches auf.
Zurück zu den Dreharbeiten mit Straubs. Viel entscheidender bei ihnen war, dass wir abends immer zusammen saßen, Filme guckten, diskutierten, wie man das Kino erneuern könnte. Für einige Zeit war man eine verschworene Gemeinschaft.

Hast du eigentlich Kontakt zu jungen Leuten?
Ich habe mehr Kontakt zu jungen Leuten als zu älteren.

Als wir neulich telefonierten, meintest du, die Art wie junge Leute sich Dingen annähern, ließen dich manchmal verzweifeln.
Ja. Davon habe ich ja nur deswegen einen Eindruck, weil ich mit einigen Jungen manchmal arbeite. Heutzutage ist das Wettbewerbsdenken absolut dominant geworden und wird auch weithin akzeptiert. Diese Form des Sich-Messens und Vergleichens ist immer falsch, weil dadurch Kriterien entstehen, die mit der Kunst gar nichts zu tun haben. Dazu kommt, dass man, wenn Leute heute ihre Unzufriedenheit mit der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, ganz selten hört, was sie sich als Alternative vorstellen. Wobei die Unzufriedenheit zwar viel Unterstützung findet, aber unsere Gesellschaft nicht mehr in Frage gestellt wird, größere Zusammenhänge und andere gesellschaftliche Entwürfe kaum noch diskutiert werden – erst recht nicht auf Seiten der Politik.

Die Utopie der Unzufriedenen liegt bloß noch darin, sich an die Stelle der Erfolgreichen zu wünschen.
Es gibt keine Gesellschaft ohne Utopien, aber diese sind mittlerweile so ungeheuer reduziert, weil das Leben bei uns nur noch auf einen Wert hin organisiert ist: Erfolg. Aber ich kann das nicht generalisieren, es sind lediglich ein paar flüchtige Eindrücke aus Begegnungen. Und ich mache jungen Leuten nie etwas zum Vorwurf. Das Verhalten ist ja ein Ergebnis, kommt aus einer gesellschaftlichen Situation. Und ich denke, ich kann nur etwas korrigieren, indem ich von meinen eigenen Erfahrungen berichte und diskutiere.
Auf der anderen Seite, man muss ja nur die Geschehnisse um Stuttgart 21 herum betrachten, regt sich derzeit doch etwas. Früher gingen geschlossene und identifizierbare Gruppen wie die Kommunisten auf die Straße – heute kann man die Leute gar nicht mehr richtig zuordnen. Dennoch: es besteht eine große Unzufriedenheit, die emotional ist und nach Formen sucht.

In deinem Film „Ruhrort“ fällt die Bemerkung Mülheim sei früher eine Bürgerstadt gewesen, heute aber eine Proletenstadt. Gilt das auch in der Gegenwart noch?
Mülheim war mal eine Garnisonsstadt. Durch die Industrialisierung hatte das Proletariat mehr Einfluss in der Gesellschaft. Um 1890, in der Hochphase der industriellen Entwicklung, galt Mülheim als "Proletenstadt" überhaupt. Vorurteile hatten ihre Bilder. Dort prügelten die Leute sich und soffen wie die Ketzer. Wenn man nach Essen kam und sagte, man sei aus Mülheim, galt man als kriminell. Die Auseinandersetzungen, die es heute gibt, beispielsweise bezüglich der Integration unserer Freunde aus islamischen Ländern, sehe ich als eine Fortsetzung der 20er Jahre an. Heute gibt es natürlich andere Formen, aber inhaltlich kommt da vieles wieder. Das Ruhrgebiet hat ja einen ungeheuren Schatz an Erfahrungen, aber dieser wird politisch gar nicht genutzt - auch, weil da privatwirtschaftliche Interessen walten (was man länger ausführen und differenzieren müsste). Vor allem aber sind die Auseinandersetzungen hier von Ort zu Ort unterschiedlich, so dass man keine Pauschalantwort geben kann. Und das ist es, was das Ruhrgebiet auch lehrt, dass das mit der Pauschalantwort eben nicht geht.
Den Satz über die Proletenstadt habe ich in meinem Film untergebracht, um darauf hinzuweisen, dass es Wurzeln gibt und dass man diese beachten sollte.

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