Dokumentarfilminitiative
Symposium

Wirklichkeitsspiele.

Ein Symposium zum Einzug des Fiktionalen in den Dokumentarfilm.

3. Dezember 2009, Filmforum NRW, Köln

Gespräche und Panels

PDF Gespräch Dietrich Leder mit Egon Netenjakob

Dietrich Leder: Herr Netenjakob, wie wurden Sie Fernsehkritiker?

Egon Netenjakob: Es war 1963. Ich war 27 Jahre alt und kam mit meiner theaterwissenschaftlichen Dissertation nicht zurande. Meine Kollegen, promovierte Leute, die inzwischen Werbefernsehen betrieben, erzählten mir, dass das katholische Rundfunkinstitut – für die »Funkkorespondenz« – händeringend jemanden sucht. Religiös war ich nicht weiter aufgefallen, aber ich hatte einen katholischen Taufschein, der war damals nötig. Ich bin herzklopfend hingegangen.
Anderthalb Jahre vorher, am 13. August 1961, war die Mauer gebaut worden, Bertolt Brecht war diffamiert. Beim Vorstellungsgespräch stotterte ich unter meinem Schnurrbart: Ich finde, Bertolt Brecht ist einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller. Ich dachte, das erledigt sich dann von alleine. Meinspäterer Chef, ein Franziskanermönch, den ich sehr respektiert habe, strahlte mich aber an. Ich bekam 950 Mark auf die Hand und ein Schwarz-Weiß-Dienstfernsehgerät. Ich war fünf Jahre dort. Heute begreife ich, dass die gar nicht über mich so begeistert waren, sondern jemand brauchten, weil zwei Monate später das Zweite Deutsche Fernsehen mit dem Programm anfing.

Leder: Es ist bezeichnend für die Reflexion über ein Massenmedium in Deutschland, dass die Publikationen, die das Programm kritisch sichten, von den Kirchen initiiert und finanziert werden. Das sind epd Medien, epd Film, der Filmdienst und die Funkkorespondenz.

Netenjakob: Die Kirchen waren aufgeschreckt: Was passiert mit unseren Leuten, wenn plötzlich solch ein neues Medium in die Wohnzimmer, in die Schlafzimmer unserer Kundschaft eindringt? Meine erste Aufgabe war, ein Abendprogramm vollständig zu sehen und Berichtzettel zu schreiben.

Leder: Welche dokumentarischen Sendungen sind Ihnen aufgefallen?

Netenjakob: Georg Stefan Troller machte das »Pariser Journal«, das damals unregelmäßig im Fernsehen erschien. Er zeigte dem deutschen Publikum Menschen aus Paris, die es so in der deutschen Gegenwart überhaupt nicht gab. Ich hatte jedes Mal, wenn ich ein Kurzporträt von Troller sah, das Gefühl, ich verpasse mein Leben. Ich habe später mit einem Rieseninteresse »Wohin und zurück« von ihm gesehen. Da habe ich zum ersten Mal begriffen, was es heißt, Emigrant zu sein.

Leder: Georg Stefan Troller, österreichischer Jude, floh vor den Nazis und kehrte als Soldat der US Armee zurück. Für den WDR produzierte er das »Pariser Journal« bis Ende der sechziger Jahre. Danach ging er zum ZDF und produzierte dort seine Porträts. Das »Pariser Journal« war für die sechziger Jahre sehr modern. Die hohe Schnittfrequenz war von der nervösen Neugier Trollers bestimmt, diktiert von seiner Sprache und Kommentarsätzen, die überhaupt nicht dem Fernsehstandard entsprachen und heute wahrscheinlich als nicht sendetauglich abqualifiziert würden.
Troller hat über seine Emigration und vor allem über seine Rückkehr als Soldat die Autobiografie »Wohin und zurück« geschrieben, als Dreiteiler inszeniert von Axel Corti, der ein Fernsehereignis der achtziger Jahre war. Mit Corti, einem der großen Regisseure fürs österreichische und deutsche Fernsehen, kommen wir zum Fiktionalen.
Wie haben Sie den Beginn des Fernsehfilms wahrgenommen, also den Wechsel vom klassischen Fernsehspiel, das in Live-Form meistens theatralische Studioproduktionen zeigte, hin zu einem stärker filmischen Verfahren?

Netenjakob: In der ersten Zeit war das Fernsehspiel für mich das Wichtigste. Da gab es vor allem einen Mann, Egon Monk. Monk war ein sehr klar denkender und analysierender Arbeitersohn aus Berlin-Wedding. Er war zu Bertolt Brecht gegangen und der ließ ihn gleich machen. Das Wichtige für die Entwicklung des deutschen Fernsehspiels ist, dass Monk das von seinem großen Vorbild übernommen hat. Wenn Monk den Eindruck hatte, dass man etwas kann, dann ließ er einen machen, verschaffte einem Gelegenheiten.

Leder: Monk war als junger Mann bei Brecht tätig. Er machte dann »rüber«. Er konnte im Westen als Brecht-Schüler im Theater nicht reüssieren und überwinterte wie viele der kulturellen Intelligenz, die nicht erfolgreich waren, beim Fernsehen. Ab 1960 war er Fernsehspielchef beim NDR. An welche Filme von Monk erinnern Sie sich, die bedeutsam sind?

Netenjakob: Bemerkenswerterweise fing er plötzlich an, die Bundesrepublik mit Filmen wie »Schlachtvieh« von Christian Geissler zu kritisieren. Besonders bewegend war sein Film »Ein Tag«. Gunter R. Lys gehörte zum Team. Der hatte das Konzentrationslager am eigenen Leibe erfahren. Monk hatte ihn investigativ ausgefragt nach den kleinsten Einzelheiten eines Tages. Daraufhin schilderte er einen ‚ganz normalen Tag’ in einem Konzentrationslager. Eberhard Fechner spielte übrigens mit.

Leder: Monks Anspruch war ein enormer Realismus. Er trennte nicht zwischen fiktionalen und dokumentarischen Projekten. Bei ihm hat Fechner sowohl fiktional als auch dokumentarisch gearbeitet. Monk hat später auch die ersten Arbeiten von Klaus Wildenhahn unterstützt. Das Fiktionale musste immer auf genauer Kenntnis basieren. Wann begann in Köln eine eigenständige Fernsehspielarbeit?

Netenjakob: Köln war in der ersten Zeit nicht so aufregend. Die Kölner hatten Millowitsch, den brachten sie ab 1953 auch eifrig. Dann kam der ehrgeizige Günter Rohrbach zum WDR nach Köln. Der engagierte eine Reihe von Dramaturgen, wie Joachim von Mengershausen, Volker Canaris, Martin Wiebel oder Wolf-Dietrich Brückner. Es ergab sich insgesamt – ich habe auch von etlichen internen Konflikten gehört – eine wunderbare Zusammenarbeit dieser Redaktion.
Der so genannte Neue Deutsche Film brachte kaum etwas zustande. Das Kino war tot, nachdem alle in der Nazizeit emigriert waren. Dann kam eine neue Generation von Filmemachern mit Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders oder Edgar Reitz. Das war der Anfang einer Arbeit, die international wahrgenommen wurde, als Fernsehen Avantgarde war.

Leder: In Rohrbachs Redaktionsgruppe kam eine Vielfalt an fiktionalen Produktionen zustande. Und es gab einen Teil, der auf genau recherchierten Geschichten basierte, wie »Heimat« von Reitz. Er hatte eine genaue Kenntnis der historischen Vorgänge, des Dialekts, der Veränderungen der Dorfstruktur.
Und es gab natürlich das, was man heute eskapistisch nennt. Das ZDF galt am Anfang als der Unterhaltungsdampfer des deutschen Fernsehens. Zur Eigenständigkeit im fiktionalen Bereich kam es Anfang der 70er Jahre mit Heinz Ungureit, der von der ARD-Filmredaktion zum ZDF geholt wurde, und mit Eckhart Stein, der »Das kleine Fernsehspiel« zu dem machte, was es heute ist: autorenschaftlicher Film für Dokumentarisches und Fiktionales.
Das Dokumentarspiel hatte eine eigene Hauptabteilung im ZDF. Diese Abteilung, unter Leitung von Heinrich Hammerstein, hat in der Regel historische Momente nachgestellt, beispielsweise die Reichsgründung 1870/71, wobei historisch relativ ordentlich gearbeitet und das Ganze in theatraler Form verbildlicht wurde. Diese Methode war bis Ende der 60er Jahre präsent.
Ein Autorendokumentarfilm, der für die 60er Jahre repräsentativ ist, ist »Tag eines unselbständigen Hafenarbeiters« von Hubert Fichte und Leonore Mau. Hubert Fichte fiel Mitte der 60er Jahre auf mit Romanen wie »Das Waisenhaus«, »Die Palette«, »Detlevs Imitationen – Grünspan« oder »Versuch über die Pubertät«. Er hat sie nach sehr genauen Recherchen geschrieben. Fichtes Verwandlung von Rechercheergebnissen in poetische Form ist das, was auch den Film auszeichnet: auf der einen Seite die genaue Erkundung der spezifischen Wirklichkeit eines Hafenarbeiters, auf der anderen deren lyrische Komprimierung.

Netenjakob: Der Film leistet das, wofür Dokumentarfilm sehr wichtig ist. Der Schriftsteller hat genaue, fast beiläufige Sätze, um eine unbekannte Wirklichkeit zu beschreiben. Dann gibt es noch einmal oben drauf Fotos, die das belegen und die Fantasie des Zuhörers zusätzlich in Gang setzen. Dokumentarfilm verbindet uns mit Teilen unserer Gesellschaft, die wir nicht kennen. Es gibt ganze Schichten, die wir dringend in einer Weise kennenlernen müssten, die uns emotional bewegt. Damit wir sie verstehen. An Klaus Wildenhahn bin ich gekommen, weil ich »In der Fremde« gesehen hatte. In dem Film tritt ein Polier auf, wie ich es für unmöglich gehalten hatte. Weil ich früher in den Ferien auf dem Bau gearbeitet hatte, kannte ich diese Poliere. Sie sind nicht »stubenrein« und behaupten sich in der Hierarchie, damit der Bau vorangeht. Der Polier sagte: »Na Jungens, schwer Weiber gevögelt übers Wochenende?!« oder »Jetzt mach mal voran, du frierst. Ich tret’ dich in den Arsch.«

Leder: »In der Fremde« von Klaus Wildenhahn beschreibt mit einer Synchronkamera – Originaltöne mit sparsamem Kommentar – den Bau eines Getreidesilos im norddeutschen Raum an einer Bahnstrecke. Quasi mit der Kamera ist der Zuschauer über einen Zeitrum von mehreren Monaten dabei. Die Arbeitsvorgänge werden genauso exakt rekonstruiert wie die Arbeit im Hafen. Gleichzeitig tauchen wir ein in die Lebenswelt der Arbeiter.
Fichtes Film ist im WDR entstanden, in der damals noch großen Literaturredaktion. Zu ihr gehörten Koryphäen der Literaturwissenschaften und Literaturkritik. Im WDR gab es viele Fachredaktionen: die Filmredaktion von Wilfried Reichart und Werner Dütsch, die Literaturredaktion mit Christhard Burgmann. Knut Fischer war Redakteur für Architektur, Wiebke von Bonin Redakteurin für bildende Kunst. Spezialisten in ihren Fächern, die dokumentarische Arbeiten in Auftrag gaben. Sie sind alle weg. Es gibt vielleicht Reste noch in der Geschichtsredaktion, das ist so ein kleines Biotop.
Der Film von Hubert Fichte lief im Dritten Programm, die Filme von Klaus Wildenhahn liefen auch im Ersten Programm, wie man heute sagt, Primetime. Wie würden Sie Wildenhahns Arbeit beschreiben? Sie waren bei Dreharbeiten dabei.

