Die Farbe des Geldes - Dokumentarfilme zur New Economy
am 26. / 27. Januar 2001, im Kölner Filmhaus
Der Börsenboom hierzulande resultiert aus einer demokratischen Euphorie, die auch von den manisch-depressiven Fieberkursen kaum gedämpft wird.
Start-Up's, Kursphantasie und New Economy entwickelten sich so schnell zu Alltagsbegriffen, daß manche Firmengründung kaum hinterherkam. Unternehmer sind über Nacht zu neuen Leitfiguren geworden, während die Politik tapfer um ihre Bedeutung kämpft.
Doch während die elektronischen Medien dieses Geschehen sekundieren, tut sich der Dokumentarfilm merklich schwer mit diesem Thema. Die Gründe hierfür liegen nicht nur in der Rasanz der Entwicklung, sondern sind allgemeinerer Natur. Sie reichen von grundsätzlichen Problemen bei der Visualisierung ökonomischer Strukturen über historische Traditionen des Dok-Films bis hin zur Aufmerksamkeitsverweigerung der Protagonisten.
Dennoch sind eine Reihe bemerkenswerter Filme zu diesen Themen entstanden. Sie zeugen von den Schwierigkeiten bei der Produktion dokumentarischer Bilder (Il Caso Mattei, Roger & Me), der Repräsentationskrise (Die Seele des Geldes) und dem Mythos der Börse, der entblättert (Wall Street, The Midas Formular) und in den Alltag überführt werden soll (Die EM-TV-Story, Day Trader).
Die Tagung führt in die Filme ein und vertieft das Thema mit zwei Vorträgen und einem Werkstattgespräch. Darin kommen auch Vertreter der Printmedien, die sich diesem Bereich widmen, zu Wort. Denn die Frage nach der Darstellung von unsichtbaren Vorgängen, von "invisible hands", macht auch vor den Mediengrenzen keinen Halt.
Konzeption: Mathias Heybrock, Jürgen Keiper und Petra L. Schmitz
Kontakt und Information:
Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW
Petra L. Schmitz
Mail: dfi(at)filmbuero-nw.de
12.00
Begrüßung
12.30 - 14.30
"Wallstreet" von Thomas Schadt
Deutschland 1997 (SWR), 90 Min.
Filmgespräch mit Thomas Schadt, Berlin
15.00- 16.00
Wolfram Knorr , Zürich
"Start up and down. Die Figur des Börsianers im Film"
Vortrag mit Diskussion
16.00 - 17.15
"...wo das Geld wächst! Die EM-TV-Story" von Marcus Vetter
Deutschland 2000 (SWR), 45 Min.
Filmgespräch mit Marcus Vetter, Baden-Baden
17.45 - 19.00
"Triumph of the Nerds" von Paul Sen
3-teilige Dokumentation, USA 1996 (PBS, Channel 4),
Teil 3, 58 Min. (Video)
Einführung und Filmgespräch
Stefan Reinecke, Berlin
20.00 - 22.30
"Roger & Me" von Michael Moore
USA 1989, 90 Min.
Einführung und Filmgespräch
Michael Barchet, Jena
11.00 - 12.15
"Die Seele des Geldes" von Peter Krieg
3-teilige Dokumentation,
Deutschland 1987,
Teil 1, 44 Min.
Einführung und Filmgespräch
Gerhard Bliersbach, Hückelhoven
12.30 - 13.30
>Klaus Kreimeier, Köln / Siegen
"Bildersuche im Reich der Ökonomie"
Vortrag mit Diskussion
14.00 - 15.15
"The Midas Formula" von Malcolm Clark
Großbritannien 1999 (BBC 2), 45 Min.
Filmgespräch mit Malcolm Clark, London
15.45 - 17.00
Werkstattgespräch
"Invisible hands - visible heads?"
Thomas Clark, Financial Times Dt., Hamburg
Regina Schilling / Corinna Beltz , Köln
Marie-Luise Angerer, KHM Köln
Marcus Vetter, SWR, Baden-Baden
Moderation: Petra L. Schmitz, dfi Mülheim
17.30 - 18.15
"Ein Schweinegeld - Day Trader" von Marcus Vetter
Deutschland 1999 (SWR), 45 Min.
20.00 - 22. 45
"IL caso Mattei" (Der Fall Mattei) von Francesco Rosi
Spielfilm, Italien 1972, 90 Min.
Filmeinführung und Filmgespräch
Wolfram Schütte, Frankfurt /M.
"Wallstreet"
Thomas Schadt, Dt. 1997, 90 Min. Bericht über einen Tag an der Wallstreet, über das Wechselspiel zwischen Mensch, Computer und Geld.
"Wo das Geld wächst. Die EM-TV-Story"
Marcus Vetter, Dt. 2000, 45 Min. Blick auf die Erfolgsgeschichte der Fernsehrechte-Firma EM-TV, die Vermarktung der Aktien durch Börsenauftritt und Sparkasse und wie die Hopfenbauern der Holledau, die ehemaligen Nachbarn der Haffa-Brüder, auf diese neue Geldkultur reagieren.
"...ein Schweinegeld! Daytrader"
Marcus Vetter, Dt. 1999, 45 Min. Beobachtung von fünf Daytradern, die von zu Hause aus Gewinnen und Verlieren am Computer erproben. Vetter zeigt die Alltagsumstände, Emotionen und Ansichten der Händler mit all ihren bizarren Randerscheinungen und kontrastiert die abstrakt vermakelten Kurse von Rinderhälften und Weizen mit den realen Gütern.
"Triumph of the Nerds"
Paul Sen, USA 1996, Teil 3, 58 Min. Der Film begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen des Computer-Hypes und findet sie in Garagen, Laboratorien und Vorstandsetagen des Silicon Valley. Er entwirft ein Bild, das die Faszination der Menschen für ihre Leidenschaften in den Vordergrund stellt. Es gesellt sich anekdotisches neben wissenswertes und der Film vermittelt nebenbei auch Amerikas Blick auf das Internet.
"Roger & Me"
Michael Moore, USA 1989, 90 Min. Michael Moore begibt sich auf die Suche nach Roger Smith, dem Vorstandsvorsitzenden von General Motors. Der hat gerade die Autofabriken der amerikanischen Stadt Flint aus Kostengründen schließen lassen. Der Versuch, den Menschen hinter der Entscheidung sichtbar zu machen, lässt ein Road-Movie entstehen, dessen Absurditäten sich niemand hätte ausdenken können.
"Die Seele des Geldes"
Peter Krieg, Dt. 1987, 1. Teil, 44 Min. Es geht um Geld, seine Entstehung, seine nationalökonomische und weltwirtschaftliche Bedeutung, um seinen Gebrauchswert, um rationale und irrationale Erklärungsmuster, um Schuld und Schulden und darum, wie zum Teufel, man das alles darstellen kann ...
"The Midas Formula"
Malcolm Clark, GB 1999, 45 Min. Das ist die ungewöhnliche Geschichte einer perfekten mathematischen Formel, die die Welt veränderte, die Finanzmärkte, ja selbst den Kapitalismus. Die Formel wollte das Undenkbare - das Risiko der Geldmärkte reduzieren. Den Erfindern brachte sie den Nobelpreis in Ökonomie, den Anwendern großen Reichtum. Aber die unglaubliche Geschichte endete tragisch ...
"Il Caso Mattei"
Francesco Rosi, It. 1972, 90 Min. Der Film changiert zwischen Recherche und Rekonstruktion der Geschichte von Enrico Mattei, einer schillernden Figur der italienischen Nachkriegsökonomie. Mattei, der nicht müde wurde als Leiter des staatlichen Ölkonzerns E.N.I seine politischen und wirtschaftlichen Visionen eines neuen Italien gegen viele Widerstände durchzusetzen, kam 1970 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
Es gibt zu wenig Dokumentarfilme zum neuen Börsenboom, in dem die Akteure inzwischen "kleine Leute" sind. Sie kaufen die "Volksaktien" von Telekom oder den neuen Start-up-Unternehmen in der Netzwelt wie in den Medien, z.B. die Aktien der Fernsehrechtefirma "EM-TV". Ihre Hoffnung: der "schnelle Gewinn" - auch wenn die Regel lautet "Aktien halten".
