Dokumentarfilminitiative
Eine Gruppe Bürostühle, teils noch in Plastik verpackt, steht in einer leeren Halle vor einer roten Wand. Die Stühle sind unregelmäßig angeordnet.
Symposium

BANDEN BILDEN.

Vermittlungsstrategien für den künstlerischen Dokumentarfilm

Rückschau

von Marcus Seibert

Das diesjährige Symposium der Dokumentarfilminitiative war unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie auch ein Experiment: Wie kommt man trotz Maskenpflicht, Abstandsregeln und fixer Sitzordnung ins Gespräch? Erlaubt waren nur 45 Teilnehmende, am zweiten Tag mussten das Publikum aufgrund eines Verdachtsfalls auf den Live-Stream verwiesen werden. Trotz dieser Einschränkungen war allen Anwesenden anzumerken, wie groß das Bedürfnis nach persönlichem Austausch zum Thema Filmbildung ist.

Der erste Tag

Die neue Rektorin der KHM, Kerstin Stutterheim, skizzierte in ihrem Videobeitrag: Dokumentarfilme werden hierzulande immer stark auf Themen reduziert. Eine Besonderheit sei die Verwendung des Begriffs „Dokumentation“ als Oberbegriff, der den dokumentarischen Film im Fernsehen auf die Nutzbarmachung von Information verkürzt. Verschärft habe sich die Situation in den letzten Jahrzehnten durch die Verpflichtung vieler Sender auf Themenfilme in linearkausale Formen nach dem Prinzip der Heldenreise, zu Lasten offener dramaturgischer Formen. Dabei zeige sich in der Entscheidung für eine Dramaturgie immer auch eine Haltung zur Gesellschaft.

Das Porträt zeigt eine Frau mit schulterlangem, braun-grauem Haar. Sie trägt ein rotes Shirt und eine schwarze Jacke, steht ruhig blickend vor einem hellen Fenster.
Kerstin Stutterheim

Manuel Zahn vom Kölner Lehrstuhl für Ästhetische Bildung wies in seinem Impulsvortrag darauf hin, dass der Begriff Bildung als nicht abschließbarer Reflexionsprozess auf die eigene kulturelle Umgebung nicht mit Lernen und Wissensvermittlung verwechselt werden sollte: Bildung entzieht sich Nützlichkeitsüberlegungen. Es geht um unser individuelles Verhalten zu Filmen, die uns wiederum bilden, weil wir sie ästhetisch rezipieren. Ein Widerspruch zum deutschen Sonderweg, wie ihn Kerstin Stutterheim, in ihrem Einführungsreferat skizzierte.

Filmbildung ist immer auch ein Fall der Filmvermittlung. Katja Lell, ebenfalls vom Lehrstuhl für Ästhetische Bildung der Uni Köln, beschäftigte sich in ihrem Impulsreferat mit deren Bedingungen, der Begegnung mit Film in besonderen Räumen, Kinos, auf Festivals, in Mediatheken, Schulen. Diesen Orten sind gesellschaftliche Machtverhältnisse eingeschrieben, eine neutrale Filmvermittlung gibt es also nie. Räume haben die Eigenheit, zwar Kommunikation zu ermöglichen, aber nicht unbedingt über die Raumgrenzen hinweg. Und so interpretierte sie das Motto „Banden Bilden“ klar als Aufruf zur Vernetzung der je einzelnen Initiativen.

Ein Mann mit dunklen Haaren und Bart spricht an einem Rednerpult mit Mikrofon. Er trägt eine schwarze Jacke und ein dunkles Hemd, im Hintergrund eine schwarze Wand.
Manuel Zahn
Eine Frau mit schulterlangen braunen Haaren spricht in ein Mikrofon. Sie trägt eine schwarze Fleecejacke und blickt konzentriert in eine Richtung.
Katja Lell

Vera Schöpfer vom Kölner Filmhaus betonte, dass die prägende Beschäftigung mit Film immer Filmesehen beinhaltet, aber auch Selbermachen, die Reflektion darüber, dass Bilder immer „gemacht“ sind, wie die Montage auch dokumentarisches Material manipuliert. Aber wie viele Kinder und Jugendliche erreicht die Filmvermittlung? „Was würde es ändern, wenn jedes Kind einmal im Quartal einen Dokumentarfilm sehen und einmal im Jahr an einer praktischen Filmübung teilnehmen würde?“ Das kurze Schweigen auf diese Frage zeigte: Daran ist derzeit nicht zu denken. Film gilt den kultur- und bildungspolitischen Stellen in Deutschland (noch) nicht als Teil des kulturellen Erbes.