Netenjakob: Ich bin damals sozusagen der Methode des Direct Cinema unmittelbar begegnet. Das war bei einem Milchbauern bei Flensburg, der Film hieß »Die Liebe zum Land«. Wir waren zu dritt: der Kameramann, Klaus, der den Ton machte, und ich als Beobachter. Wir standen um halb fünf auf, dann ging’s in den Kuhstall. Die Kamera war drehbereit, aber es passierte nichts. Sie drehten nicht. Und nach einer wirklich endlos erscheinenden Zeit – ich weiß nicht, wie lang der Melkvorgang von 98 Kühen dauert – fingen sie plötzlich an zu drehen. Es wurde aber keine Interviewfrage gestellt. Keine Minute später fing der Bauer an zu reden. Klaus sagte später »Er singt sein Lied. Es ist wie Jazz.« Klaus hat immer Arbeit beobachtet. So ging er auch zum VW-Werk nach Emden. Da durfte man auch nicht ohne Weiteres drehen, sogar in den Büros des Betriebsrats nicht. Er hat sich aber nicht abschütteln lassen. Am Ende stand der Adolf-Grimme-Preis in Gold. Adolf Grimme war ja jemand, der die Hoffnung gehabt hatte, dass dieses neue Medium zu dem wird, was in der Antike die griechische Agora war. Man war naiv, das war ja alles neu. Damals war »Hamlet« noch ein Erfolg mit einer Quote von 70 Prozent.

Leder: Am Anfang gab es auch noch fest angestellte Regisseure beim Fernsehen. Danach kam es zum Redakteursfernsehen, allerdings mit Redakteuren, die in hohem Maße Fachkompetenz hatten. Lassen Sie uns auf Eberhard Fechner zu sprechen kommen. Er hatte bei Monk mit realistischen Fernsehspielen angefangen. Er hatte eine Leidenschaft für das populär Fiktionale. Denken wir an die Verfilmung der Kempowski-Romane, die auf sehr genauen Recherchen fußen.

Netenjakob: Eberhard Fechner hatte für den Film die ganze Zettelkiste von Kempowski durchwühlt. Es war sehr schön diese Filme zu sehen, weil er auch etwas vom Schauspielern verstand. Als Dokumentarfilmer kann man ihn überhaupt nicht mit Klaus vergleichen. Fechner hatte im Piccolo Teatro Strehler in Mailand hospitiert, um anschließend – er war ein sehr erfolgreicher Schauspieler – als Regisseur anzutreten, das deutsche Theater zu verändern, scheiterte aber in der Provinz. Dann spielte er bei »Ein Tag« mit und fasste die Idee, selbst Filme zu machen.

Leder: Fechners Filme liefen zunächst im Hauptabendprogramm, die späteren wurden eher an den Rand gedrängt, wie »Der Prozess« über den Majdanek-Prozess. Fechner hatte über die Verhältnisse in den Lagern und die Taten der Angeklagten mehr herausbekommen, als das Verfahren selbst erbrachte. Der Richter sagte, ‚wenn er den Film gesehen hätte, wäre das Urteil anders ausgefallen.’

Netenjakob: Er, der Schauspieler, war ein genialer Interviewer. Jannet Gefken-Fechner, Fechners Frau und Regieassistentin, war baff, weil er mit derselben Leichtigkeit und Freundlichkeit wie immer z. B. mit einem KZ-Wächter oder der »Blutigen Brigida« sprach. Er brachte sie so zum Reden.

Leder: Die Filme von Klaus Wildenhahn und Eberhard Fechner sollen nicht als Beispiele allein seligmachender, dokumentarischer Methoden gelten. Man sollte vielmehr darauf beharren, dass ein Format von solcher Intensität und Konzentration wieder ins Fernsehen kommt.

Netenjakob: Fechners »Comedian Harmonists« ist ein Geschichtsunterricht, der unglaublich viel mehr bringt, als Universitätsvorträge auf dem aktuellen Forschungsstand.

PDF Panel I

Fritz Wolf: Frau Seeger, »Auf der Suche nach dem Gedächtnis« ist ein Film über den Wissenschaftler Eric Kandel. Wissenschaft heißt im Fernsehen heute 3D-Animation, großer technischer Einsatz beim Nachinszenieren. Wie halten Sie es mit dem Inszenieren?

Petra Seeger: Ich wollte sichtbar machen, was es heißt, sich zu erinnern. Der Ansatz war experimentell, subjektiv. Ich hatte davor ein Drehbuch über meine Jugendzeit geschrieben, in dem ich mich genau damit auseinandergesetzt habe. Dabei fiel mir auf, dass ich irgendeine Ecke oder einen Baumstamm im Kopf hatte, wo ich gespielt habe, aber keine inszenierten, klaren Bilder. Ursprünglich hatte ich vor, in Kandels Bezirk in Wien wie ein Kind auf Spurensuche zu gehen. Während des Drehs änderte sich das durch die Beziehung, die Eric Kandel und ich in den gut drei Jahren entwickelt haben. Der Film ist dann im Sinne von ‚Ich will dir was zeigen’ entstanden. Ich habe mit diesen Impulsen gearbeitet. Die Spielfilmszenen habe ich erst gedreht, als ich schon geschnitten hatte. Alles entstand aus dem Prozess.

Wolf: Warum braucht man Spielszenen?

Seeger: Ich weiß nicht, ob man sie braucht. Ich mache, was ich möchte, wenn ich einen Film drehe. Die Szene mit dem blauen Spielzeugauto, z. B., ist eine Urszene, über die Kandel auch in seinem Buch schreibt: das blaue Auto, das zum Symbol wird. Deswegen ist sie auch durchgehend gestaltet. Für mich war es wichtig, so zu arbeiten, weil er mir gesagt hatte, diesen Film zu machen, sei für ihn, wie Psychoanalyse zu betreiben. Psychoanalyse bedeutet ja, dass man die Vergangenheit in den Vordergrund holt und sich immer mehr Bilder zwischen aktuelle Dinge schieben. Es gab immer wieder Momente, in denen er abtauchte. Psychisch beanspruchten die Dreharbeiten seine ganze Energie. Manchmal fiel er da wirklich rein – er ist sonst immer klar und aktiv. Mir war klar, dass ich das zeigen will. Als wir im Schnitt waren, tauchte er einmal ab und sagte »I don’t want to have anybody else but me in my film«. Ich sagte »Trust me«. Er hat mir vertraut. Das sind natürlich nicht Kandels Bilder. Bei der Premiere in Frankfurt fragte jemand: »Hat Eric Kandel das eigentlich autorisiert?« Ich fand es irre, dass mein Dokumentarfilm nicht als konstruierte Wirklichkeit wahrgenommen wird. Dass ich mit meinen Bildern komme, musste er aushalten. Er war aber auch dagegen, den Film von ihm autorisieren zu lassen. Es ist sein Leben, aber mein Film. Das ist ein seltsamer Widerspruch. Die Grenze zu bestimmen ist sehr schwierig. Es war eine Gratwanderung, eine Annäherung.

Wolf: Frau Schlanstein, Sie sind Spezialistin für Reenactment. Es gibt für Sie zwei Imperative: ‚Du sollst nicht betrügen’ und ‚Du sollst nicht langweilen’.

Beate Schlanstein: Ich bin im WDR so sozialisiert worden, dass dokumentarisches Arbeiten Nachinszenieren ausschließt. Das war bis vor etwa zehn Jahren eine grundsätzliche Haltung, auch in der ARD. Vor allem der Druck des internationalen Dokumentationsmarktes hat zu einem Wandel geführt. Die international erfolgreichen Dokumentationen, von der BBC und amerikanischen Sendern, haben eine Welle von Reenactment mit sich gebracht. ‚Nicht langweilen’ hat damit zu tun, zeitgemäß daherzukommen, auf die Seherwartungen gerade auch der jüngeren Zuschauer einzugehen, Mittel in die Darstellung zu integrieren, die für sie selbstverständlich sind. Aber wenn, dann wo es passt. Reenactment, Illustration, an sich ist überhaupt kein Wert. Es passt, wo es Zugänge in Sphären ermöglicht, die nicht ohne Weiteres dokumentarisch erschließbar sind. Das ist die Vergangenheit jenseits des Vorhandenseins von Fotos und Filmmaterial. Und das ist in der Wissenschaft der Bereich, der sich der Anschauung von den Dimensionen her entzieht. Wir hoffen, durch den Einsatz von Reenactment, in den letzten Jahren sehr stark auch Computer-Rekonstruktionen, Themen in einer vertretbar populären Form für ein großes Publikum sichtbar zu machen.
Heute ist der allergrößte Teil unseres Outputs dokumentarisch. Das klingt nach einem Qualitätsmerkmal, hat aber einfach mit der Auswahl der darstellenden Elemente zu tun. Das sind ganz klassisch Zeitzeugen, Archivmaterial, Schauplätze, mitunter Experten. Das hat auch mit Geld zu tun. Reenactment ist teuer.
Bei »Napoleon und die Deutschen« haben wir versucht, aus Quellen der Franzosenzeit den Alltag von normalen, aber real existierenden Menschen zu rekonstruieren.

Wolf: Es gibt in dem Film aber eine starke Doppelung von Kommentar und Bild. Das Bild illustriert nur, was der Text schon sagt. Warum muss ich noch nachinszenieren, wenn ich schon vorerzähle?

Schlanstein: In allen Folgen wird aus Quellen der Zeit hergeleitet, die uns die Sicht normaler Menschen auf diese Zeit zeigen. Das ist kein erfundener Kommentartext in »Napoleon«, sondern ein Exzerpt aus den Briefen von Johanna Schopenhauer. Insofern ist der Text historisch. Das andere ist Illustration. Mehr soll es auch nicht sein.
Die Hoffnung war, über das Lebendigmachen von Quellen aus der Zeit, die jeweils gezeigt werden, ein lebendigeres Bild zu erzeugen, das die Distanz zu solch eher museal daherkommenden Themen überwindet. Man kann über vieles streiten – die Sprecherstimme, die Qualität der Darstellung –, aber der Ansatz ist stringent durchgehalten worden. Wenn unsere Abteilung – »Geschichte« – Dokumentarfilme macht, dann sind sie einer journalistischen Darstellungsform verpflichtet, wie der letzte Dokumentarfilm von Michael Verhoeven über die Geschichte der Arisierung.

Wolf: Herr Hübner, Sie haben eine andere Auffassung von Erinnerung. Haben Sie jemals Reenactment verwendet?

Christoph Hübner: Ich habe sogar damit angefangen. Der erste größere Film, den ich noch an der Filmhochschule gemacht habe, war »Huckinger März«. Das war ein nachgestellter Streik in Duisburg-Huckingen bei Mannesmann. Wir haben diesen Streik sozusagen wie ein brechtsches Lehrstück mit den originalen Arbeitern nachinszeniert. Wobei jeder Arbeiter jeweils die Rolle von einem anderen gespielt hat. Er wurde damals relativ gut aufgenommen, ist auf vielen Festivals gelaufen. Trotzdem hatte ich in der Begegnung mit der Wirklichkeit das Gefühl, dass ich mehr über sie wissen muss. Dann folgten überwiegend Dokumentarfilme.

Wolf: Haben Sie jemals überlegt, die Erinnerungen, von denen Thomas Harlan in ihrem Film »Wandersplitter« erzählt, szenisch umzusetzen?