Eine neue Geldkultur ist entstanden mit der Leitfigur "Börsianer". Wolfram Knorr suchte in seinem Vortrag nach dieser Figur in früheren Filmen und fand die Manipulation wie die Irrationalität. In der neuen Geldkultur haben wir uns daran gewöhnt, steigende und fallende Kurse von Aktien als Bilder für den Wert von dahinterstehenden Unternehmen zu lesen. Neue Metaphern, die die alten sind, wie der Medientheoretiker Klaus Kreimeier ausführte, Aktienkurven und Fieberkurven sind ähnlich, und sie sind Ausdruck für Erwartung und Erregung. Ein psychologischer Boden, auf dem die Auf und Abs der Neuen Ökonomie stattfinden, dargestellt u.a. in den Filmen "Wallstreet" von Thomas Schadt (Deutschland 1997) oder in "Midas Formula" (Großbritannien 1999).
Es geht also um Bilder, um die Metaphern, ständig verbreitet durch die Medien. Was kann, was soll das dokumentarische Arbeiten in diesem komplexen Zusammenhang, der sich zudem in den Netzen abspielt? Wie können Netzökonomien und Bewegungskräfte visualisiert werden, war die eine Frage der Veranstaltung? Auf diese Fragen gab u.a. der Vortrag Klaus Kreimeiers "Bildersuche im Reich der Ökonomie" verschiedene Antworten mit seinen Ausführungen über die Bildsprache in der Tauschgesellschaft, zur Theorie des Bildes, zum technischen Bild und zum Dokumentarfilm. Die andere war: Wer sind die Teilnehmer an der neuen Geldkultur und wie verändert sich das Bild des Unternehmers?
Es waren die Filme von Marcus Vetter "Daytrader" (SWR 1999) und "Die EM-TV-Story" (SWR 2000), die den Umgang mit Aktienkauf und den Beruf des Daytraders im Alltag darstellten. Der Film "Triumph of the Nerds" (USA1196) erzählte die technikhistorische und heldische Legende der Gründer von Microsoft und Apple. In der Filmeinführung fragte Stefan Reinecke, ob die Sprache, in der diese Legende präsentiert wird, immer die Sprache von Gründergenerationen ist. Es ist eine Sprache, geprägt durch theologische Metaphern, wie die "Suche nach dem heiligen Gral" bis zur "Neuschöpfung" der Welt. Den Kontrast dazu bot der Film "Der Fall Mattei" von Francesco Rosi, (Italien 1972). Er zeichnete Anfang der 70er Jahre ein Porträt, in dem ein Unternehmer der nationalen Ölindustrie des Nachkriegsitaliens eine soziale und politische Utopie hat.
"Roger & Me" (USA 1989), der Road-Movie von Michael Moore, ist geprägt von der Suche nach einem Vorstandsvorsitzenden und seiner sozialen Verantwortung für unternehmerische Entscheidungen. In der Filmeinführung betonte Michael Barchet die Schule des neuen Dokumentarismus in den USA, der mit diesem erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten, in die Kinos gebracht vom Vertrieb der Warner Bros., begann. Er stellte gleichzeitig die Frage, ob mit dem Beginn des virtuellen Raums in der Ökonomie und der Reduktion von personeller Verantwortung die Gattung des Dokumentarfilms ihre Grenzen überschreitet und Anleihen beim Spielfilm macht. Einer Frage, die auch Klaus Kreimeier in seinem Vortrag aufgriff. Gemeinsames Kennzeichen der Filme von Vetter bis Moore ist die Suche nach den realen Referenten für virtuelle Inhalte - Michael Moore sucht den realen Roger Smith, Vetter die realen Schauplätze für die Güter, die am Computer nur noch als Optionen gehandelt werden.
Die Filmeinführung von Gerhard Bliersbach zu "Die Seele des Geldes" von Peter Krieg (Deutschland 1987) schließlich bot eine psychoanalytische Theorie einer Gesellschaft, die sich dem Gewinn verschrieben hat. Seine Ausführungen warfen ein Licht auf die psychosoziale Bedeutung kursierender Fantasien, die Wirklichkeiten herstellen. Gruppenfantasien über Lebensbedingungen, über Gewinn, Markt, Macht und Schuld.
Die Dokumentarfilmszene, die RedakteurInnen in den Fernsehanstalten haben mitunter Vorbehalte gegen Themen, die sich mit Gewinn und Geldmacht befassen, mit Aktienmillionären und deren Lebensbedingungen - auch wenn sie längst zur Leitfigur der Zeit geworden sind. Daß aber Dokumentarfilme über diese Leitfiguren längst notwendig sind, war das Ergebnis des Werkstattgesprächs. Dokumentarisches Arbeiten stellt die Leitfiguren in ihren lebenshistorischen Kontext und entblättert allein dadurch schon Mythen und kollektive Fantasien. Freilich bleiben die Suche nach Bildern und eine umfangreiche Recherche, die manchmal durch die sich überschlagenden Wirtschaftsentwicklungen überholt wird, Voraussetzung und Anforderung an zukünftige Dokumentarfilme über die "New Economy".
Petra L. Schmitz, dfi
Vorträge
Bild 1: DEUTSCHE BÖRSE
Wenn wir uns darauf verständigen können, dass Bilder notwendige Konstruktionen sind, mit deren Hilfe wir miteinander über die Beschaffenheit der Welt kommunizieren, dann wäre es erstaunlich, wenn es keine Bild-Konstruktionen gäbe, die uns helfen, das Reich der Ökonomie oder die Börse zu verstehen - oder genauer: ihrer ansichtig zu werden.
Die Homepage der Deutschen Börse verfügt über eine ”Parkettkamera”, mit deren Hilfe der Netzbesucher zwischen 9 und 20 Uhr das Börsengeschehen beobachten kann. Das wird ihm jedenfalls versprochen. Doch wenn er die DAX-LIVE-Börsenkamera anklickt, kann es
ihm geschehen wie mir: er wird aus dem Saal gewiesen, bevor er ihn betreten hat. ”Forbidden!” lautet die barsche Auskunft. ”You don't have permission to access or to see the dax on this server”.
Wie also kann man den Dax SEHEN ? Kann man überhaupt den Dax oder den Dow Jones Index oder den Nemax oder die amerikanische Technologiebörse Nasdaq sehen? Und wie könnten die Bilder aussehen, die wir uns von den Realitäten des neuen weltweiten Wirtschaftens machen?
Aufbau:
1. Kleiner Exkurs über die Bildsprache der Tauschgesellschaften
2. Anmerkungen zur Theorie des Bildes
3. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm
4. Ein Blick zurück in die Geschichte der Fotografie
5. Bildbetrachtung: Ein Foto der Wallstreet
6. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm, zweiter Teil
7. Analyse einer Dokumentarfilm-Sequenz (em-tv)
1. Kleiner Exkurs über die Bildsprache der Tauschgesellschaften
Ökonomische Prozesse sind Spielanordnungen, die über ihre eigenen Zeichensysteme verfügen. Da Ökonomie auf Kommunikation basiert, sind, wie in allen anderen Kommunikationen, Codes erforderlich. Wo gehandelt wird, wird bereits in Bildern, in Verbildlichungen gesprochen. Wenn Naturalien getauscht werden, sind die Gegenstände selbst zugleich Bilder oder Codes des Tauschvorgangs, der ja darin besteht, dass Äquivalente getauscht werden. In der Geldwirtschaft drücken Scheine und Münzen eben dieses Äquivalent aus und ermöglichen eine Kommunikation, die Warenverkehr, Absatz und Umsatz heißt. Der Geldschein ist ein Bild und zugleich eine hochkomplexe Abstraktion, die erst auf einer bestimmten Stufe der Zivilisation möglich, dann aber auch notwendig wurde.
4000 v. Chr.wurden in China noch Perlen und kleine Nachbildungen von Geräten als Zahlungsmittel benutzt. 600 v. Chr. tauchten in Kleinasien die frühesten bekannten Edelmetallmünzen auf. Dreihundert Jahre später ließ Alexander der Große erstmals in bedeutendem Umfang Münzen prägen. Münzen simulieren gleichsam das Äquivalent; Grundlage ist die Übereinkunft, dass Gold alle Güter „aufwiegen“ kann. Zugleich formulieren die Imperatorenköpfe auf den Münzen das Machtverhältnis: politische Herrschaft und Münzherrschaft sind kongruent.
1661 druckt die Schwedische Bank wegen Mangels an Münzen das erste Papiergeld Europas. Das ist auch eine Wendung von der Kodifizierung der Verbildlichung zur Schriftkultur; dem Papier muss aufgedruckt werden, für welches Äquivalent es zu stehen hat. Banknoten sind Urkunden, beglaubigt durch die in Kupfer gestochenen Unterschriften derer, die in einem Staat die Finanzhoheit innehaben.