Eine Frau mit langen roten Haaren spricht lächelnd an einem Rednerpult mit „Banden Bilden“-Plakat. Im Vordergrund sitzt das Publikum und hört aufmerksam zu.
Vera Schöpfer

Videobeitrag von Can Sungu und Malve Lippmann (bi’bak, Berlin) + Q&A mit Malve Lippmann

Einen Eindruck, wie unterschiedlich zeitgemäße Arbeitsweisen unter einem weit gefassten Begriff der Filmbildung gestaltet werden können, gaben die folgenden Projektbeispiele des „Bandenbildens“. Malve Lippmann und Can Sungu betreiben das bi'bak-Kino, ursprünglich als filmaktives Ladenlokal im Berliner Wedding gegründet und ausdrücklich an transnationalen Narrativen interessiert. bi'bak sieht sich als „Filmprojekt für eine postmigrantische Gesellschaft“.

Eine Frau spricht an einem Rednerpult, während eine Person per Videokonferenz auf einer großen Leinwand zugeschaltet ist. Das Publikum sitzt Abstand haltend auf roten Stühlen.
Malve Lippmann

Videobeitrag und Q&A Katharina Swoboda (Golden Pixel Cooperative)

Katharina Swoboda stellte die Golden Pixel Cooperative vor, die in Österreich mit „künstlerischen Dokumentarismen im ländlichen Raum“ experimentiert und Handys zu Bildschirmen zusammenschließt oder in Filmen den Datenströmen selbst nachspürt.

Eine Frau spricht an einem Rednerpult mit Mikrofon, während zwei Personen per Videokonferenz auf einer großen Leinwand zugeschaltet sind.
Katharina Swoboda

Betty Schiel in Zusammenarbeit mit Lisa Domin

Lisa Domin und Betty Schiel haben einen Filmclub im Frauengefängnis initiiert, wo Inhaftierte selbst Filme präsentieren.

Zwei Frauen sitzen auf einer Bühne in schwarzen Sesseln und führen ein Gespräch mit Mikrofonen. Ein kleiner Tisch mit Wasserflaschen steht zwischen ihnen.
Betty Schiel und Lisa Domin

mit Marvin Hesse, Anna-Maria Schneider (Land in Sicht, FIlmhaus Bielefeld) und Cristina Diz Muñoz (Le cinéma, cent ans de jeunesse, DFF, Frankfurt)

Anna-Maria Schneider und Marvin Hesse von der Initiative „Land in Sicht“ drehen mit ihren Bielefelder Kursteilnehmern Filme auf dem Land.

Christina Diz Muñoz sprach über ihren Einstieg in „Le cinéma, cent ans de jeunesse“ (CCAJ), ein Projekt der Cinématheque Française, das vom DFF Frankfurt auf Initiative von Christine Kopf durchgeführt wird. Wichtig ist für Diz, die eigene Haltung und Begeisterung für den Film zu vermitteln und sich die eigenen Sehgewohnheiten bewusst zu machen.

Vier Personen sitzen auf einer Bühne in Sesseln und diskutieren. Eine Frau spricht in ein Mikrofon, während die anderen aufmerksam zuhören.
Judith Funke, Marvin Hesse, Anna-Maria Schneider und Cristina Diz Muñoz

mit Betty Schiel & Lisa Domin

Betty Schiel und Lisa Domin berichten von ihren Erfahrungen in Projekten wie Labsa und Kultur@Gefängnis.

Zwei Frauen sitzen auf der Bühnenkante und sprechen in Mikrofone. Eine trägt grüne Hosen, die andere sitzt im Schneidersitz. Im Hintergrund Stühle und ein Plakat.
Betty Schiel und Lisa Domin