Hübner: Nie. Aber das hängt damit zusammen, dass Harlan von seiner Sprache, seiner Erscheinung her so sehr das Bild füllt und die Fantasie anregt, dass das nicht notwendig ist. Was man gegen Reenactment haben kann, ist, dass zu schnell Leerstellen gefüllt werden, in denen die Fantasie ja bereits dadurch angeregt wird, dass jemand etwas erzählt. Zu schnelles Reenactment schüttet diese Leerstellen zu, die es auch in unserer Wirklichkeit dauernd gibt. Sie sind als Herausforderung nicht mehr da.
Harlan spricht am Anfang von seinem Unwillen seine Biografie zu glätten, was leider bei vielen biografischen Filmen gemacht wird. Was Dokumentarfilm kann, ist auf Ungerades eingehen, auf Zufälle, auf Dinge, die nicht zusammenpassen, und das auch in der Montage so zu belassen.
Bei »Die Champions« hatten wir vereinbart, mit dem jungen Spieler Claudio Chavarria, einem unserer Protagonisten, und seinem Spielerberater eine Szene zu drehen. Wir saßen im Jugendheim und zufällig saß der Betreuer des Jugendheimes dabei. Und dem platzte in einer Szene der Kragen. Er konnte die Situation nicht aushalten, weil er Claudio in der letzten Zeit so erlebt hatte, wie er es auch beschreibt, und mischt sich also ein. Er nahm inzwischen die Kamera nicht mehr wahr, dadurch, dass wir lange dort gedreht haben.
Das heißt, eine Störung passiert. Das kommt im Dokumentarfilm nur zustande, wenn man lange genug da ist. Es ist mit genauem Hinsehen, mit Zulassen verbunden. Eine Störung ist ein Geschenk, das eine größere Intensität hat, als wenn ich eine solche Szene inszeniert hätte.

Wolf: Herr Rettinger, Sie haben Doku-Soaps produziert, unter anderem »Abnehmen in Essen« oder »Samba für Singles«. Warum ist daraus nichts geworden?

Carl-Ludwig Rettinger: Das sehe ich nicht so. Ich halte »Abnehmen in Essen« für eine sehr starke dokumentarische Arbeit. So etwas findet mittlerweile auf den besten Sendeplätzen der kommerziellen Sendeanstalten mit Riesenerfolg statt.
Im ZDF hat man gemerkt, siehe »Terra X«, dass man mit Inszenierung wunderbar emotional erzählen kann. Die dokumentarischen Formen aber, die sind für die Ratio, die sind halt leider langweilig, die sendet man spätnachts. Diese Auftrennung stört mich.
Ich will mit einem Dokumentarfilm eine emotionale Wirkung zu erzielen. Und das gibt’s auf zwei verschiedenen Wegen: Entweder man bildet emotionale Situationen ab. Die entstehen nicht zufällig. Intensität entsteht dadurch, dass ein Team, eine Kamera da ist. Oder man versucht, eine dramatische Erzählweise zu finden. Das haben wir bei »Abnehmen in Essen« gemacht. Das macht auch den modernen Dokumentarfilm aus. Heute ist man in der Lage, im Unterschied zu Wildenhahns Zeiten, mit dem Avid ganz andere Mengen von Material zu bearbeiten. Um dann zu gucken, was die Struktur ist, die Identifikation mit Hauptfiguren ermöglicht. Und wie es möglich ist, komplexe Erzählformen mit verschiedenen Erzählebenen oder Parallelhandlungen so zu führen, dass der Zuschauer emotional Anteil nimmt. Insofern ist es ganz großer Quatsch, nur dann emotional erzählen und unterhaltsam sein zu können, wenn man inszeniert.

Wolf: Sie würden das Inszenatorische in die Produktion des Dokumentarfilms hineinlegen und da vor allem in die Montage?

Rettinger: Nee. Auch jemand wie Wildenhahn oder vor ihm Robert J. Flaherty hat sich mit Dramaturgie beschäftigt. Das dramaturgische Know-how ist aber heute viel weiter. Was in Hollywood an Know-how da ist, hat mit Mickey-Mousing oder der UFA nichts mehr zu tun. Nehmen wir z. B. Tarantino: Der benutzt ganz hoch entwickelte, neue Erzählformen, die man auch in der Literatur finden kann. Ein Dokumentarfilmer tut gut daran, sich damit zu beschäftigen und sie als Teil seines

Handwerks zu verstehen. Für welche Form von Dramaturgie, für welches Sujet er sich auch immer entscheidet. Das Handwerk ist in den Redaktionen der Sender und leider auch in den Filmhochschulen nicht mehr so vorhanden. Das müssen sich die meisten Filmemacher im Laufe ihres Werdegangs mühsam erarbeiten.
In dem Film, den wir für die Berlinale fertigstellen, geht es um die Geschichte eines jungen Filmemachers aus Berlin, dessen Idol David Lynch ist. Lynch ist inzwischen der wichtigste Protagonist – oder sagen wir Propagandist – der Tranzendentalen Meditation (TM). Die basiert auf Maharishi Mahesh Yogi, die meisten werden ihn vielleicht als Guru der Beatles kennen. Die Weltzentrale dieser Organisation sitzt direkt hinter der holländischen Grenze. Der Film ist strukturiert als eine Art Selbstversuch, bei dem er immer tiefer in diese Organisation eindringt. Es ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte, weil sich der Filmemacher an seinem Idol abarbeitet.

Wolf: In einer Szene liegt der Filmemacher mit seiner Freundin im Bett, das ist abgesprochen. Aber was muss man sich unter dem Inszenatorischen vorstellen?

Rettinger: Oft sind Dokumentarfilmer keine wahnsinnig begabten Inszenatoren. Er hat da ziemlich rumprobiert. Die Geschichte von ihm und seiner Freundin wird durch den ganzen Film geführt. Sie konterkariert mit einer gewissen Alltäglichkeit das Asketische und das Ideal des Sich-Selbst-Auflösens von TM.
Das Witzige an der Situation ist, dass die Szene selbst, die er sich ausgedacht hat, überhaupt nicht funktioniert. Sie beklagt sich ja nicht, dass er sie weckt, sondern sie beklagt sich darüber, dass es inszenatorisch schlecht ist, was er da macht. Über das, was sie sagt, kommt ein authentisches Moment rein. In der Situation kommt auch ihre Beziehung auf den Punkt. Sie hält ihn für einen relativ unbegabten Filmemacher.

Wolf: Liegt dem Film eine dokumentarische oder eine Spielfilmidee zugrunde?

Rettinger: Eine dokumentarische. Der Filmemacher hat 2006 angefangen, zu einem Zeitpunkt als sich David Lynch zum ersten Mal öffentlich zu TM geäußert hat. Lynch ist 2008 durch ganz Europa gezogen, hat »Unbesiegbarkeits-Universitäten«, unter anderem auf dem Teufelsberg in Berlin, gegründet. TM habe ich zu Anfang als eine sympathische, verschrobene Post-Hippie-Organisation empfunden. In den drei Jahren Dreharbeit hat sich gezeigt, dass das doch eine völlig andere Nummer ist. Es ist sehr eigenwillig, dass sich David Lynch dafür starkmacht.

PANEL I – Streitgespräch

Wolf: Herr Hübner, Sie haben davon gesprochen, dass der Film die Fantasie des Zuschauers in Bewegung setzen soll und von der Störung als einem produktiven Moment des Dokumentarischen. Besteht bei Reenactment die Tendenz dem Zuschauer die Fantasie abzuerkennen?

Hübner: Man muss nicht solche Gegensätze aufbauen. Dokumentarfilme wie die aus der Redaktion von Beate Schlanstein folgen einer geschlossenen Form. Ich lerne bei »Napoleon und die Deutschen« etwas, aber es hat mit dieser Form von Offenheit, durch die der Zuschauer gefordert wird, nichts zu tun.
Ein Problem ist, dass viele Reenactments schlecht gemacht sind. Carl-Ludwig Rettinger hat gesagt, dass Dokumentarfilmer oft keine guten Inszenatoren sind. Oft steht aber auch kein Geld zur Verfügung, um das wirklich gut zu machen. Nur sollte man es dann lassen.
Dokumentarfilme enthalten Geschichten. Man muss nur eben genau hingucken, und sich die Zeit und Geduld nehmen, bis sie sich an der Oberfläche zeigen. Dann hat die Wirklichkeit jede Menge Geschichten zu erzählen. Durch zu schnelles Anbieten einer inszenierten Lösung, einer Glättung, wird dem Zuschauer die Möglichkeit genommen, mit den Widerständen der Realität umzugehen. Es stimmt, dass Dokumentarfilme anstrengender sind, wenn man es nicht zu einfach macht – deswegen laufen sie auch so spät. Aber diese Anstrengung hat gleichzeitig etwas von einer Herausforderung.
Ich möchte in meinem Leben und meiner Arbeit herausgefordert werden, möchte mit Widerständen zu tun haben. Das möchte ich auch den Zuschauern gönnen.
Es gibt auch sehr verschiedene Arten von Emotionalität. Es gibt eine Emotion, die reagiert auf eine kleine Geste. Die kann größere Emotionen zur Folge haben als Szenen, die kräftig mit Musik unterlegt sind. »Harlan« ist ein Beispiel dafür: Da sitzt ein alter Mann in einem Zimmer und erzählt sein Leben.
Früher hätten alle gesagt: »Talking Head«. Es kommt aber auf den Menschen und die Art an, wie ich den Film mache.
Es gibt Geschichten, da entsteht die Inszenierung im Kopf. Diese Formen kommen zu wenig vor.
Wenn eine Filmkultur funktioniert, dann besteht sie aus Dialog – zwischen den populären, experimentellen und dokumentarischen Formen.

Wolf: Ist der spielerische Umgang mit Inszenierungen im Dokumentarfilm eine Lösung, wenn das Fiktionale im Dokumentarischen eine immer größere Rolle spielt?

Rettinger: Das hängt vom Sujet ab. Man kann über die Schlacht von Austerlitz keine witzige Nachinszenierung machen. Beim Film von Petra Seeger hätte mir die Art der Nachinszenierung nicht gefallen, wenn sie nicht Teil des Themas der Erinnerungsarbeit gewesen wäre. Da passt es.
Schwierigkeiten gibt es, wenn man eine Fernsehproduktion macht. Es ist Fakt, dass Sendeplätze für bestimmte Formate geblockt werden, um ein bestimmtes Publikum zu binden, was legitim ist.
Ich finde nicht, dass das Inszenatorische in ein heiliges Dokumentarisches eindringt. Es ist egal, ob Fiction-Elemente dramaturgisch oder inszenatorisch mitspielen, entscheidend ist doch: Ist es ein interessanter Film, der mich berührt?
Da kommen wir zu dieser brechtschen Geschichte mit der Generation um Egon Monk. Gerade im deutschen Fernsehen ging es darum, bloß nicht zu emotional zu werden. ‚Wir sind gebrannte Kinder wegen der Propagandafilme im Dritten Reich. Wir dürfen alles machen, bloß nicht emotional werden’.
Das hat sich geändert. Das Publikum will emotional bewegt werden. Ich will es auch.
Von heute aus betrachtet, ist das, was Breloer gemacht hat, ‚Brecht’. Ich finde nicht, dass das damals die gute Zeit war. Es ist heute viel besser. Weil wir dazu stehen, dass wir unser Publikum emotional bewegen wollen. Ich will nicht nur die Großhirnrinde, ich will das Herz der Leute erreichen, bis in die Zellen eine sinnliche Wirkung erzielen.
Es ist eine Qualität des Spielfilms wie des Dokumentarfilms, das Publikum emotional anzusprechen.
Deswegen halte ich Brüche für keine Qualität per se. Freiräume, die die Fantasie des Zuschauers anregen, sind okay, aber auch keine Qualität per se.