Gold- und Papierwährung kämpfen in den folgenden beiden Jahrhunderten gegeneinander, als führten zwei unterschiedliche Kulturen, zwei unterschiedliche Symbolsysteme Krieg. Seit 1968 haben wir den Euroscheck, bald wird die Euroscheck-Karte eingeführt. Jede Scheckkarte enthält einen kleinen Computer, der uns anschließt ans globale Netz, an die Datenautobahn.
Schon 1409 öffnete die erste Börse Europas in Brüssel; ein frühes Signal für die höhere Konzentration und eine neue Beschleunigung im Kapitalverkehr. Auf der Börse aber werden die Zahlungsmittel, die selbst Symbole darstellen und eine Kommunikationsform der Tauschgesellschaft darstellen, unsichtbar. Das Geld, verstanden als Bild-System, wird virtuell; es ist nicht mehr greifbar, es ist auch nicht mehr sichtbar.
Unsichtbar und dennoch „abbildbar“ ist die Bewegung des Kapitals, die ihre eigenen Konnotationsysteme findet – etwa in der Aktienkurve, die darum, als Bildzeichen, so populär ist, weil sie den Fieberkurven der Mediziner gleicht. Die Bilder werden zu Diagrammen. Aktien- und Fieberkurven drücken Hausse und Baisse aus, die Schicksale, die unser Vermögen und unseren Körper befallen. Aber sie sind ein noch stärkeres Bildzeichen für unsere Erregung, unsere Erwartungen und Befürchtungen, die wir am Krankenbett oder als Aktionäre empfinden.
Noch einmal: Wie sehen die Bilder aus, die wir uns von uns von der „New Economy“ machen könnten?
2. Anmerkungen zur Theorie des Bildes
Um zu prüfen, ob diese Frage überhaupt einen Sinn hat, will ich zunächst versuchen, meine Eingangsthese zu präzisieren. Mit Hilfe von Bildern kommunizieren wir nicht über die Beschaffenheit der Welt, sondern wir vergewissern uns der Tätigkeit unserer Sinne. Wenn
wir ein Bild betrachten, vollbringen wir eine Konstruktionsleistung, die darin besteht, dass wir eine Relation zwischen der Arbeit unserer Sinnesorgane und der Struktur der Wirklichkeit herstellen.
Wenn wir ein Bild betrachten, sehen wir - und zugleich wissen wir, dass wir sehen. Ein Bild ist Gegenstand unserer Wahrnehmung - und zugleich Instrument unserer Reflexion. Der Reflexion liegt eine unbewiesene und unbeweisbare Annahme zugrunde: dass wir in der
Lage seien, mit Hilfe unserer Sinne die Welt so wahrzunehmen, "wie sie ist". Wir benötigen dieses Axiom, um uns mit der Natur auseinanderzusetzen und als soziale Wesen in Aktion zu treten.
Wenn wir sehen und gleichzeitig wissen, dass wir sehen, konstruieren wir uns also als mit Sinnen begabte und sinnlich wahrnehmende Wesen, die in der Lage sind, zutreffende Sinneseindrücke aufzunehmen und sinnvoll zu handeln. Seit den frühen Höhlenzeichnungen haben Bilder die Funktion, diese Selbst-Konstruktion zu gewährleisten. Im Betrachten von Bildern erschaffen wir uns selbst.
Man sollte annehmen, dass die Technisierung der Bilder seit Erfindung der Fotografie dazu beigetragen hat, unsere Selbst-Konstruktionen zu festigen und sie auf ein stabileres Fundament zu stellen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Fotografie, der Film, die
elektromagnetische Aufzeichnung, alles "Dokumentarische" hat den Prozess, in dem wir uns selbst als wahrnehmende Subjekte erschaffen, nicht optimiert, sondern ihn eher untergraben. Je genauer die Bilder das, was wir für Wirklichkeit halten, abzubilden scheinen, desto größer werden unsere Zweifel – und desto bohrender unsere Fragen nach der Konsistenz dessen, was wir sehen. Und desto vergrübelter die Frage, die schon Plato und dann die frühen Kirchenväter beschäftigte: Was ist das eigentlich – ein Bild?
Die technischen Bilder haben unsere Aporien vertieft. Unsere Wahrnehmungsinstrumente sind komplexer geworden, aber auch das Bewusstsein der Differenz hat zugenommen: Wir nähern uns der Einsicht, dass der Abstand zwischen der Tätigkeit unserer Sinnesorgane und der Struktur der Wirklichkeit unendlich ist. Ohne zu übertreiben, können wir daher sagen: mit Hilfe der technischen Medien konstruieren wir uns als Subjekte in einer nicht zugänglichen, letztlich "unsichtbaren" Welt.
Um sie bewohnbar zu machen und uns in ihr orientieren zu können, haben wir die Welt "kodifiziert", wie Vilém Flusser sagt. Und er liefert die Definition des Codes gleich nach: "Ein Code ist ein System aus Symbolen. Sein Zweck ist, Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. (...) Menschen müssen sich miteinander durch Codes verständigen, weil sie den unmittelbaren Kontakt mit der Bedeutung der Symbole verloren haben. Der Mensch ist ein 'verfremdetes' Tier, muss Symbole schaffen und sie in Codes ordnen, will er den Abgrund zwischen sich und der 'Welt' zu überbrücken versuchen."
Mit Blick auf die Jagdszenen der Höhlenmalerei spricht Flusser von jenem Potential an Imagination, das erforderlich ist, um die "Welt" mit ihren "vierdimensionalen Raum-Zeit- Sachlagen" auf zweidimensionale Szenen zu reduzieren und sie so zu kodifizieren. Umgekehrt ist Sachverstand - sozusagen: Medienkompetenz - erforderlich, um die so entstandenen Szenarien zu entziffern und sie als Verschlüsselungen von "Sachlagen" zu lesen. Flusser vergleicht sie mit "Landkarten" und weist damit darauf hin, dass Bilder - verstanden als "analoge" Repräsentationen im Sinne des fotografischen "Realismus" - im Grunde nur einen Sonderfall im System unserer Kodifizierungen darstellen.
Vor der Erfindung des Buchdrucks waren Bilder die dominierenden Kommunikationsmittel, die allgemein gebräuchlichen Mittel zur Kodifizierung der Welt. Fünfhundert Jahre dominierte der Buchdruck und mit ihm die Schrift die Kommunikation und die Kodifizierungsmuster. Und erst seit etwa 150 Jahren sprechen wir vom Bild emphatisch im Sinne des fotografischen Abbilds, dem wir "Naturtreue", d.h. eine Strukturanalogie zwischen dem Abgebildeten und dem Reflex auf unserer Netzhaut zuschreiben.
Heute sind es wieder Bilder, die uns "programmieren", wie Flusser sagt: In diesem Sinne - allerdings nur in diesem - könne "unsere Lage als Rückkehr ins Mittelalter gedeutet werden, sozusagen als ein retour avant la lettre." Der wesentliche Unterschied: "Vor-moderne Bilder sind Produkte des Handwerks ('Kunstwerke'), nach-moderne sind Produkte der Technik." Darin versteckt sich die These, dass die technischen Bilder, über die wir seit 150 Jahren verfügen, mit den Bildern aller früheren Epochen kaum etwas gemeinsam haben. Die technischen Bilder sind definitiv Kodifizierungsmuster nach dem Zeitalter der Schrift.
Dabei ist das Zeitalter der Schrift noch gar nicht abgeschlossen. Die Logik der Schrift hat das historische Bewusstsein und das wissenschaftliche Denken, mit ihm auch die Technik hervorgebracht. Das Problem besteht darin, dass wir heute mit den Kategorien des
historischen und wissenschaftlichen Denkens über "neue" Bilder, über technische Bilder sprechen, die aus der prozessualen Logik der Schrift hervorgegangen sind, sich aber gleichzeitig vom Zeitalter der Schrift abzusetzen beginnen.
Die Schrift, wie sie sich in Mesopotamien entwickelt hat, nennt Flusser ein "Aufrollen des Bildes in Linien", einen Schritt "hinaus aus dem Bild und hinein in ein gähnendes Nichts", einen Schritt in die Abstraktion. Texte sind, so verstanden, geschriebene Bilder - sie sind "um einen Schritt weiter vom konkreten Erlebnis entfernt als Bilder" (67); sie sind sozusagen Landkarten höherer Ordnung, weil sie, anders als Bilder, nicht synchron, sondern dia-chron organisiert sind und linear entziffert werden müssen.