Der Fokus NRW beschäftigte sich mit der Bündelung und der politischen Agenda zum Thema Filmbildung in NRW. Versuche der Koordination der vielen einzelnen Initiativen gibt es zwar schon im Kulturrat NRW oder im Netzwerk Filmkultur NRW, dem Zusammenschluss verschiedener Werkstätten, Festivals und Initiativen. Am Anfang aller Bemühungen müsste aber eine Art „Organigramm“ für die relevanten Institutionen in NRW stehen. Das gibt es bislang nicht.
Ein generelles Hindernis aller Filmbildungsbemühungen ist, dass Film in der deutschen Kulturpolitik nicht als Kunst angesehen wird, anders als beispielsweise in Frankreich oder den Niederlanden. Filmförderung ist explizit Wirtschaftsförderung. Selbst im Kulturrat und in den Parteien sind Film und Filmbildung unterrepräsentiert. Es fehlen aber auch Strukturen, die Personal für qualitative Filmbildung bereitstellen. Die dem Akademiesystem verpflichtete Ausbildung von Filmemacherinnen ist explizit keine pädagogische Ausbildung. Denkbar sind Ausbildungsgänge zur Filmvermittlerin mit Diplom als dreiwöchiger Lehrgang beispielsweise in Filmhäusern oder an der Kölner ifs. Hier erwies sich auch ein Blick über den NRW-Tellerrand als sinnvoll: es gibt sowohl in Berlin als auch in Bayern und Niedersachsen solche Ausbildungsgänge. Wie es Petra Schmitz, die ehemalige Leiterin der dfi, formulierte: die Phase der Diskussion, der Klärung und der Selbstbehauptung ist noch nicht vorbei. Sie zu überwinden müsste mittelfristig erreicht werden.

Ein Bildschirm mit dem Plakat „Banden Bilden“ hängt zwischen zwei großen Fenstern. Draußen gehen mehrere Personen vorbei, Autos und Fahrräder sind zu sehen.

Der zweite Tag

Eine Gruppe von Menschen steht und sitzt draußen unter einem Dach im Kreis, einige tragen Masken. In  der Glasscheibe im Vordergrund spiegelt sich eine Kirche und ein Auto.

mit Stefanie Schlüter (Filmvermittlerin, Berlin), Gudrun Sommer (doxs! / Duisburger Filmwoche), Sebastian Markt (Berlinale Generation). Moderation: Bettina Braun

Der zweite Symposiums-Tag begann mit einer Bestandsaufnahme zur Dokumentarfilmvermittlung für Kinder. Die Kölner Filmemacherin Bettina Braun moderierte die Gesprächsrunde mit Gudrun Sommer, der Leiterin der Duisburger Filmwoche / doxs!, und Sebastian Markt, Festivalprogrammer der Berlinale Generation.
Stefanie Schlüter vom Living Archive des Kino Arsenal in Berlin war online zugeschaltet. Sie konfrontiert die Kinder ihrer Kurse bewusst mit künstlerischen Dokumentarfilmen wie Farockis „Einschlafgeschichten“, die heutige Sehgewohnheiten unterlaufen. Aisthesis meint Wahrnehmung und sich beim Zuschauen zuzuschauen ist Teil des Prozesses, das Staunen, die Reibung mit fremder Ästhetik.
Auch Sebastian Markt hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder auf die Darstellung alltäglicher Vorgänge im Film irritiert reagieren, dass jede Reibung aber als positive Erfahrung mit nach Hause genommen wird.
Gudrun Sommer wies darauf hin, was man im Programm ihres Festivals des Kinderdokumentarfilms eher nicht sehen kann, weil die entsprechenden Filme nicht angeboten werden. Es gibt eine klare Dominanz niederländischer und skandinavischer Filme, dagegen fehlen oftmals ganze Kontinente wie Afrika, Südamerika oder Asien. Kinderprotagonisten sind zentral, zu beobachten ist zunehmend eine Fiktionalisierung der Geschichten, aber auch die pädagogische Aufbereitung der Lebensverhältnisse in fremden Ländern. Auch Sommer beobachtet eine Zunahme an Heldenreisen im Kinderdokumentarfilm. Experimentalfilme sind eher selten, Themenfilme vorherrschend, dabei kann man „Kindern formal viel zumuten.“ Das Seltsame ist per se attraktiv, da muss man niemanden „abholen“. Kinder sind wahrnehmungsoffen.
Das bestätigt auch Stefanie Schlüter. Auch wenn sich die Wahrnehmung mit der 4., 5. Klasse verändert, bleiben Kinder grundsätzlich mit ungewöhnlichen Formen erreichbar. Es hilft oft, sich aus der Diskussion nach einleitenden Fragen wie „Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gehört?“ zurückzuziehen und Bühne und Mikrofon Kindern zu überlassen.
Das Kino bleibt dabei ein zentraler, aber nicht der ausschließliche Ort der Filmvermittlung. Für die meisten jüngeren Zuschauer*innen ist die Interaktion, die „Kontaktarbeit“, ob im Kino oder in schulischen Workshops am wichtigsten und für erfolgreiche Filmvermittlung des künstlerischen Dokumentarfilms zentral, zumal man im Kino nicht „wegschalten“ kann, auch schwierigen Themen und negativen Gefühlen ausgesetzt bleibt.