Seeger: Ich gehe d’accord. Ich glaube, dass die Leute, die dokumentarische Filme machen, sich verändert haben. Früher durfte man nur bestimmte Dinge machen. Die eigene biografische, künstlerische Entwicklung war oft gebremst durch hehre Vorstellungen, die wie ein Muss im Raum standen. Für mich war es eine Befreiung, mich von allen Richtungen loszusagen: Was will ich, wie kann ich meine Lebendigkeit ausdrücken? Und das heißt, alles zu benutzen, was ich im künstlerischen Prozess für richtig halte.
Für mich grenzt der ‚Freiraum des Dokumentarischen’ oft an Langeweile. Auch für mich ist es kein Wert an sich, dass der Zuschauer Fantasie entwickeln muss. Ich erlebe das oft als Unvermögen der Macher, etwas auf den Punkt zu bringen.

Wolf: Ein typisches Beispiel ist ein Zweiteiler über den BND. Der erste Teil wurde um 20.15 Uhr gesendet. Was war drin? Reenactment. Sie haben einen Krimi draus gemacht, mit von Statisten gespielten Agenten. Beim zweiten Teil, um 23 Uhr, brauchte man plötzlich kein Reenactment mehr, weil die, denen man nicht zutraut, richtig gucken zu können, nicht mehr davor sitzen. Im Fernsehalltag trauen die Redaktionen dem Publikum nicht.

Schlanstein: Es ist viel von Sendeplätzen die Rede. Ein großer Vorzug der Fernsehlandschaft ist immer noch die große Vielfalt. Alle Formen, die wir heute gesehen haben – wobei die Filme, die ich vorgestellt habe, die Birnen neben den Äpfeln sind –, haben vor allem eins gemeinsam: Es sind dokumentarische Formate, die die unausgesprochene Verabredung mit dem Zuschauer haben: ‚Du kannst glauben, was hier dargestellt wird’.
Womit wir uns auseinandersetzen müssen, ist die schleichende Okkupation des Dokumentarischen durch Fernsehfilme. Im Bereich Geschichte ist es heute vollkommen normal aus einer Fernsehspielabteilung zu hören: ‚Die eigentlichen Geschichtsbilder kommen von uns’, d. h., aus, neudeutsch, Event-Movies wie »Dresden«, »Die Luftbrücke« usw. Das sind aber nicht mehr Fernsehspiele, die auf einer dramatischen Grundidee beruhen. Sie werden aus einer als dokumentarisch angenommenen Blaupause heraus weiter entwickelt, sodass sie scheinbar eine in sich konsistente Spielhandlung ergeben.

Uns sollte weniger trennen, was wir an Formen benutzen, als uns die Art unserer Aussage über Glaubwürdigkeit im Dialog mit dem Zuschauer einen sollte. Sonst laufen wir Gefahr, dass das, was mit fiktionaler Absenderadresse auf Bildschirme oder in die Kinos kommt, mit dem verwechselt wird, was wirklich dokumentarisch abgesichert ist.

PANEL I – Publikumsrunde

Petra Schmitz: In den Ausschnitten, die wir gesehen haben, werden die Quellen in Spielhandlungen rekonstruiert, die der Zuschauer durch seine Erfahrung verlebendigt. Jetzt hat sich das verselbstständigt. Das war dieses Jahr bei Fernsehsendungen zum Thema Der Mauerfall ganz deutlich, wo in mehreren Sendungen noch lebende Menschen, die als Träger von Erfahrung Auskunft geben können, mit diesen Formen ständig kombiniert werden. Da kommt der Zeitzeuge nicht mehr als Subjekt vor. Wie wird das in der Redaktion diskutiert? Hat man eine Gewohnheit beim Zuschauer geschaffen und reagiert nun darauf?

Schlanstein: Es wird heftig diskutiert, weil wir keine großen Anhänger von Reenactment sind. Das meiste aus unserer Redaktion kommt zumindest ohne größeres Reenactment aus.
Bei der Sendung »Der Mauerfall« hat es eine große Diskussion gegeben, als das Projekt auf den Weg gebracht wurde. Es war wahnsinnig ambitioniert, mit Ausstellung, Buch, Hörbuch, CD-ROM und DVD.
Es sollte mit allen technischen Möglichkeiten das Leben in der verschwundenen DDR sichtbar machen. Die Überlegung war: Auch wenn die Zeitzeugen leben, könnte es spannend sein, wir würden diesen DDR-Look, dieses Zeitkolorit illustrativ andeuten können.
Das hat eine Hürde abgebaut. Römer können wir uns deshalb vorstellen, weil wir Bücher über das alte Rom kennen oder schon mal im Museum waren. Die DDR schien uns in mancherlei Hinsicht ferner als das alte Rom, deswegen haben wir neben Archivmaterial und Zeitzeugenerzählungen zur Illustration gegriffen.

Rettinger: Die dokumentarische Methode hat Grenzen, das darf man nicht vergessen. Das Spezifische von Film ist, Dinge erzählen zu können, die sich verbal nicht fassen lassen. Durch reine Abbildung schaffe ich das nicht. Der sehr schnelle Griff zur Nachinszenierung hat mit dem Wunsch zu tun, diese nicht sichtbaren, emotionalen Dinge inszenatorisch ausdrücken zu können.

Zwischenruf aus dem Publikum: Roberto Rosselini.

Rettinger: Beispielsweise. Der Punkt ist der, dass das dokumentarisch auch möglich ist. Natürlich erfordert das ein gewisses Know-how und vor allem enorme Einfühlung: dass Filmemacher antizipieren, was sie verbal nicht geliefert kriegen. Das muss ich mit filmischen Mitteln zum Ausdruck bringen, nicht plump mit Musik, sondern mit der Art, wie der Kameramann die Situation aufnimmt oder wie geschnitten wird. Dass das Publikum mitarbeiten muss, kann auch was sehr Schönes sein: Es kann eben Dinge entdecken.
Bei den besten Dokumentarfilmen ist heute zu sehen, dass wir mit Kameras, die mit weniger Licht arbeiten, auch im Privatbereich von Leuten drehen können. Es gab bis Mitte der 80er Jahre wenige dokumentarische Arbeiten, die in irgendeiner Weise im Privatbereich von Menschen gespielt haben.
Und mit Avid ist man heute in der Lage, auf so einem hohen erzählerischen Niveau auch emotional zu erzählen, dass es gar nicht notwendig ist, nachzuinszenieren.

Hübner: Ich möchte drei kurze Anmerkungen machen. Die eine zur Ehrenrettung von Brecht: Brecht war jemand, in dessen Schriften und Inszenierungen Emotion eine große Rolle spielt.
Gerade fiel der Name ‚Rosselini’. Von ihm gibt es einen Film über Ludwig, den Vierzehnten. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich etwas über die Zeit und die Lebensumstände kapiere. Einen Großteil des Films macht aus, wie die sich jeden Morgen pudern mussten, was die für alberne Spielchen in den Gärten gespielt haben. Es war ungeheuer schwierig, sich anzuziehen. Sie haben sich auch nicht gewaschen wie wir. Vielleicht ist es gar nicht wichtig über Abgrenzung von Formen zu sprechen, sondern darüber, was in den Filmen vorkommt. Diese Reenactments, die auf Recherchen beruhen, erzählen etwas, das ich nicht erwarten kann, das ich noch nicht weiß.
Ich weiß nicht, ob das hierhin gehört: Ich war am 9. November 2009 in Berlin am Brandenburger Tor.
Ich dachte, ich seh’ nicht recht, als auf einmal Thomas Gottschalk auf Riesenleinwänden erschien und – sozusagen – die Inszenierung zum Mauerfall begleitet hat. Unten standen die Leute, die damals vielleicht sogar dabei waren. Sie schauten auf die großen Leinwände, auf denen Thomas Gottschalk ihnen die Revolution und den Mauerfall erklärte. Ich hatte das Gefühl, eine Fiktionalisierung dessen zu sehen, was eigentlich passiert ist.

Publikum 1 (Filmemacher): Ich mache seit 25 Jahren Dokumentarfilme. Meine Vorbilder kamen vom Kino her, obwohl ich Dokumentarfilme mache. Damals war es auch Fellini oder die dokumentarische Arbeit der Protagonisten der Nouvelle Vague, von Jean-Luc Godard, Raymond Depardon oder Agnès Varda, die mit der »Die Sammler und die Sammlerin« wieder ein Modell abgeliefert hat, wie man Dokumentarfilme machen kann. Das sind Dokumentarfilme, die bleiben, die nachhaltig sind. Das sind natürlich Autorendokumentarfilme.
Emotionen kann man ja auch dadurch erzeugen, dass man hinter einer Sache, hinter seinem Film steht, eine Dramaturgie entwickelt, die dem eigenen Film adäquat ist.
Auf der anderen Seite muss man natürlich sehen, für wen man arbeitet. Wenn ich weiß, dass ich einen Auftrag für einen bestimmten Sendeplatz habe, dann muss ich mich mit diesem Format auseinandersetzen und dafür eine Dramaturgie entwickeln.

Werner Ruzicka: Ich will nicht sagen, das eine ist okay, das andere nicht. Ich möchte aber auf etwas hinweisen, das Bilder im Kopf des Zuschauers generiert, ohne dass Reenactment notwendig wäre. Es sind zwei Talking-Head-Sequenzen.
Bei Christoph Hübners »Thomas Harlan – Wandersplitter« entstehen durch die Erzählkraft dieses Menschen, die Beweglichkeit in seinem Gesicht Fantasien und Geschichten, die anrühren.
Die andere ist die Geschichte, als Eric Kandel das eine Partikel mit dieser ‚Busen-Geschichte’ erzählt.
Wenn er das in seinem charmanten wienerisch-amerikanischen Englisch, mit seinem charmanten Lächeln in die Kamera erzählt hätte, dann wäre in der Mischung aus Erinnerung und Altherren-Sexualität eine wunderbare Geschichte geworden, in der sogar der Busen auf eine Art geblitzt hätte, die unpeinlich gewesen wäre. In dem Moment aber, wo die Geschichte reenacted wird und man nichts sieht, ist man um zwei Sachen betrogen worden: zum einen um das Konkrete, zum anderen um die eigene Fantasiearbeit, die sich im Nachvollziehen von Geschichte ergeben kann.
Es ist eine Kostbarkeit dokumentarischen Arbeitens, Menschen zum Erzählen zu bringen und aus diesen Erzählungen Bilder entstehen zu lassen, die dann die Mitte des Erzählten und des von mir Verstandenen sind. Richtig ist, worauf Carl-Ludwig Rettinger hinwies, dass das bestimmter Gesprächsweisen, Konzentration und Verdichtung bedarf. Aber dann entstehen Sachen, die nur im Dokumentarfilm möglich sind.

Seeger: Nur zur Klarstellung: In meinem Film gibt es nur fünf Minuten Spielszenen. Mit Eric Kandel habe ich sein Leben im Film nacherlebt, das ist die Dramaturgie. Ich bin mit dem führenden Menschen der Gedächtnisforschung in sein eigenes Gedächtnis gegangen und habe seine Wissenschaft an ihm selbst exemplifiziert. Insofern ist es etwas anderes, ob jemand sitzt und etwas erzählt, oder ob jemand selber etwas erlebt, einen Prozess verfolgt. Wenn ich etwas dazwischen schneide, während Thomas Harlan erzählt, dann unterbreche ich einen Prozess.

Egon Netenjakob: Der Film über Eric Kandel hat mich begeistert. Die Szene mit dem Busen hat mir außerordentlich gut gefallen. Das will ich nicht inszenierungstechnisch begründen, es hat vielmehr eine gewisse Logik. Wenn es gelingt, der Wirklichkeit gegenüber derart begeistert, zugleich aber rational zu sein, dann ist es auf magische Weise anders, als wenn man es inszeniert hätte. Es stellt sich nicht die Frage, ob oder ob nicht. Es sitzt einfach.