Der Sieg der Texte über die alten Bilder war, so Flusser, der Sieg der Wissenschaft über die Magie. Auf dem Höhepunkt der Schrift- und Textkultur, im 19. Jahrhundert, traten "neue" Bilder, mechanisch-technisch erzeugte Bilder auf: die Fotografie, bald danach das bewegte Bild des Films und wieder etwas später das elektromagnetisch aufgezeichnete und in "Echtzeit" gesendete Bild des Fernsehens und der Videokamera, mit deren Hilfe wir uns heute als Privatleute der Tätigkeit unserer Sinne zu vergewissern suchen und uns als wahrnehmende Subjekte konstruieren. Seit dem späten 20. Jahrhundert haben wir es nun mit "ganz neuen" Bildern zu tun, mit den programmierten Bildern aus dem Rechner, die uns umzingeln, während wir uns eingestehen müssen, dass wir ihre Bedeutung noch gar nicht kennen.
Konkret und angewandt auf unser Thema heißt das: Wenn wir uns auf eine "Bildersuche im Reich der Ökonomie" begeben, halten wir, wie sollte es anders sein, zunächst nach Dokumentarfilmen Ausschau. Dokumentarfilme verbürgen Solidität und Seriosität. Sie gehören dem Bereich der technischen Bilder an, mit denen wir seit etwa 150 Jahren vertrauten Umgang pflegen und die wir zu entziffern gelernt haben. Dokumentarfilme - das haben wir in den letzten einhundert Jahren gelernt - basieren auf einem Versprechen und einem ungeschriebenen Vertrag.
3. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm
Das Versprechen lautet: die Bilder eines Dokumentarfilms stellen eine maximale Annäherung zwischen der Aufnahmetechnik und der prozesshaften Wahrnehmungstechnik her, mit deren Hilfe wir uns als handelnde Subjekte in der Welt konstruieren - oder, skeptischer
ausgerückt: mit deren Hilfe wir den "Abgrund zwischen uns und der Welt" überbrücken. Auf diesem Versprechen wiederum basiert der ungeschriebene Vertrag zwischen dem Dokumentarfilmproduzenten und seinem Zuschauer. Der Vertrag hat zum Inhalt, die wahrgenommenen Bilder als wahr zu nehmen, als Abbilder eines Sachverhalts und als Belegstücke einer ungeprüft vorausgesetzten, ontologisch nicht in Frage gestellten "Wirklichkeit". Der Vertrag zwischen dem Dokumentarfilmproduzenten und seinem Zuschauer basiert auf Vertrauen.
Gäbe es dieses Versprechen und diesen Vertrag zwischen den Beteiligten nicht, würde der Dokumentarfilm nicht funktionieren. Er funktioniert somit innerhalb einer von allen Beteiligten akzeptierten Konstruktion, in deren Rahmen man ein gemeinsames Kodifizierungsmuster vereinbart hat. Die Konstruktion hat ihre Spielregeln; sie bricht zusammen, wenn die Regeln von den Mitspielern nicht eingehalten werden - wenn z.B. der Zuschauer von der Darstellung einer gesellschaftlichen Konfliktsituation in einem Dokumentarfilm eine märchenhafte Auflösung erwartet. Märchenhafte Lösungen sind durchaus ein Code, mit dem wir uns über Wirklichkeit verständigen und den Abgrund zwischen uns und der Welt überbrücken. Aber sie gehören nicht zu den Codes, über die
der Dokumentarfilm verfügt.
Folgen wir Flusser, wurzelt allerdings sowohl das Versprechen als auch der ungeschriebene Vertrag auf einem Missverständnis, auf einer Unkenntnis der technischen Bilder. Er schreibt: "Eine Fotografie ist nicht das Bild eines Sachverhaltes, wie es das traditionelle Abbild ist, sondern sie ist das Bild einer Reihe von Begriffen, welche der Fotograf in bezug auf eine Szene hat, die einen Sachverhalt bedeutet." (70)
Zwischen das technische Bild und den Sachverhalt schiebt sich also der Begriff - eine Errungenschaft der Schriftkultur. In diesem Sinne sind die technischen Bilder - also auch die Bilder eines Dokumentarfilms - mit allem Nachdruck Kodifizierungsmuster nach dem Zeitalter der Schrift zu nennen: ihre Grundlage sind historisches Bewusstsein und wissenschaftliches Denken, und ihre Funktionsweise kommt nicht ohne den Begriff aus, der gleichsam den angenommenen "unverstellten" Blick auf einen Sachverhalt verfremdet. Wir sehen nicht den Sachverhalt, wir sehen seinen Begriff. Das Bild eines Arbeiters an einer Maschine ist nicht das Bild eines Sachverhalts, sondern das Bild eines Begriffs, den der Fotograf oder der Filmmacher von dieser Szene hat, und das Produkt einer Reihe komplizierter Vorkehrungen, die er trifft, um seinen Begriff "in Szene” zu setzen.
4. Ein Blick zurück in die Geschichte der Fotografie
Es scheint, als habe es in den frühesten Tagen der Fotografiegeschichte noch eine Ahnung vom Primat der Schriftkultur gegeben. Das älteste Foto ist ein Bild der Schrift – das hat Hubertus von Amelunxen herausgefunden, der ein wunderbares Buch über William Henry Fox Talbot gestaltet hat, den ersten Fotografen, der von seinen Camera obscura- Aufnahmen Positivabzüge hergestellt hat - im Gegensatz zur Daguerreotypie, bei der jedes Bild ein Unikat war. Das älteste Foto Talbots zeigt einen handschriftlichen Vermerk des Fotografen.
Ein Selbst-Porträt, in dem sich der Fotograf über seine Handschrift, d.h. über einen anderen, älteren Code definiert.
Bild 2: TALBOT-FOTO
Auch das älteste noch vorhandene Negativ stammt von William Henry Fox Talbot, es wurde im August 1835 hergestellt. Hubertus von Amelunxen schreibt dazu in seinem Talbot-Buch:
”Es ist eine Ansicht des Erkerfensters in der Südgalerie von Lacock Abbey. Das ungefähr 1,6 mal 1,6 cm große Bild hat auf dem unbelichteten Papier links die Aufschrift: ”Gitterfenster (mit der Camera obscura) August 1835 - Sofort nach Anfertigung konnten die Glasquadrate, ungefähr 200 an der Zahl, unter Zuhilfenahme eines Vergrößerungsglases gezählt werden.”
Die Schrift muss somit beglaubigen, was der Betrachter mit unbewaffnetem Auge nicht sehen kann. Die Schrift, die sich aus den alten Bildern entwickelt hat, die (wie Flusser sagt) das Bild in Linien ”aufgerollt” hat, um zur Schrift zu werden – diese Schrift dirigiert den Betrachter beim Betrachten des Bildes, und sie bestimmt die Politik des Bildes. Dies gilt auch in einem strikt politischen Sinn, wenn wir an die Bedeutung von Bild-Legenden denken, denen die politische Definition dessen, was auf dem Bild zu sehen ist, obliegt. Wäre dem nicht so, wäre um die Bildlegenden etwa der Wehrmachtsausstellung nicht einso erbitterter Streit entbrannt.
Aber nicht nur als Legende, auch als Bildobjekt behält die Schrift, dieser aus dem Bild abstrahierte Code, die alte Faszination. Noch als der Naturwissenschaftler und Politiker Dominique François Arago am 5. Juli 1839 in seinem Bericht vor der Pariser Academie des Sciences den Daguerreotyp vorstellte und den Ankauf der neuen Erfindung durch den Staat empfahl, feierte er mit überschwenglichen Worten die Fähigkeit der Fotografie, nicht etwa ”Wirklichkeit”, sondern kodifizierte Wirklichkeit, also Symbolsysteme abzubilden. Gleich zu Beginn seiner berühmten Rede führte Arago folgendes aus:
”Nachdem Sie mehrere Bilder gesehen haben, wird wohl jeder daran denken, welch ungeheuren Nutzen die ägyptische Expedition aus einem so genauen und so schnellen Reproduktionsmittel hätte ziehen können; jedem wird die Idee einleuchten, dass die Kenntnis des fotografischen Verfahrens im Jahre 1798 uns eine große Zahl der geheimnisvollen Tafeln überliefert hätte, welche die Habgier der Araber oder der Vandalismus gewisser Reisender für immer der gelehrten Welt entzogen haben. Um die Millionen und Aber-Millionen Hieroglyphen zu kopieren, die auch nur die Außenseiten der Denkmäler von Theben, Memphis, Karnak usw. bedecken, bedarf es Dutzender von Jahren und einer Legion von Zeichnern. Mit dem Daguerreotyp könnte ein Mann diese Aufgabe bewältigen. Man rüste das ägyptische Institut mit zwei oder drei Apparaten Daguerres aus - und auf den Tafeln des berühmten Reisewerks, das die Ergebnisse unserer unvergesslichen Expedition sammelt, werden im großen Ausmaß wirkliche Hieroglyphen die fiktiven und konventionellen Zeichen ersetzen. Diese Zeichnungen werden an Detailtreue und Lokalkolorit die Werke der größten Maler übertreffen. Und da die fotografischen Bilder nach den Regeln der Geometrie entstehen, erlauben sie, dass man mit Hilfe einer gegebenen Größe die genauen Abmessungen der höchsten und unzugänglichsten Gebäudeteile rekonstruieren kann.”