Drei Personen sitzen auf einer Bühne und diskutieren. Auf einer großen Leinwand ist eine Videokonferenz mit einer zugeschalteten Person zu sehen.
Stefanie Schlüter, Sebastian Markt, Gudrun Sommer, Bettina Braun

mit Maya Reichert (Dok.Education, Dok.Fest München), Jens Geiger (freier Kurator, Hamburg), Jochen Hick (docfilm42). Moderation: Sandra Trostel

Im von der Filmemacherin Sandra Trostel moderierten Panel zu neuen Online-Formaten der Filmvermittlung berichtete Maya Reichert von DOK.education München allerdings von guten Erfahrungen mit der Corona-bedingt dieses Jahr online durchgeführten Veranstaltung: Online erreicht man Schulen auf dem Land, deren Schüler:innen sonst nicht nach München reisen. Es war möglich, Leute miteinander ins Gespräch zu bringen, die sich sonst nie begegnen würden.
Jens Geiger vom Hauptverband Cinephilie stellte „Cinemalovers“ vor, ein Konzept für kuratierte digitale Kinosäle, mit denen Kinos ihr reguläres Programm online erweitern können. Eine auf Dokumentarfilme spezialisierte Plattform präsentierte Jochen Hick: docfilm42 hostet den Auftritt von Produktionen, sammelt aber weder selbst Lizenzen, noch wird an den Downloads anteilig verdient. Eine Art Selbsthilfeplattform der Filmemacher*innen, die Premieren neuer Filme immer mit einem Kinoevent zelebriert.

Vier Personen sitzen auf einer Bühne und führen eine Diskussion. Eine Person hält ein Mikrofon. Ein Tisch mit Laptop steht in der Mitte und rechts ein Rednerpult.
Jochen Hick Maya Reichert, Jens Geiger, Sandra Trostel

In der abschließenden Runde, die im Nachgang der Veranstaltung als Zoomkonferenz stattfand, stellte Manuel Zahn auch die Frage nach dem, was in den zwei Tagen eher nicht thematisiert worden ist.
Das war vor allem die Qualität und Qualitätssicherung der Filmvermittlung. Die wird da gesehen, wo Vermittler:innen ihre ästhetischen, sozialen und machtpolitischen Standpunkte reflektieren und bei möglichst flacher Hierarchie eher eine Anleitung zur Selbstweiterbildung geben, sich also selbst möglichst überflüssig machen, wie das verschiedene Referent:innen indirekt formuliert haben. Vermeintlich „schwierige“ künstlerische Dokumentarfilme, die in ihrer Form die Sehgewohnheiten des Publikums herausfordern, sind besonders geeignet, um über grundlegende Fragen der filmischen Darstellung ins Gespräch zu kommen. Hierfür ist allerdings eine gewisser zeitlicher Umfang der Filmvermittlungsarbeit erforderlich, was wiederum Kontinuität der Institutionen und Programme bedeutet und damit eine fortlaufende Finanzierung.
Essentiell für die Filmvermittlung sind feste Orte der Begegnung, vorwiegend Kinos, kuratierte Programme in Anwesenheit der Filmemacher*innen, aber auch Experimentierflächen, in denen Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene selbst Filme machen oder Programme gestalten können.
Um Filmbildung institutionell und kulturpolitisch gezielt voranzubringen, wurde vereinbart, die am Tisch versammelten Fachleute regelmäßig zusammenzurufen und sowohl kurzfristige Ziele zu vereinbaren als auch Ideen zu bündeln und weiterreichende Visionen zu formulieren. Parteien, Lobbygruppen, Verbandszusammenschlüsse müssen dafür genutzt werden, den Ideen und Forderungen Nachdruck zu verleihen. Carolin Weidner formulierte als Wunsch, dass das Bandenbilden, die zunehmende Vernetzung Teil „von vielerlei Leben“ werde. Das bleibt zu wünschen, auch wenn dafür noch viel zu tun ist.

Ein Monitor zeigt verschiedene Kameraeinstellungen einer Veranstaltung. Mehrere Personen sind in den Bildausschnitten zu sehen, darunter eine Frau mit Mikrofon.