Seeger: Dazu eine Anmerkung: Aus Amerika habe ich 40.000 Dollar Förderung für den Film bekommen. Diese Förderung wäre wegen der Busen-Szene fast gestrichen worden, weil sie sagten, das sei Pädophilie.

Publikum 2: In der Auseinandersetzung über Dokumentarfilm fehlt der Begriff des kaufmännischen Umgangs mit Dokumentarismus. Wenn man Material sammelt, wie ich als Kameramann, und das dann später im Sender verarbeitet und dramaturgisch zusammengeheftet wird, wird oft das Zeitdokument, das man aufgenommen hat, gelöscht. Das Material verschwindet. Es wird nur verwertet, was in den Sendungen vorkommt. Das Zeitdokument, das man als Kameramann aufgenommen hat, spielt dann keine Rolle mehr. Aber der Ethos-Begriff, als Dokumentarfilmer aufzutreten, um Zeitdokumente zu schaffen, der fällt unter den Tisch. Was passiert eigentlich mit Zeitdokumenten?

PANEL II – Werkstattberichte mit Filmausschnitten. Warum und mit welchem Ziel setze ich fiktionale Elemente ein?

PDF Werkstattberichte

Fritz Wolf: Herr Heise, Sie sind Autor von »Schwarzwaldhaus 1902«, einem frühen Beispiel für das Format ‚Living History’. Ihr letztes Großprojekt »24 Stunden Berlin« ist im September 2009 gelaufen. Was war die Intention?

Volker Heise: Die Idee war, eine Expedition in den Alltag von ganz normalen Menschen zu machen. Angelegt als Versuch, eine Stadt als Fernsehprogramm zu erzählen. Wir haben am 5. September 2008 mit achtzig Teams 24 Stunden lang gedreht und ein Jahr später, am 5. September 2009, 24 Stunden lang gesendet. Was, z. B. um neun Uhr passierte, wurde auch um neun Uhr gesendet.

Wolf: Man kann nicht davon ausgehen, dass sich jemand um sechs Uhr morgens jemand vor den Fernseher setzt und bis zum nächsten Morgen sitzen bleibt. Gab es Überlegungen, etwas zu machen, damit der Zuschauer aus- und wieder einsteigen kann?

Heise: Mir war klar, dass sich der Zuschauer auf einer 24-stündigen Fläche verliert. Ich habe ein Gerippe in die 24 Stunden eingezogen: Alle zwanzig Minuten, alle halbe Stunde, je nach Tageszeit, haben wir Stopppunkte gesetzt: Wie viel Grad ist es in der Stadt, was passiert sonst noch alles? Und wir haben Leute vorgestellt, die kurz danach wieder auftauchen.
Das baute auf zwei Prinzipien auf. Das eine war das einer klassischen Programmuhr beim Radio, das zweite war, die Serie nicht horizontal, wie über mehrere Wochen, sondern vertikal, 24 Stunden durch zu erzählen. Dafür habe ich auf serielle Erzählweisen zurückgegriffen.
Wenn man nur einen Ausschnitt sieht, könnte man denken, es ist Teil eines Films mit bestimmten erzählerischen Bögen. Es ist aber ein Ausschnitt aus einem 24-stündigen Fernsehprogramm. Ich bin mit der Tageszeit mitgegangen, habe morgens anders als abends erzählt.

Wolf: War es nötig, die Wirklichkeit zurechtzubiegen? Wie ist das »Programm« erzählerisch strukturiert?

Heise: Am Schneidetisch kann man viel machen. Da fängt das eigentlich Fiktionale im Dokumentarfilm an. Ich gehe aber einen Schritt davor. Ein Naturwissenschaftler hat einmal gesagt: Die Natur ist unser Modell von ihr. Man kann nur herausfinden, ob das Modell stimmt, indem man Experimente macht. Ich lege meine Projekte immer als Experiment an und versuche herauszufinden, welche Bedingungen ich schaffen muss, damit es stattfinden kann und ich etwas über die Natur herausfinde. Deswegen ist die Vorbereitung bei einem Projekt wie »24 Stunden Berlin«, noch wichtiger als bei einem Living-History-Projekt wie »Schwarzwaldhaus 1902«. Die Menschen, die man sieht, haben wir nicht morgens zufällig getroffen, sondern wochenlang gesucht.
Eine Inszenierung ist wahrscheinlich schon in der Auswahl und Mischung der Charaktere, Themen, Milieus usw. drin. Ich versuche aber immer, mich selbst zu überlisten. Bei »24 Stunden« habe ich irgendwann gesagt, wir suchen jetzt Menschen, die wir gar nicht suchen. Dann sind Casting-Leute losgegangen und haben irgendwelche Menschen angesprochen. Einige von ihnen sind auch in den Film gekommen. Trotzdem bleibt es eine experimentelle Anlage. Auch wenn das, was man sieht, in dem Moment, wenn man es sieht, weg ist – da sind wir wieder in der Physik bei Heisenbergs Unschärferelation.
Wir haben im Schneideraum lange gebraucht, eine Struktur für die 24 Stunden zu finden. Fest standen nur die halbstündigen Unterbrechungen. Wir sind dann dazu übergegangen, zu gucken, was passiert zwischen acht und neun, wo sind Geschichten, die über eine halbe Stunde tragen, wo Geschichten, die mit 2’10 Minuten interessant sind? Wo können wir eine kleine Geschichte in eine große einfügen, um Atem zu holen?
Mir ist bewusst, dass die Situation, die ich herbeiführe, gemacht ist. Dass ich Pflöcke einschlage, eine Richtung vorgebe. Aber gleichzeitig muss in der Situation beim Drehen alles so sein, wie es ist.

Gespräch Volker Heise – Publikumsrunde

Publikum 1 (Filmemacher): Das klingt alles irgendwie bewusstlos. In der Auswahl der Geschichten und Personen spiegelt sich doch die subjektive Haltung des Autors wider. Die Frage ist also: warum diese Haltung? Für wen oder was? Einschaltquote, Erfolg, die Lacher im richtigen Moment?

Heise: Mein Grundsatz ist: Nur der findet den Weg, der kein Ziel hat. Das ist nicht bewusstlos. Man muss wissen, was man tut, muss sein Handwerk beherrschen. Aber ich versuche, mich in solchen Projekten zu überraschen und zu widerlegen.
Wenn man 24 Stunden zur Verfügung hat, kann man viel machen. Es gab aber auch viele Handschriften: Das waren nicht 80 Teams, die ich ferngesteuert habe. Das waren über 70, z. T. sehr namhafte Regisseure, die ihren Stil mitbrachten, den man sich im Schnitt aneignen musste.
Natürlich schneide ich auf eine Pointe und den Höhepunkt einer Szene und, wenn man so will, auf einen Lacher oder Tiefpunkt. Ich bin relativ konservativ im Schnitt. Ob das mit Quote zu tun hat, ist mir in dem Moment, wo ich es tue, ziemlich egal.

Publikum 3: Inwiefern haben sich die Leute selbst inszeniert? Man hat den Eindruck, dass sie es wissen und lieben, dass eine Kamera da ist.

Heise: Das habe ich bewusst drin gelassen, um die Anwesenheit von Kamera und Regie zu thematisieren.

Wolf: Hat jemand dem Jungen gesagt, dass er das »Wilde Kerle«-T-Shirt anziehen soll? Gab es Anweisungen?

Heise: Das ist das, was er immer anzieht. Der ist von seiner ganzen Art her so, wie es im Film rüberkommt. Wir haben seine Familie ausgewählt, nachdem wir mit ihr geredet und auch Probe gedreht haben. Wir haben gemerkt, dass sie sehr für dieses Berliner Stadtrand-Blubbern stehen.
Genau dafür setzen wir sie auch ein. Wir haben auch Leute, die nichts sagen, denen man beim Nichtstun zuguckt.

Wolf: Welche Vereinbarungen gab es mit den Protagonisten, die fast durch den ganzen Film gezogen werden?

Heise: Mir war wichtig, sehr weit gehen zu dürfen. Wir haben gefragt, ob ihnen bewusst ist, dass wir im Schlafzimmer, im Badezimmer und am Frühstückstisch drehen.
Das andere war, dass sie nichts extra machen sollten. Es sollte ein ganz normaler Freitag in ihrem Leben sein; eine Familie hat Besuch kommen lassen, damit mal ein bisschen was los war. Bei den Hauptprotagonisten haben wir drei Tage vorher angefangen zu drehen, um sie auf den eigentlichen Dreh vorzubereiten. Als wir am Freitag angefangen haben zu drehen, haben sie sich eigentlich relativ natürlich vor der Kamera bewegt.

Publikum 3: Wie viele von den vorrecherchierten Leuten sind durch den Rost gefallen?

Heise: Wir haben alle gebraucht. Es war eine einfache Rechnung: Wir haben 24 Stunden. 24 mal 60 Minuten geteilt durch 80 Teams, dabei kommt raus, dass jedes Team 18 Minuten nach Hause bringen muss. Das ist für einen Tag Drehen ziemlich viel. Deshalb habe ich kleine Szenen als Miniaturen in die großen Erzählstränge eingebaut, die man normalerweise rauswirft, weil sie nicht interessant sind oder schon gezeigt wurden. So konnte ich Zeit machen und den Fluss der Zeit miterzählen.

Uwe Mies: Ich hatte den Eindruck – ich kenne nur den Ausschnitt – als handelte es sich um eine Art ‚Best of Brisant’, Taff und wie diese Magazine heißen, die durch die Programme geistern. So kleine Häppchen eines Schicksalsweges.
Mir ist nicht klar, warum ich mich für so etwas interessieren sollte, wenn ich es, erstens sowieso jeden Tag geboten bekomme, und zweitens, welchen Mehrwert bietet Ihr Film im Hinblick darauf, dass er bei arte auf einem Sender gezeigt wurde, den die meisten Leute, die sich die Infotainment-Magazine angucken, gar nicht sehen. Ist das »Brisant« für Intellektuelle oder wie darf ich das verstehen?

Heise: Die Arbeit der Kollegen von Brisant ist viel reportagiger. Und solch eine Szene wie bei der Familie zuhause, in der man sehr viel über die Menschen erfährt, das sehen Sie bei Brisant nicht. Da haben Sie einen leichten Knick in der Optik.
Die Geschichten ergeben sich über den Tag. Je länger das Programm dauert, desto tiefer geht es in die Milieus der Protagonisten hinein. Es war tatsächlich so, dass manche Leute über sechs, acht Stunden zugeschaut haben.
Das Handwerk ist für mich entscheidend: Kann jemand ein gutes Bild machen? Kann jemand gut kadrieren? Kann jemand Menschen mit der Kamera nahe kommen? Wie die Bilder aufgenommen wurden, ist ein erheblicher Unterschied zu dem, was in »Brisant« läuft.

Wolf: Frau Blümner, wie sind sie auf das Thema für ihren Film »Prinzessinnenbad« gekommen?