Die Fotografie steht hier also zum einen als Reproduktionsmedium für Hieroglyphen; ihr wird die Last einer Jahrtausende alten Schriftkultur aufgebürdet. Zum andern fungiert sie als Rekonstruktionsmedium der geometrischen Regeln, der Perspektive: das
Wahrnehmungsdispositiv, mit dessen Hilfe wir räumliche Wirklichkeit konstruieren, soll von der Fotografie beglaubigt werden. In dieser sehr frühen Phase – von der Walter Benjamin ja gesagt hat, dass sie vor aller Kommerzialisierung das Wesen und die Potenzen des
neuen Mediums am reinsten zum Ausdruck gebracht habe – zeigt sich die Fotografie, das technische Bild, im Bann der Schrift, des begrifflichen Denkens und der neuzeitlichen Wissenschaft, die die Geometrie, das perspektivische Sehen und die Technik hervorgebracht hat. Es geht, im ganz physischen Sinne, um die Abbildung von Begriffen, von Codierungsmustern, also von Abstraktionsleistungen.
Bild 3: WALLSTREET
5. Bildbetrachtung: Ein Foto der Wallstreet
Das Foto einer Börse ist nicht das Abbild des Börsengeschehens, sondern das Bild seines Begriffs. Diese These lässt entfernt an Brechts berühmtes Diktum denken, das Foto der AEG oder der Krupp-Werke ergebe ”beinahe nichts über diese Institute”; die ”eigentliche Realität” sei ”in die Funktionale gerutscht”. Aber Brecht verrät mit seiner These nur, dass er über einen spezifischen Begriff der Realität verfügt, den er in einem Foto der AEG in der Tat vergeblich sucht. Sein Begriff heißt ”Ausbeutung” oder ”die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen” – und er findet diese Begriffe in der Fotografie nicht wieder: Einfache Wiedergabe der Realität, dies ist seine Schlussfolgerung, sage über die Realität nichts aus.
Aber keine Fotografie ist eine ”einfache Wiedergabe der Realität”. Auf einem AEG-Foto von 1930 schieben sich zwischen Realität und Wahrnehmung die Begriffe des Fotografen und der Bildbetrachter – Begriffe wie ”modernes Bauen”, ”Industrie” oder gar: ”Elektrizität”. Abstraktionen somit, die der Fotograf in Szene setzt, indem er eine Reihe komplexer technischer Vorkehrungen trifft.
So verstanden, ist ein Foto der Wallstreet nicht das Abbild einer Straße in South Manhattan. Das Straßenbild, das wir sehen, sagt uns vielmehr: ich bin die amerikanische Börse – ebenso wie wir den Begriff WALLSTREET nicht als Straßennamen interpretieren, sondern als Abstraktion, als Synonym für Börse lesen. Für die Konstruktion des Begriffs Börse bietet die fotografische Technik technische Parameter an, die längst semantisch codiert sind: eine spezifische Kameraperspektive, die Effekte des Filters, die Beleuchtung der Szene, die Möglichkeiten der nachträglichen Bildbearbeitung, mit der ich vordergründig das Abbild einer urbanen Topographie, ganz gezielt jedoch den Begriff ”Börse” bearbeiten und ihm Konnotationen hinzufügen kann: Hausse und Baisse, Aufschwung oder Depression, Vertrauen auf die Stabilität der Aktienkurse oder Entsetzen über deren Verfall. Heute hat sich das Fernsehen der Verbreitung kodifizierter, zu Begriffenen geronnener Wirklichkeit verschrieben: Wir erkennen ein Foto der Wallstreet wieder, weil wir es aus dem Fernsehen kennen und als visualisierten Begriff zu lesen gelernt haben.
Es gibt Zeichensysteme, die uns das Innere der Wallstreet, das Funktionieren der Finanzwelt verbildlichen wollen.
Bild 4: Wallstreet on-line
Zu diesem Zeichensystem gehört noch etwas anderes, das ich nicht zeigen kann, weil wir nicht „on-line“ sind: das Geflicker und Geflacker der Werbung, der sog. „Banner“ auf einer solchen Internet-Seite. Auf den ersten Blick bewegen wir uns in einem Feld der Schriftkultur: es dominieren Zahlen und Buchstaben. Sie bilden einen Teppich, dem eine Struktur eingeschrieben ist - eine Struktur, die dechiffriert werden muss, bevor der Bildbetracher, der heute „user“ genannt wird, dieses Zeichensystem nutzen kann. On-line aber bedeutet: Leben im Hypertext. Wir bewegen uns hier auf der Startseite einer Reise, die - ihren technischen Möglichkeiten nach - uns den tendenziell unendlichen Kosmos des Datenuniversums, genannt „word wide web“, anbietet. Ich will nur so viel andeuten, dass es hier nicht mehr um die alte Konstellation Bild oder Schrift (Bild gegen Schrift) geht. Es gibt etwas neues: den Text im Zeitalter seiner Gestalt als multimedialer Hypertext, in dem die alten Medien aufbewahrt - und zugleich verschwunden sind. Sie sind noch da, die Bilder und Schriftzeichen, Filme und Töne, aber sie haben ihre Substanz aufgegeben und an ein neue Struktur delegiert.
Können wir den Dax sehen? – noch immer drängt diese Frage nach Beantwortung. Der Deutsche Aktien-Index ist eine Konstruktion, ein hochkomplexes Spiel. Die Homepage der Deutschen Börse gaukelt vor, wir könnten mit Hilfe ihrer ”Parkettkamera” dieses Spiel ”live” auf dem Bildschirm unseres Computers beobachten. Sie suggeriert uns, das Börsengeschehen sei eine Narration, eine Geschichte, die sich in Bildern erzählen lässt.
Damit schlüpft das Internet ins Bewusstsein und ins Kostüm des Dokumentarfilmers – der Service, den das Netz uns anbietet, heißt ”teilnehmende Beobachtung”. Es ist ohne weiteres denkbar, dass der Webmaster, der die Homepage der Deutschen Börse eingerichtet hat, die Filme von Klaus Wildenhahn oder gar von Leacock kennt und sich mit den Theorien des ”direct cinema” beschäftigt hat. Ja, es ist nicht auszuschließen, dass dieser Webmaster vor langer Zeit einen Text von Alexander Kluge in der Hand gehalten und womöglich gelesen hat. Ich vermute allerdings, er hat ihn ziemlich schnell wieder vergessen.
6. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm, zweiter Teil
Alexander Kluge, ein großer Liebhaber und ebenso gründlicher Skeptiker des dokumentarischen Films, schrieb 1975 in ”Gelegenheitsarbeit einer Sklavin”:
Ein Dokumentarfilm wird mit drei "Kameras" gefilmt: der Kamera im technischen Sinn (1), dem Kopf des Filmemachers (2), dem Gattungskopf des Dokumentarfilm- Genres, fundiert aus der Zuschauererwartung, die sich auf Dokumentarfilm richtet (3). Man kann deshalb nicht einfach sagen, dass der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet. Er fotografiert einzelne Tatsachen und montiert daraus nach drei, z.T. gegeneinanderlaufenden Schematismen einen Tatsachenzusammenhang. Alle übrigen möglichen Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge werden ausgegrenzt. Der naive Umgang mit Dokumentation ist deshalb eine einzigartige Gelegenheit, Märchen zu erzählen. Von sich aus ist insofern Dokumentarfilm nicht realistischer als Spielfilm.
Erinnern wir uns noch einmal an Vilém Flusser: "Ein Code ist ein System aus Symbolen. Sein Zweck ist, Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. (...) Menschen müssen sich miteinander durch Codes verständigen, weil sie den unmittelbaren Kontakt mit
der Bedeutung der Symbole verloren haben.” Kluges Dokumentarfilm-Skepsis lässt sich unschwer an diese Überlegung Flussers ankoppeln. Jeder weiß es: auch die Dokumentarfilmkamera ist ein Instrument der Kodifizierung. Sie reduziert, wie bereits die Höhlenmalerei, "vierdimensionale Raum-Zeit-Sachlagen" auf zweidimensionale Szenen – darin besteht ihre Kodifizierungsleistung, die nichts anderes als eine Abstraktionsleistung ist. Wäre die Kamera ihrer reinen Technizität überlassen, würde sie ausschließlich technisch funktionieren – d.h. sie würde sich auf die technische Reduktion der Vierdimensionalität auf zweidimensionale Abstraktionen beschränken, oder, populär formuliert: sie würde wiedergeben, was sie ”sieht”.