Bettina Blümner: Das Prinzenbad ist ein Freibad in Kreuzberg, wo ich im Sommer oft schwimmen gehe. Ich wollte gerne etwas über Jugendliche machen, die dieses Freibad besuchen. »Prinzessinnenbad« begleitet drei 15-jährige Mädchen aus Berlin-Kreuzberg in ihrem Alltag. Freibad ist etwas, dass in der Pubertät sehr wichtig ist. Man zeigt sich, man trifft sich, Jugendliche kommen zusammen. Ich habe mich im Winter auf die Suche nach Jugendlichen gemacht. In der Nähe des Prinzenbads gibt es eine Schule. Dort kannte ich einen Jungen, der mit einer der Protagonistinnen in dieselbe Klasse ging. Sie, Klara, wollte berühmt werden und bei einem Film mitmachen. Durch sie habe ich dann die beiden anderen kennengelernt.
Es gab einen Dreh im Sommer darauf. Dann habe ich warten müssen, bis die Finanzierung zustande kam. Im nächsten Jahr habe ich von April bis November gedreht.

Wolf: Wie sind Sie mit dem Wunsch Klaras umgegangen, beim Film berühmt werden zu wollen?

Blümner: Es ist schön, wenn jemand gern bei einem Filmprojekt mitmacht. Nach ein, zwei Mal Drehen wollte sie nicht mehr berühmt werden. Sie hat gemerkt, dass es sehr viel Arbeit und Energie kostet, einen Dokumentarfilm zu drehen.

Wolf: Wer so einen Wunsch hat, bringt doch Lust an der Selbstdarstellung mit?!

Blümner: Ich fand gut, dass die Mädchen bereit waren, über ihr Leben zu erzählen und keine Angst vor der Kamera hatten. Es wäre schwierig gewesen, wenn sie introvertiert gewesen wären. Sie waren mir und der Kamera gegenüber sehr offen. Sie sind sehr authentisch, haben keine Angst und nehmen kein Blatt vor den Mund. Es war schwierig, sie für lange Zeit zu motivieren, aber im Endeffekt hat es sehr gut geklappt.

Wolf: Gab es eine Phase der Vertrauensbildung? Gab es Absprachen?

Blümner: Es hat ein halbes Jahr gedauert, bevor ich das erste Mal gedreht habe. In dieser Zeit haben wir uns immer wieder in Kreuzberg im Café getroffen. In der Zeit, bis die Finanzierung stand, haben wir uns auch getroffen, ohne zu filmen. Klara hat in der Zeit in dem Café gearbeitet, das im Film vorkommt. Ich konnte sie dort treffen, ohne Verabredungen treffen zu müssen. So waren wir im ständigen Austausch.
Es bedurfte vieler Absprachen über Drehorte und darüber, was wir bzw. sie machen wollten. Den Inhalt der Szenen habe ich mitbestimmt, indem ich viel gefragt habe.
Es gab Szenen, die mir wichtig waren, wie die mit den Müttern der Protagonistinnen.

Publikum 4: Der Film sieht gut aus. Da mischt sich in der Wahrnehmung: Ist es Dokumentarfilm, Film, Fernsehen? Es ist offenbar eine neue Generation von Kameras, die den Film intensiver machen.

Blümner: Das meiste hat Kameramann Matthias Schöningh ‚nur’ auf Mini-DV gedreht. Ich hab bei einem Viertel des Films mit einer kleinen Panasonic DivX gedreht.

Publikum 5: Wo lag für Sie die Grenze zum fiktionalen Bereich?

Blümner: Der Film entwickelt an manchen Stellen eine große Intensität, weil er spielfilmartig daherkommt. Das liegt aber an der Kameraarbeit. Wir haben sehr lange Einstellungen gemacht, waren immer relativ nah dran an den Protagonistinnen. Zusammen mit der Cutterin, Inge Schneider, haben wir fast alle Schwenks rausgeschnitten.
Wir haben auch schon mal einen Ton druntergelegt, den es in der Realität so nicht gab. Der vielleicht eine Minute früher erklang und den wir geschoben haben. Vieles beruht auf Absprachen und die Frage ist tatsächlich, wo beginnt die Inszenierung, wo ist es noch dokumentarisch. Aber ich finde es spannend, im Dokumentarfilm mit spielfilmhaften Szenen zu spielen. Es macht mir Spaß, den Zuschauer in die Irre zu führen, damit zu spielen: Ist es ein Dokumentarfilm? Ist es ein Spielfilm?

Wolf: Die Kussszene könnte aus einem Liebesfilm sein. Die ist doch arrangiert?!

Blümner: Die Szene ist nicht inszeniert, da muss ich sie leider enttäuschen. Sie kam zufällig zustande. Es hat tatsächlich viel mit der Kameraarbeit zu tun.

Wolf: Herr Engstfeld, Sie haben als klassischer Dokumentarist angefangen. »Von Richtern und Sympathisanten« war ihr erster großer Film. Sie produzieren zugleich fürs Primetime-Formatfernsehen, »Mission X« läuft bereits in der fünften Staffel. Welche Anforderung bekommen Sie vom Sendeplatz her und mit welchen Mitteln bedienen Sie ihn?

Axel Engstfeld: Unsere Firma hat ein Standbein und ein Spielbein. Standbein ist das Primetime-Fernsehen, Spielbein sind dokumentarische Filme, die wir regelmäßig produzieren. Die brauchen allerdings zwei bis drei Jahre, bis sie realisiert werden.
An einer Mission X-Staffel arbeiten wir ungefähr anderthalb Jahre. Das ist vor etwa zehn Jahren gemeinsam mit dem ZDF entwickelt worden. Wir erzählen Geschichten von großen Erfindungen, die die Welt verändert haben. Die Zuschauerzahlen liegen zwischen 3,5 und 4,5 Millionen. Das sind auch die Quotenvorgaben, mit denen wir zu leben haben.
Uns ist ganz klar, dass wir dabei eine Ware herstellen. Wir haben in jedem dieser Filme einen Cocktail aus Archivmaterial, dokumentarischen Elementen und inszenierten Teilen. Da ein Großteil dieser Erfindungen im 18. und 19. Jahrhundert gemacht wurde, haben wir kein filmisches Archivmaterial. Wir stellen uns diese Folien her. Unser Budget hat sich in den letzten zehn Jahren nicht wesentlich verändert, während die Ansprüche gestiegen sind, sowohl vom programmierten Umfeld als auch von der Technik und den Sehgewohnheiten her. Die haben sich innerhalb von zehn Jahren sehr verändert.
Das Reenactment können wir nicht in Deutschland drehen. Wir müssen wie die Textilindustrie in ein Billiglohnland gehen. In Prag arbeiten wir mit den Baranov-Studios zusammen, einem kleinen Studio, dessen Mitarbeiter sehr fit sind im ‚Basteln’, Metallverarbeitung und solchen Sachen. »Verrat in Triest« erzählt von der Entwicklung der Schiffsschraube. Ein österreichischer Marineförster hat 1828 diese Schraube patentieren lassen. Österreich ging damals bis ans Mittelmeer und baute seine Schiffe in Venedig aus Holz, Marineförster waren dafür zuständig, die passenden Hölzer auszuwählen.
Die Szene, in der er die erste Schraube ausprobiert, konnten wir nicht in Prag drehen, daher sind wir nach Mallorca ausgewichen.

Wolf: Gibt es Vorgaben, dass an diesem Sendeplatz ein bestimmter Anteil des Films Reenactment sein muss und der Rest Doku? Wie werden die Geschichten erzählt?

Engstfeld: Es gibt keine Vorgabe über fiktionale und dokumentarische Anteile. Das ergibt sich gewissermaßen aus der Geschichte heraus. Aber es sind von 42 bis zur Langfassung von 52 Minuten pro Folge zwischen 18 und 25 Minuten Reenactment-Anteil, Tendenz steigend. Die Geschichten sind eng mit Personen verknüpft. Wir wählen nur Geschichten aus, die eine Dramatisierung ermöglichen, dadurch, dass es Gegenspieler oder einen Zeitfaktor gibt.

Wolf: Wie viel Zeit bleibt bei dieser Arbeitsweise für dokumentarische Recherche?

Engstfeld: Eigentlich der größte Teil, weil diese Stücke vollständig geschrieben werden: Recherche, Dokumente und kompetente Gesprächspartner finden, an Originalschauplätze gehen, um sie, auch wenn nur für Sekunden, einzubinden. Das ist unheimlich aufwendig. Danach bestimmen wir die Länge. Nichts ist schlimmer, als Szenen rauszuschmeißen, weil der Film zu lang geworden ist. 24 Stunden, wunderbar, wenn man in einer Wohnung sein kann und mit 18 Minuten am Tag zurückkommt. Wir kommen manchmal mit 30 Sekunden von einem Drehort zurück.

Wolf: Die Serie hat Erzählstrukturen wie ‚Ein Mann setzt sich durch’ oder ‚David gegen Goliath’. Welche Chance hätte ein Projekt, bei dem es keinen dramatischen Gegenspieler gibt?

Engstfeld: Wenn wir es nicht dramatisieren können, können wir es nicht machen. Es kommt auf diesem Sendeplatz nicht mehr auf Inhalte, es kommt auf Unterhaltung an. Aber wir verkaufen da immer etwas mit. Es funktioniert erstaunlicherweise gut, dass sich die Zuschauer informiert fühlen oder auch nachfragen.

Publikum 1 (Filmemacher): Das ist handwerklich toll gemacht. Wie groß ist der Stab? Wie entsteht der Look? Inwiefern findet eine Regieleistung statt? Inwiefern spricht der Auftraggeber mit? Wie hoch ist das Budget?

Engstfeld: Wir haben Doku-Teams mit drei bis vier Leuten. Es gibt Leute, die Archivsachen recherchieren. Wenn wir Inszenierungen drehen, sind wir 35 Leute im Team. Mit relativ großem Licht, Kostümen und Maske. Wir können in Prag auf einen großen Fundus zurückgreifen. Schwierig wird es, sobald wir Prag und die für uns überschaubare, kalkulierbare Logistik verlassen und nach Mallorca gehen und zwei Tage schlechtes Wetter haben. Dann sitzt das Team zu höheren Tagessätzen da und dreht Däumchen. Pro Folge liegen die Kosten zwischen 350.000 und 400.000 Euro.

Publikum 6: Dokumentarisches Arbeiten ist für mich geprägt durch eine kreative, subjektive Handschrift des Machers, auch durch eine Haltung. Welchen Spielraum haben Sie, dem Ganzen eine subjektive Handschrift zu geben?

Engstfeld: Dies sind keine Autorenfilme. Als wir damit angefangen haben, habe ich in der Firma ein hoch arbeitsteiliges Prinzip eingeführt. Ich wollte den besten Mann am besten Platz. Ein Dokumentarfilm ist ein Gesamtkunstwerk an sich: Du musst ein Gefühl für Musik und Bilder haben, du musst mit Menschen umgehen können. Wenn jetzt noch das Handwerk der Inszenierung und der Schauspielerführung dazu kommt, ist da ein ganz anderes Handwerk gefragt. Wir setzen immer Fachleute ein.
Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt als dokumentarischen Ansatz bezeichnen würde. Wir erzählen eine spannende Geschichte mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Punkt. Wir verbinden damit keinen weiteren Anspruch. Ich will, dass die Zuschauer dabei bleiben bzw. mein Auftraggeber will das. Redakteure verlangen für Filme in der Primetime inzwischen, dass man Fliegenfänger produziert – und nicht einen Film, der von A nach B erzählt wird. Die haben panische Angst, dass jemand abschaltet.

Publikum 6: Aber Spannung und Dramaturgie sind Sachen, die im Dokumentarfilm eine große Rolle spielen. Niemand würde sagen, das interessiert ihn nicht.

Engstfeld: Der subjektivste Einfluss, den ich habe, ist, dass ich die Themen aussuche, die ich verkaufe. In die Form wird uns nicht reingeredet. Das liegt aber auch daran, dass wir wissen, was gefragt ist.
Man kann nicht alles, was man unter dokumentarischem Arbeiten versteht, auf verschiedene Filmgenres beziehen. Wir reden bei »Mission X« von einem völlig anderen Genre. Das soll nicht nur in Deutschland funktionieren, sondern weltweit. Der Auftraggeber will seine Investition refinanzieren. Die ersten zehn Filme wurden von Discovery in 39 Ländern gezeigt, wurden dafür noch mal konfektioniert.
Mit subjektivem Blick hat das überhaupt nichts zu tun.