Aber die Kamera ”im technischen Sinn” ist nicht sich selbst oder ihrer reinen Technizität überlassen. Es gibt eine zweite Kamera: den Kopf des Filmemachers. Der Kopf des Filmemachers will eine Kommunikation mit anderen Köpfen herstellen, d.h. er will sich mit ihnen durch Codes verständigen. Er will über die Sachlage vor seiner Kamera etwas aussagen, aber die Sachlage hat sich in seinem Kopf, in dieser zweiten Kamera, längst zu Begriffen verdichtet.
Flusser sagt: "Eine Fotografie ist nicht das Bild eines Sachverhaltes, wie es das traditionelle Abbild ist, sondern sie ist das Bild einer Reihe von Begriffen, welche der Fotograf in bezug auf eine Szene hat, die einen Sachverhalt bedeutet." Kluge sagt: ”Man kann deshalb nicht einfach sagen, dass der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet.” Hier begegnen sich zwei skeptische Haltungen – beide umschreiben eine komplexe Anordnung, in der Missverständnisse, Nicht-Verstehen, auch die Lüge (das Märchenerzählen) nicht nur möglich, sondern durchaus üblich sind. Der Webmaster der Börsen-Homepage will uns ein Märchen erzählen – und er bedient sich, unter Bedingungen der digitalen Technik und der Interaktivität, des dokumentarischen Instrumentariums.
Die Anordnung wird dadurch nicht einfacher, dass sich eine dritte Kamera hinzugesellt: der ”Gattungskopf des Dokumentarfilm-Genres”, fundiert auf der Erwartung des Zuschauers, der mit dem Dokumentarfilmer einen ungeschriebenen Vertrag abgeschlossen hat und vertrauensvoll auf die Leinwand oder auf den Bildschirm blickt: Er meint ja zu wissen, was ein Dokumentarfilm ist und was er von ihm erwarten darf. Er meint das zu wissen, weil er andere Dokumentarfilme gesehen hat. Er hat einen Genre-Begriff ”avant la lettre”, psychologisch könnte man sagen: er hat das Genre ”internalisiert”. Das Genre wurde von den Erwartungen des Publikums geformt – ebenso wie es diese Erwartungen lenkt. Der Zuschauer, der sich einen Dokumentarfilm ansieht, ist also nicht zuletzt einem Schema konfrontiert, das sich historisch aus Zuschauererwartungen herauskristallisiert und seine Muster entwickelt hat.
Das ist eine ziemlich verzwickte, im Grunde genommen aussichtslose Lage. Der Filmemacher ”montiert nach drei, z.T. gegeneinanderlaufenden Schematismen einen Tatsachenzusammenhang” – so drückt es Kluge aus. Die Schemata, die von den drei
Kameras geliefert werden, sind nicht kongruent – ja, sie sind womöglich nicht einmal kompatibel. Sie laufen ”gegeneinander”. Jeder kritische und selbstkritische Dokumentarfilmproduzent kennt dieses Dilemma aus seiner eigenen Praxis: Über die Bilder der technischen Kamera stülpt sich der Begriff, auch die Voreingenommenheit der Kamera im Kopf. Die Kopf-Kamera wiederum muss sich an der Gattungs-Kamera orientieren, damit ein Dokumentarfilm zustande kommt. Ein Produkt, das Kommunikation ermöglichen soll – aber nach Gesetzen, die andere festlegen: Geldgeber z.B., die Konkurrenz, die Fernsehanstalten, auch die Erwartungen des Publikums.
Filmausschnitt „em-tv“
7. Analyse einer Dokumentarfilm-Sequenz (em-tv)
Wie ist diese Filmsequenz gebaut – und was erzählt sie uns? Handelt es sich um Dokumentarfilm-Bilder – und wenn ja, mit welcher der drei Kameras wurden sie gedreht?
Die Sequenz beginnt mit Bildern wie aus einem Werbespot: eine rasante Autofahrt, Mutter und Sohn fahren zum Pferderennen. Die Mutter denkt und lebt schnell, das erfahren wir aus dem Kommentar, und sie will schnell ans große Geld. Das funktioniert. In der folgenden Totale stehen wir in der großen Halle des Stadions; im Profil sehen wir Männer, deren Köpfe gespannt nach oben gerichtet sind, auf eine Anzeigentafel, einen Bildschirm – auf etwas, das wir als Zuschauer nicht sehen.
Die nächste Szene könnte aus einem Spielfilm stammen: wir sehen das Gesicht der Mutter, aus starker Untersicht, das Gesicht ist gespannt auf ein Ereignis außerhalb des Bildraums gerichtet; wir hören ihre anfeuernden Rufe. Im Gegenschuß dann Mutter und Sohn von hinten, dann im Profil, im Hintergrund der Renn-Parcours – die Spannung löst sich, das Pferd, auf das die Mutter gesetzt hat, hat gewonnen.
Dann kommt ein ganz neues Element: eine Art Moderator oder eher “Narrator”; er sitzt, wie der Nachrichtenansager im Fernsehen, an einem Tisch und erzählt uns etwas über den Börsenkrach von 1929. Das war damals ein “Sturm in voller Stärke” – das ist das Stichwort für den folgenden Cut, mit dem wir ganz dicht, halbnah auf dem Parcours sind: rennende Pferde, ein Trabrennen. Der Schnitt verwirrt etwas, denn das wichtige Rennen, bei dem die Mutter gewonnen hat, ist ja schon gelaufen. Dann wieder der bedächtige Moderator, er könnte auch aus “Plus und Minus” stammen; er sagt etwas über “Ausverkauf”. Noch einmal die Halle, total. In Großeinstellung: eine Kasse, Geldscheine wandern von einer Hand in die andere. Schnitt: Pferderennen, eine längere Bildfolge in Zeitlupe, bedeutungsvoll, unterlegt mit elegischer Musik.
Wir wissen längst, dass es um Wetten beim Trabrennen geht – aber die Pferde rennen weiter ohne Pause, es sieht aus, als liefen sie für die Kunst, für einen Kunstfilm, einen Filmkunstfilm. Noch einmal die Kasse, noch einmal Geldscheine; der Kommentar sagt etwas über den Kursverfall bei em-tv; bildfüllend ist ein Computerbildschirm zu sehen, mit einer fallenden Aktienkurve. Am Schluss noch einmal der Erzähler, er berichtet über Rekordzahlen beim Börsenkrach von 1929.
Was zeigt uns das, was lehrt uns das? Dokumentarische Bilder, aber kein dokumentierter Ablauf, sondern eine komplexe Konstruktion. Eine Montage-Sequenz, so könnte man das definieren – aber es fällt auf, dass hier ganz verschiedene “Gattungsköpfe” (mit Kluge gesprochen) an der Kamera standen: die Werbefilmgattung, der Spielfilm, das Fernsehmagazin und der ambitionierte Kunstfilm. Wenn dies ein Dokumentarfilm ist, dann dokumentiert er allenfalls, dass es unterschiedliche Filmgattungen gibt, die hier jemand gegeneinander montiert hat, weil er uns etwas bestimmtes erzählen will. Aber was erfahren wir eigentlich in dieser Erzählung? Genau genommen nur, dass eine Mutter beim Pferderennen gewinnt und sich darüber freut. Außerdem erfahren wir, dass die Aktienkurse von em-tv im Merchandising-Geschäft in den Keller gepurzelt sind.
Wir sind auf Bildersuche im Reich der Ökonomie, aber offensichtlich sind hier die Bilder selbst auf der Suche nach ihrer eigenen Ökonomie. Die Bilder fallen dabei übereinander her, und sie fallen auseinander – sie verhalten sich wie gegenläufige Strategien, und sie scheinen nicht so recht zu wissen, was sie uns eigentlich erzählen wollen.
Sie erwarten von mir jetzt wahrscheinlich Schlussfolgerungen. Aber ich werde mit meinem Fazit vorsichtig sein. Warum gestaltet sich die Bildersuche im Reich der Ökonomie so schwierig? Eine naheliegende Antwort lautet: die Welt ist komplizierter geworden, unsere Wirtschaftsformen abstrakter. Ich will mich dabei gar nicht auf den Vormarsch des Virtuellen herausreden. Ein Problem besteht darin, dass Bildsprachen veralten, weil ihnen die Wirtschaftsformen davonlaufen. Der Karikaturist George Grosz konnte noch seinerzeit überzeugende Kapitalistenfiguren zeichnen; die Zigarre und der Zylinder reichten als Insignien aus. Und John Heartfield konnte mit der Sprache der Montage die Brutalität des Kapitalismus geißeln. Das funktioniert heute nicht mehr. Der Film über em-tv ist darum so interessant, weil er uns als Akteure der neuen Ökonomie ganz normale Menschen, sog. „kleine Leute“, ein paar Bauern, eine Hausfrau zeigt. Die Akteure wechseln - dies immerhin kann ein Dokumentarfilm vertrauenswürdig dokumentieren; im übrigen gehört er wohl einer
Kommunikationsweise an, die mir für eine Durchdringung der neuen Entwicklungen nicht besonders geeignet scheint.
Das Bild, das Sie an der Wand sehen, lasse ich mal einstweilen stehen, obwohl das Internet sicher nicht die letzte Auskunft sein wird. Am Internet fasziniert, außer dem Hypertext, ein neuer Radikalismus der Verschriftlichung: die kleinen Bilder, die Piktogramme, die Banner sind die Hieroglyphen unserer Zeit, unsere Bildschirme sind auf sie angewiesen, so wie die frühen Fotografien Talbots auf die Schrift angewiesen waren. Als Betrachter dieser Seite aus „Wallstreet-online“ kann man sich auf die Suche nach den Tücken der Kapitalbewegungen machen und herauszufinden versuchen, wie gerade das Schicksal der eigenen Aktie aussieht. Man kann sie aber auch ganz anders lesen: als großflächige Hieroglyphe einer Ökonomie, der es gelungen ist, den Antagonismus von Gebrauchs- und Tauschwert endgültig zu verschleiern und vor unserer Erkenntnis zu verbergen, dass alle materiellen und imateriellen Waren nichts anderes als geronnene Arbeit sind.
Meine Damen und Herren,
als einigermaßen informierter Journalist für Film und populäre Literatur habe ich schon über zahllose Themen und Figuren – selbst die abwegigsten – geschrieben. Doch kein Thema scheint mir so schwierig zu sein, wie jenes über das zu sprechen ich hier vor ihnen stehe: Der Börsianer im Film und der populären Kultur.
Natürlich kann man es sich leicht machen und im Börsianer einfach den modernen Bösewicht sehen. Statt Tresore zu knacken, beutet er mit raffinierten Zügen eine Firma aus oder inszeniert Kursstürze. Aber genau da beginnt die Schwierigkeit: Wie setze ich derartige Schachzüge anschaulich um?
Im Gegensatz zu einem nächtlichen Einbruch, ist die Manipulation an den Finanzmärkten sicherlich für den Insider ein hochspannender Prozess, für den Laien kaum. Im besten Fall – wird ein solcher Vorgang in einem Film geschildert – starrt der Zuschauer auf einen Computer, über den Zahlen flimmern. Oder er wird Zeuge eines hitzigen Rededuells vor dem Computer, ausgetragen von dynamischen Männern in weißen Hemden, dunklen Hosen und locker sitzenden Krawatten. Aber an derartigen Szenen dürfte die wilde Mimik und zappelige Gestik fesseln, aber kaum die Ursache des Gebells.
Das zweite Problem entsteht durch den Zeitgeist. Börsengeschäfte haben längst ihren negativen Nimbus verloren. Im Gegenteil: sie werden allen empfohlen. Die Gier nach Geld, Gewinn, Reichtum wird ja nicht mehr als Gier disqualifiziert, sondern als eine Art seriöse Altersversorgung jedem nahe gelegt.
So gesehen, ist Oliver Stones berühmter Film «Wall Street» um den Finanzhai Gekko, geradezu überholt. Wenn er vor den Aktionären von der Gier spricht, die gesund sei, so beweisen die Fernsehanstalten mit ihren zahllosen Quizshows, dass er recht hatte. Der Millionär ist zum Synonym für Glücksverheißung geworden, der Drang an die televisionäre Geldorgel zur beseligenden Wallfahrt. Dort findet die Salbung des Egoismus statt.
Gekkos Auslassungen dagegen wurden noch bestraft. Das lässt ihn aus heutiger Sicht antiquiert erscheinen. Jede seriöse Zeitung oder Zeitschrift bietet längst den Finanzmärkten mehr Informationsraum als je zuvor, während die Kulturberichterstattungen immer mehr eingedampft werden. Das Geld hat seine negative Aura verloren, oder sagen wir besser: es wird nicht mehr tabuisiert.
Vielleicht klammert man sich aus diesem Grund an den alten Topos vom Raffzahn, der stürzen muss. Das erzwingt wenigstens eine Fallhöhe und schafft im Leser bzw. Kinozuschauer ein befriedigendes Gefühl.
Schon der gute alte Gangsterfilm spielte mit unserer Doppelmoral: Der Gangster wird einerseits zum Identifikationsidol und andererseits aber auch zum Sündenbock. Wir projizieren unsere heimlichen Neigungen auf sein illegales Treiben, genießen stellvertretend seine Aggression und haben dann auch noch die Genugtuung, dass er seiner gerechten Strafe nicht entgeht.
Das böse Schicksal, das den Gangster ereilt, befreit uns vom Erfolgszwang und Leistungsdruck. Wir sind beruhigt, dass wenigstens wir uns bescheiden und redlich ernähren. Aus diesem Grund sind wir letztlich auch die Glücklicheren. Auch Gekkos Schicksal verläuft exakt nach dem Schema der Gangsterfilme, weil eben jeder, der Werte und Maßstäbe ignoriert, ein Gangster ist.
Ein Künstler allerdings, der sich an diese Regel nicht hielt und der Zeit weit voraus war, war ausgerechnet einer, der im Kanon kultureller Wertschätzung sehr weit unten, wenn nicht sogar ganz unten angesiedelt war – wenigstens über längere Zeit: Sein Name ist Carl Barks und seine Schöpfung ist der inzwischen weltberühmte Onkel Dagobert, der reichste Mann der Welt. Sein Vermögen wird auf mehrere Fantastillionen geschätzt. Das Geniale an Barks war seine vollkommen ungehemmte, naive Betrachtungsweise.
Jeder kennt die umgangssprachliche Verwendung des Satzes: «Der Nachbar ist unwahrscheinlich reich, der badet doch im Geld».
Was die Umgangsprache mit diesem Bild meinte, setzte Barks unbekümmert um: Sein backenbärtiger Erpel badet tatsächlich in seinem Geld, mindestens einmal am Tag und findet es wunderbar, wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen und sich die Taler auf den Kopf prasseln zu lassen.
Zugegeben, den Börsianern prasseln die Taler nicht auf den Kopf, aber das Bild vom Maulwurf, der zwischen den Kursnotierungen herumwühlt, ist ziemlich treffend.
Ich entsinne mich an die ersten Dagobert-Geschichten, die von den Eltern als unerhört und schamlos angesehen wurden und eigentlich nichts für Kinder seien. Diese hemmungslose Hymne auf die Raffgier, die Darstellung eines Geldbergs, der immer mehr wächst und den riesigen Tresor fast zum Bersten bringt, galt als obszön. Es verderbe vor allem den Charakter der Heranwachsenden.
Doch Barks war alles andere als ein kritikloser Befürworter eines nackten Kapitalismus. Erstens waren seine Stories natürlich Satiren auf das Goldene Kalb, um das alle herumtanzen, und zweitens baute er Sicherungen der Moral sehr wohl ein: Dagobert wird Tag und Nacht von der Angst geplagt, sein Geld verlieren zu können. Zwar verdirbt Geld nicht mehr den Charakter, aber dafür macht es nach wie vor
allein nicht glücklich.
Welch präzise Komik er dabei einsetzte, belegt eine Geschichte, in der seine Erzfeinde, die Panzerknacker AG, ihm tatsächlich sein ganzes Vermögen wegschnappen. Und zwar nicht in Form einer kriminellen Handlung – sie brechen nicht einfach ein – sondern indem sie ganz korrekt das Grundstück neben dem Stausee kaufen, in dem Dagobert sein Vermögen versenkt hat.
Mit riesigen Brennspiegeln, die sie in enormer Höhe schweben lassen, brennen sie Löcher in die hölzerne Staumauer, bis sie bricht und der ganze Zaster auf das danebenliegende Grundstück donnert. Der klassische Fall einer unfreundlichen Übernahme.