Wolf: Müssen Sie sich die Geschichten zurechtbiegen?

Engstfeld: Wir müssen sie stark vereinfachen. Oft spielen größere Zusammenhänge im Hintergrund eine Rolle. In »Der Stromkrieg« – über George Westinghouse gegen Thomas Alva Edison, Gleichstrom gegen Wechselstrom – ging es um ein Weltimperium, dahinter stand JP Morgan und die Gründung der AEG. Der Elektrische Stuhl wurde eingeführt in dem Zusammenhang, aber eigentlich um den Gegner zu diskreditieren. Man würde es nicht ansatzweise schaffen, alle Details aufzudröseln.
Wir vereinfachen. Geschichte verbiegen für die Dramaturgie, das tun wir nicht.

Publikum 7: Steht das Archivmaterial inhaltlich in Zusammenhang mit dem, was zu sehen ist? Stammt es aus der Zeit?
Die fiktionalen Szenen sind handwerklich großartig gemacht. Aber wie soll ich als Zuschauer glauben, dass dieser Mensch, wirklich einen Korkenzieher in der Hand und anhand des Korkenziehers die Idee hatte, eine Schiffschraube zu bauen?

Engstfeld: Die Szene mit dem Korkenzieher ist verbürgt. Im Übrigen behaupten wir, dass es wahr ist. Es liegt am Zuschauer, das zu glauben oder nicht. Wir können ihm dabei nicht helfen, wir können nur versuchen, authentisch zu sein. Bei uns werden die Fakten gegenrecherchiert. Bei dem Wust an Informationen, den wir selber verarbeiten, können Fehler passieren. Aber wir versuchen, das zu vermeiden.
Das Archivmaterial ist eingeschränkt authentisch. Wir reden von 1828. Da war die Filmkamera noch nicht entwickelt. Die gezeigten Bilder sind drin, weil wir eine Geschichte erzählen müssen.
Wir pflegen einen Umgang mit Archivmaterial, über den man sich bestimmt streiten kann. Mir ist es egal, ob das die Bucht von Triest ist. Mich interessiert, ob ich eine Stimmung erzeugen kann, rauskomme aus Inszenierungen, die oft den Effekt haben, dass man klaustrophobisch wird, weil die hauptsächlich auf Innen geschrieben sind, weil im Studio gedreht wird. Wir nutzen jede Gelegenheit, und sei es mit Archivmaterial, einen Raum aufzumachen und den lokal zu verankern. Das Archivmaterial, das wir in diesen Filmen benutzen, ist nicht dieses Material zu dieser Situation. Es ist illustratives Material.

Publikum 6: Bei den fiktionalen Szenen ist jedem klar, dass sie nachgestellt sind. Glauben Sie, dass dem Zuschauer bei Archivmaterial, das Authentizität suggeriert, klar ist, dass das halt irgendeine Bucht ist?

Engstfeld: Mit Sicherheit nicht. Ich weiß aber nicht, ob das ein Nachteil ist. Was hat der Zuschauer an Erkenntnis gewonnen, wenn er weiß, es ist die Bucht von Triest im Jahr 1828. Verändert das etwas an der Erzählung des Films? Habe ich eine Lüge begangen, wenn ich dieses Material benutze, das von 1920 ist und etwas anderes suggeriere? Für mich hat das erzählerisch keine Bedeutung, weil wir sowieso eine Fiktion erzählen.

Publikum 6: Der Zuschauer denkt aber nicht, dass er eine Fiktion sieht. Es ist dem Werk nicht immanent, dass man merken müsste, dass da eine subjektive Autorenhandschrift ist, die einen Blick auf Realität vermittelt. Der Zuschauer nimmt wahr: Hier wird mir gezeigt, wie es ist. Ich finde es nicht schlimm, mich interessiert nur, wie Sie damit umgehen. Engstfeld: Wir haben es auch mit anderen Redaktionen diskutiert. Bei diesen Filmen ist das für mich kein Kriterium. Es mag bei einem anderen Stoff vollkommen anders sein.

Publikum 8: Es ist keine Lüge, aber es bewegt sich in einer grauen Zone. Es ist schon suggestiv, weil sich dieses Foto oder diese Vorlage so ganz vom Inszenierten unterscheidet. Ich bin es als Zuschauerin gewöhnt, dieser Art von Material zu glauben. Archivmaterial wirkt auf mich wie eine Zwischenstufe auf dem Weg zu Authentizität. Ich bin auf die Echtheit angewiesen und dankbar, wenn es entsprechend gemacht ist.

Publikum 1 (Filmemacher): 80er Jahre, Axel Engstfeld, »Von Richtern und anderen Sympathisanten«. Da war der Anspruch doch, aufzuklären, Dinge zu verändern. Das ist hier jetzt eine ganz andere Situation. Wie gehen Sie mit dem Zwiespalt um: hier der Autor, da das Format bzw. der Fernsehmarkt. Was bleibt für Sie?

Engstfeld: Ich mag dieses Format, weil es gutes Handwerk ist. Wir machen diese Filme nicht nachlässig. Wir gehen da mit viel Energie und Liebe rein. Sie sind anstrengend, sie kosten uns manchmal den letzten Nerv und manchmal wird es auch mit dem Budget sehr eng.
Wir machen ja auch andere Filme. Eine unserer letzten Produktionen hieß »Kanun – Blut für die Ehre« über Blutrache in Albanien. Eine Nonne versucht zwischen fünfhundert Parteien zu vermitteln, die in Blutrache gefallen sind. Ich habe einen Film gemacht über »Minik«, den Eskimojungen, der von dem Polarforscher Robert Peary nach New York verschleppt wurde, habe diese zwei Biografien gegeneinandergestellt. Das spielt um 1900 herum. Dafür haben wir übrigens authentisches Originalmaterial herangezerrt und jeden Schnipsel belegt. Aber da konnten wir auch auf Archivmaterial zurückzugreifen, denn um 1900 hat Edison New York von oben bis unten gedreht. Wir entwickeln gerade einen Dokumentarfilm über einen jungen Mann, der aus einem nordkoreanischen Gulag entflohen ist, in dem er geboren wurde und aufgewachsen ist. Das sind Filme, die ich als Herzblut-Filme bezeichne. Das muss man getrennt halten.

Gespräch Teil I

Wolf: In »Stranded – Wunder der Anden« geht es um eine uruguayische Rugbymannschaft, deren Flugzeug 1972 in den Anden abstürzte. Nach 72 Tagen lebten noch 16 der 45 Passagiere. Das hat damals großes internationales Aufsehen erregt, weil sie nur überlebt haben, indem sie das Fleisch der toten Freunde aßen und damit eines der letzten großen Tabus brachen.

Herr Arijon, Sie haben diese Geschichte 30 Jahre später erzählt, mit einigen oder allen Überlebenden?

Gonzalo Arijon: Für mich war es eine persönliche Herausforderung, mit der gesamten Gruppe zusammenzuarbeiten, da ich mit vielen der Überlebenden von Kindheit an befreundet bin. 16 Leute sind sehr viel vom dramaturgischen Standpunkt her. Die Produzenten waren ein bisschen nervös deswegen. Für mich war das unabdingbar.
Es war schwierig, sie zu überzeugen. Sie waren misstrauisch, worin das Interesse bestehen könnte, diese Geschichte nach 30 Jahren wieder zu erzählen, wieder zu beleben.

Wolf: Ihr Kameramann César Charlone ist auch unmittelbar mit der Geschichte verbunden?!

Arijon: Ohne César Charlone hätte der Film nicht so einen kreativen Input bekommen. Charlone – er ist auch Kameramann von »City of God«, »Die Stadt der Blinden« oder »Der ewige Gärtner« – ist eigentlich näher an den Protagonisten dran. Er ging in die gleiche Schule, saß neben einem der Hauptprotagonisten. César hätte damals auch dieses Flugzeug nehmen sollen. Hat er aber nicht, weil er seine brasilianische Freundin besuchen wollte, und also nach Brasilien geflogen ist statt nach Chile.

Nach der Vorführung des Filmausschnitts

Wolf (zum Publikum): Ein wirklich außergewöhnlicher Film. Ich hoffe, der gezeigte Ausschnitt hat Ihnen Appetit auf mehr gemacht.

Publikum (Lachen)

Wolf: Ich gebe zu, das war das falsche Bild. So was muss einem passieren ...

Arijon: Alle Überlebenden gehen mit sehr viel Humor damit um, was geschehen ist.

Wolf: Das erleichtert mich ein wenig.

Arijon: An dem Tag, als ich ihnen den Film gezeigt habe, wollten sie alleine sein. Es sollte auch kein Filmvorführer da sein. Danach sind sie zusammen essen gegangen. Und Gustavo Zerbino, einer der Überlebenden, sagte: »Du hast Glück, dass uns der Film gefallen hat. Sonst hätten wir dich gefressen und deine Beinchen ins Meer geworfen.«

Publikum (Lachen)

Arijon: Es ist wahr. Es ist ein Weg, um sich zu frei zu machen.

Wolf: Sie hatten so gut wie keine dokumentarischen Materialien zur Verfügung. Wie haben Sie die Geschichte umgesetzt?

Arijon: Es ist wie eine griechische Tragödie mit Happy End. Ich habe über die Jahre gesehen, wie meine Freunde mit der Geschichte umgegangen sind, wie sie ihre Erlebnisse verarbeitet haben. Das hat mich sehr inspiriert.
Für die Interviews habe ich jeden der Protagonisten gebeten, mir 24 Stunden zu widmen: einzeln, ohne Kontakt zur Außenwelt, in einem abgelegenen Ort in Uruguay. Das war für mich wie die Geburt des Wortes. Die stundenlangen Gespräche waren sehr intensiv. Ich habe die Themen der Tageszeit und der Entwicklung des Lichts angepasst. Die Ebene des Wortes sollte an einem Ort liegen, der natürlich ist, aber nicht konkret. Deswegen haben wir draußen gedreht, deswegen der Himmel als Hintergrund.
Der Film wird strukturiert durch die Interviews und die Schilderung der Reise, auf der ich die Überlebenden und ihre Kinder vor drei Jahren begleitet habe. Etwas hatte sich in ihnen nach dem 30. Jahrestag Unglücks verändert. Sie hatten den Impuls, zum Unglücksort zurückzukehren, als ob sie dort etwas verlassen hätten, das sie jetzt wieder zurückbekommen wollten. Was mich auch interessierte, war, was das in den Kindern auslöst.
Die Art der Inszenierung möchte ich nicht Reenactment nennen. Die Bilder, die ich mit César Charlone gemacht habe, sind wie gebrochene Bilder des Inneren.
Am Ende des Films setze ich bewusst das Archivmaterial ein, das zeigt, wie sie gerettet wurden. Das hat eine ganz andere Bild- und Erzählsprache als der Rest des Films.

Wolf: Die Bilder wirken wie Traumbilder. Sie sind überbelichtet, unscharf, schattenhaft. Sie sind alles, nur nicht illustrierend. Sie haben den Film nicht im Schnee gedreht, sondern in der Sanddüne?!

Arijon: Ich brauchte etwas, um den Zuschauer in ein Universum zu versetzen, das kein erzählerisches, sondern ein sensorisches ist. Deswegen habe ich diese expressionistischen Bilder kreiert.
Ich wollte irgendetwas haben, das einem kaputten Flugzeug ähnelte, Jungs, die drum herum laufen und irgendeine Art von Berg. Wir arbeiteten schließlich mit dem Budget eines Dokumentarfilms. Die uruguayische Air Force hat mir ein kaputtes Flugzeug zur Verfügung gestellt. Ich wollte es in die argentinischen Berge bringen. Dafür reichte das Geld nicht. Nach vier Monaten Grübeln sagte César

Charlone: ‚Gonzalo vergiss es. Berge sind teuer, da friert man, da kann man nicht lange arbeiten. Also, bring dieses fucking plane dahin, wo du es hinbringen kannst. Und wenn du es nirgendwo hinbringen kannst, lass es, wo es ist, und wir finden eine Form, um dort zu drehen’.
Zuerst habe ich an ein Salzdepot gedacht. Das war aber zu klein. Dann habe ich an einen Strand mit einer Düne gedacht. Als ich Charlone davon erzählte, sagte er: ‚Mit einer Düne sind wir die Beatles.’ (lacht) Schon auf der Suche nach dem Drehort hatten wir vor, überzubelichten. Wir hatten Glück, dass es auch Sandstürme gab. Sie sind durch die Art der Belichtung zu Schneestürmen geworden. Als wir das machten, hatten wir nie das Gefühl, dass wir die Menschen anlügen.

Publikum 6: Wenn es aus technischen oder finanziellen Gründen schwer war, die Vergangenheit zu inszenieren: Gab es Überlegungen, ohne diese Inszenierung auszukommen und sich nur mit dem Hier und Jetzt der Protagonisten zu beschäftigen?

Arijon: Ich hatte keinen Plan B. Ich habe den Film sehr intuitiv gemacht, mich von meinen Instinkten leiten lassen. Viele haben mich davor gewarnt, diese Szenen so zu drehen. Ich bin glücklich, dass es bei mir zum einen Ohr reinging und zum anderen wieder raus. Es gab ein Drehbuch, aber das habe ich kaum jemand gezeigt. Für mich war von Vorteil, dass ich persönlichen Kontakt zu den Protagonisten und schon ein paar Filme gemacht hatte. Die Redakteure haben mich daher nicht gezwungen, unterschiedliche Drehbuchversionen abzuliefern. Sie haben mir einfach vertraut.

Wolf: Haben Sie sich an das Drehbuch gehalten?

Arijon: Ich habe zuerst die Interviews gedreht. Dann habe ich im Rohschnitt eine Erzählstruktur aufgebaut. Ein gutes Beispiel ist der Moment, als sie von den Toten sprechen: ‚Warum haben wir überlebt und die anderen nicht?’ Ich zeige zwei leere Sitze, um die Einsamkeit, die Verlorenheit zu zeigen. Ich habe assoziativ gearbeitet.

Gespräch Teil II
Nach Vorführung des Kino-Dokumentarfilms »Stranded« von Gonzalo Arijon

Robert Krieg: Bei diesem Film ist mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden, welch starkes Mittel Reenactment im Dokumentarfilm sein kann. Er ist ein Statement für den Mensch als soziales Wesen und gegen die Individualisierung in der Massengesellschaft ist. War das so angelegt oder hat sich das im Verlauf der Dreharbeiten ergeben?

Arijon: Meine Absicht war, zu erzählen, was die Kraft einer Gruppe bewirken kann. Ein Kritiker in Uruguay fragte mich, ob dieser Film politisch gesehen ein Film der Linken ist. Irgendwie ist er das, weil Werte wie Großzügigkeit und Solidarität genau die sind, die diese Geschichte kennzeichnen.

Krieg: Man hat das Gefühl, dass die Protagonisten miteinander sprechen, obwohl sie nicht beisammen waren. Wie haben Sie das erreicht?

Arijon: Das war Schnittarbeit. Meine Absicht war, dass alles wie ein Satz wirkt. Deshalb habe ich Bilder reingeschnitten, wo sie zuhören, als ob sie sich gegenseitig belauschen.

Krieg: Bei Reenactment oder Inszenierung gibt es zwei Formen der Durchführung. In der einen wählt man eine Darstellung, die den Zuschauer zur Identifikation auffordert. In der anderen bleibt der Zuschauer Zeuge des Geschehens. Vereinfacht gesagt: Das eine ist Hollywood, das andere brechtsches Theater. Warum haben Sie sich für die zweite Form entschieden?

Arijon: Ich wollte nicht, dass man das Reenactment mit den echten Figuren verbindet. Ich habe im Schnittprozess daran gearbeitet, dass genau das nicht geschieht. Diese Sequenzen sind da, um ein Gefühl für die Situation zu erzeugen. Gestik und Handlung sind sehr reduziert. Nur wenn der Hubschrauber vorbeifliegt, springen sie so herum. Das ist einer der wenigen Momente, wo es so etwas wie eine Handlung gibt. Ich bin jetzt der Meinung, ich hätte die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem früher ziehen sollen. Von den sogenannten Reenactments würde ich jetzt 15 bis 20 Prozent der Bilder, die zu klar sind, rausschmeißen.

Krieg: Fahrige Kameraeinstellungen, Unschärfen, häufiger hat man das Gefühl, dass die Filmrolle ausgelaufen ist. Oder es gibt Blitze, Farben wechseln. Das hat in dem Augenblick etwas sehr Dokumentarisches, obwohl das die inszenierten Szenen sind. Die Kamera stellt Distanz her, damit der Zuschauer Zeuge bleibt. Vom wem kam die Idee?

Arijon: Das war von Anfang an meine Absicht, und Charlone kennt seine Kamera sehr gut. Wir haben außer mit Unschärfen mit Anfang und Ende der Super16-Filmrollen gedreht. Manchmal hat er das Magazin rausgenommen, damit Licht reinkommt. Wir hatten insgesamt nur vier Stunden Super16-Material für den Film. Bei den Szenen, die wir mit dem Flugzeugrumpf gemacht haben, hatten wir nur noch sehr wenig Material. Ich habe Charlone die Freiheit gelassen, die Kamera ein- und auszuschalten, wie er Lust hatte. Wir probierten sehr viel aus. Es war ein sich Herantasten, sehr experimentell.

Krieg: Das war ihre erste Inszenierungsarbeit. Es gehören Schauspielerführung und eine Menge Dinge dazu, die man im Dokumentarfilm üblicherweise nicht macht. Wie ist Ihnen das gelungen?

Arijon: Es stimmt, das ist meine erste Arbeit mit Schauspielern. Aber nur wenige der jungen Darsteller, drei davon Söhne von Überlebenden, waren Schauspieler. Die meisten sind Schüler jener Schule, in der es mittlerweile eine Art Mythologie dieser Geschichte gibt. Wir haben uns entschieden, nicht dialogisch zu arbeiten. Das Coaching war mehr körperliche Arbeit, die auf Gestik angelegt war.

Krieg: Eine Arbeitsthese in der Vorbereitung des Symposiums lautete, dass Reenactment im Dokumentarfilm dazu führen kann, Dinge sehr zu vereinfachen, um Empathie herzustellen. Sie sind nicht in diese Falle getappt. Und doch ist die Emotionalität in Ihrem Film enorm. Er ist unglaublich berührend und stellt eine starke Beziehung zum Zuschauer her.

Arijon: Es gibt eine Kernszene, in der sie sich entscheiden, aus dem Flugzeug rauszugehen und die Körper zu zerschneiden. Es wird so erzählt, dass etwas passiert, aber man sieht nicht, was. Es wird erzählt über Gesichter, Unschärfen, Close-ups, Menschen, die sich beobachten. Die eigentliche Handlung sieht man nicht, nur die Reaktion darauf.

Krieg: Hat sich die indirekte Erzählweise während des Drehs ergeben oder haben Sie sie mit Charlone entwickelt?

Arijon: Es ging darum, wie wir überhaupt das erste Bild machen. Wir waren am Strand, 60 Leute, ein ganzes Fiction-Team. Ich schlug vor, eine weite Totale zu machen, wo die Jungs ganz klein hinten aus dem Flugzeug rauskommen. Ich hatte die Vorstellung: Alles ist überbelichtet und weit. Die erste Einstellung sollte so sein. Weit.
Ich dachte an eine Aufnahme mit Stativ. Charlone fragte nach einem Hocker, stellte sich drauf und hielt die Kamera über den Kopf, ein bisschen nach vorn gekippt. Jeder hatte einen Monitor in der Hand. Und dann sah ich es: Das Flugzeug ist hinten links oben im Bild, das Bild wackelt ein bisschen, es ist alles weiß. Und die Jungs sind ganz weit weg. Das Flugzeug ging in der Bildecke rein und raus.
Das war eine Art Erleuchtung für mich. Ich verstand, was es bedeuten kann, ein kreatives Risiko einzugehen. Die Einstellung mit Stativ hätte eine ganz andere Wirkung gehabt. Ein derart zerbrechliches Bild zu machen, hat die Vorstellung ins Unermessliche katapultiert und eine sehr persönliche und intime Dimension erreicht.

Krieg: Wer hat den wunderbaren Soundtrack geschrieben?

Arijon: Er stammt von Florencia Di Concilio, einer Komponistin aus Uruguay. Wir hatten davor vier Filme zusammen gemacht. Wir haben sehr viel miteinander über den Film gesprochen, bevor ich ihn gedreht habe. Als wir uns den Schnitt angesehen haben, haben wir kaum gesprochen. Auch sie ist eine Künstlerin, die Risiken eingeht. Dieser Film wird getragen von Menschen, die bereit waren, ein künstlerisches Risiko einzugehen.

Publikum 9: Der Film ist kleinteilig erzählt und schnell geschnitten. So ein Buch kann man gar nicht schreiben, das muss im Schnitt entwickelt worden sein.

Arijon: Ich habe gelernt, zu schneiden, bevor das Beste kommt. Ich habe an dieser Art zu schneiden Gefallen gefunden.
Es waren zehn Monate Schnitt. Drei Schnittmeister, die ich ermüdet habe. Ich hatte große Schwierigkeiten, loszulassen, den Schneideraum zu verlassen. Tausend Versionen. Die Produzenten waren besorgt und sagten: ‚Aber das ist großartig. Wieso willst du wieder und wieder Veränderungen?’ Keiner hat mehr Unterschiede gesehen.
Für mich hatte im Schneideraum die ethische Frage Priorität: Was zeige ich, was nicht? Dass sie mir etwas erzählt haben, bedeutet nicht, dass ich es ausplaudern muss. Sie haben einen Pakt geschlossen, nie zu erzählen, welche Leichen verzehrt wurden und welche die ersten waren. Zwei von ihnen haben sich im Interview verplappert. Das habe ich rausgeschnitten, obwohl es spektakulär gewesen wäre.

Publikum 10: Ich habe vor Jahren den Spielfilm gesehen und hätte nicht gedacht, dass es jetzt spannend sein könnte, den Dokumentarfilm zu sehen. Was hat Sie bewogen, den Film zu machen?

Arijon: Als die Geschichte von Hollywood verfilmt wurde, waren meine Freunde vom Ergebnis enttäuscht. Es entsprach nicht dem, was sie empfanden. Ihnen erschien es wie eine letzte Chance, es anders zu machen, zu schauen, ob die Menschen Verständnis für etwas Tiefsinnigeres haben, als das, was Hollywood daraus gemacht hat.
Ich sehe in dieser Geschichte eine universelle Geschichte, in der Leben und Tod, Solidarität, Wunder und Gott vorkommen. Es ist eine Geschichte aus der Unendlichkeit.

Veranstaltet vom Filmbüro NW in Zusammenarbeit mit der dfi gefördert vom Ministerpräsidenten des Landes NRW