Doch da Dagobert dem Leser ans Herz gewachsen ist, gibt es natürlich ein Happy End. Und Carl Barks gestaltet es mit erstaunlich subversivem Witz. Dagobert erkennt die neuen Besitzer an, hat aber noch einen Wunsch, den die Panzerknacker ihm nicht verwehren können: Er möchte noch einmal, von einem Felsen in sein geliebtes Geld springen, um darin herumzuschwimmen und sich die Taler auf den Kopf prasseln zu lassen.
Die Panzerknacker sind verblüfft über den Alten, der noch einmal wie ein Delphin durch seine Taler saust. Voll tiefer Bewunderung bekennen sie (Zitat): «Raffinierte Brüder, diese Plutokraten», und springen hinterher. Doch im Gegensatz zu Dagobert knallen die Panzerknacker mit ihren Quadratschädeln voll aufs Hartgeld und sind außer Gefecht gesetzt.
Und die Moral von diesem Ende? Es bedarf eben doch hoher Geschmeidigkeit, um mit einem Millionenvermögen richtig umgehen zu können.
So schlicht die Geschichten sein mögen, es ist die Frontalität der Erzählweise, die entzückt, dieses wörtlich Nehmen, der unverkrampft spielerische Umgang mit ökonomischen Prozessen, Markt- und Preistheorien und der Fetisch Geld.
Carl Barks hatte es natürlich relativ leicht; er spielte im Parterre, war ein Comic-Künstler. Dort unten ist praktisch alles erlaubt. Aber in den höheren Stockwerken, bis in die Beletage hinauf, wo die Schriftsteller wirken und sich ähnlicher Themen zu widmen versuchen, wirds kompliziert. Denn es geht ja darum, derartige Themen dramatisch darzustellen.</p><p>In Victor Hugos «Les Miserables» sagt einmal der ermittelnde Inspektor (Zitat): «Rechnungsbücher zum Reden zu bringen, liegt absolut außerhalb meiner Kompetenz.» Da sprach wohl der Autor selber.</p><p>Bei Alexander Dumas wunderbarem Abenteuerroman «Der Graf von Monte Christo», dessen Geschichte weidlich bekannt ist, habe ich mich immer gefragt, wie er den enormen Schatz eigentlich nach Paris schaffte, ohne von zahlreichen Neidern ausgenommen zu werden. Aber das alleine war es noch nicht. Zeitsprünge, Auslassungen, Ellipsen sind erlaubt und waren und sind nun mal ein probates Mittel, um die Geschichte vorantreiben zu können.</p><p>Verwirrender war vielmehr, wie er seinen Schatz in Paris anlegte. Vielleicht war er ein Spekulant. Aber wahrscheinlicher ist, dass sein Reichtum einen ganz anderen Grund hat: Er diente lediglich als Hilfsmittel, als eine Art dramatisches Trampolin, mit dessen Hilfe seine Rachefeldzüge erst den erregenden, zupackenden Schwung erhielten, um den Zuschauer emotional richtig in Wallung zu bringen.</p><p>Mit Geld kann man bekanntlich alles kaufen – vor allem auch einen Adelstitel. Denn der war sehr wichtig. Er schützt vor Unterstellungen, ein Neureicher zu sein.</p><p>Die Geldaristokratie (ob mit oder ohne Titel) ist ein heikler Klüngel. Sie schützt ihren Reichtum mit ethischen Begriffen, wie dem Wert. Wert nicht als messbaren, pragmatischen Begriff, sondern im aristotelischen Sinn, der von der protestantischen Ethik aufgegriffen wurde: Wohlstand als göttliche Gnade. Oder, wie es Max Weber sinngemäß formulierte: Der rastlos Arbeitende wird selig, der Faulpelz bleibt verdammt.</p><p>In Gustav Freytags Roman «Soll und Haben» wird das aufs Wunderbarste dargestellt. Die altehrwürdige Firma Schröter & Wohlfart erhält Konkurrenz von einem Aufsteiger, der – was sonst – ein Jude ist und Itzig heißt. Interessant an dieser Konstellation ist neben dem Antisemitismus, etwas anderes. Die Methodik, mit der die Firma Schröter & Wohlfart dargestellt wird. Sie nämlich sei mit Treue (der Arbeiter dem Arbeitgeber gegenüber), Fairness (Edelmut in der Bereicherung) und Liebe (die Arbeiter dem Patron gegenüber) zu Reichtum gekommen, während Itzig eben ein Emporkömmling ist.</p><p>Freytag spart einfach aus, dass seine Edelfirma genau wie jede andere ins kapitalistische Profitsystem eingebunden ist und sich folglich mit Konkurrenz herumschlagen muss. Also kann die nur diffamiert werden.</p><p>Aber lassen Sie mich noch einmal kurz auf Alexander Dumas zurückkommen: Sein hübsches Konzept vom schwerreichen Racheengel mäandert als «Monte-Christo-Syndrom» inzwischen durch alle möglichen Formen der Trivialkultur. So etwa in den Fernsehserien «Dallas» und «Denver-Clan». Dort gab es immer wieder Männer und Frauen, die verschwanden, um mit Wohlstand gesegnet und Racheglüsten im Bauch wieder zu erscheinen und für Unruhe zu sorgen. Der Neureiche war dabei immer der Zwielichtige.</p><p>Das schnelle Verdienen ist noch heute, selbst in der new economy ein bisschen anrüchig. Denken Sie nur an jene Aufsteiger, die schon wieder abgestürzt sind. «Das musste ja so kommen», ist der geflügelte Kommentar. Es geht zu schnell, das Vermögen wächst und reift nicht heran wie ein edler Wein, wie ein richtiger Wert.</p><p>Der erste Roman, der sich tatsächlich akribisch mit den Mechanismen der Geldspekulation auseinandersetzte, ist Emile Zolas «Das Geld». Saccard ist der Held, der uns Leser auf wirklich spannende Weise demonstriert, wie ein Vermögen entsteht: Unter geschickter Benutzung und Manipulation von Presse- und Regierungsapparat. Im Gegensatz zu Gustav Freytags Gartenlaube- Helden, wird hier mit naturalistischer Verve geschildert, dass jede Schweinerei eingesetzt werden muss, um reich und einflussreich werden zu können.<br>Auch wenn natürlich Saccard am Ende stürzt, verbietet sich der Autor moralische Kommentare. Auf den Roman trifft gleichfalls zu, was ich über die Gangsterfilme sagte: Man ist fasziniert von dem Bösewicht und gleichzeitig zufrieden, dass ihn das schlimme Schicksal ereilt.</p><p>Einmal heißt es (Zitat):<br><span class="text-primary">Oh, verstehen wir uns recht, er liebt das Geld nicht wie ein Geizhals, der einen großen Haufen davon haben und in seinem Keller verstecken will. Nein! Wenn es nach seinem Willen überall hervorsprudeln soll, wenn er es aus jedweder Quelle schöpft, so weil er sehen möchte, wie es ihm in Strömen zufließt, und wegen all der Genüsse, die es ihm verschafft: Luxus, Vergnügen, Macht... Was wollen Sie? Das liegt ihm im Blut. Er würde uns verkaufen, Sie, mich, sonstwen, wenn wir einen Marktwert hätten. Und er täte es ganz unbekümmert, der große Mann, der ja wahrhaftig der Dichter der Millionen ist: so verrückt macht ihn das Geld und lässt ihn zum Schurken werden, zum Schurken größten Stil.</span></p><p>Im Jahre 1928 verfilmte der französische Regisseur Marcel L'Herbier Zolas «L'Argent». 15 Kameras bot er auf und 1500 Statisten, um das aberwitzige Treiben in der Pariser Börse realistisch in den Griff zu bekommen. Mit riesigen Gestellen ließ er die Kameras unter die Börsenkuppel montieren, damit der Irrsinn der herumwuselnden Massen, ihre Geld- und Besitzgier als griffige Metapher nachvollziehbar wird.</p><p>Das lustigste und auch durchtriebenste Beispiel eines ganz modernen Entrepreneurs, der mit Tempo und Turbo den Erfolg sucht, stammt von Honoré de Balzac.</p><p>In seiner Komödie «Mercadet» steht ein Börsenspekulant im Mittelpunkt, der für seine Schwierigkeiten den ominösen Teilhaber Godeau verantwortlich macht, ohne dass der je auftaucht. Die Schuldner jedoch bedrängen Mercadet immer heftiger. Also greift Mercadet zu einer letzten, verzweifelten Intrige: Er lässt einen falschen Godeau erscheinen. Der Betrug wird leider aufgedeckt. Mercadet scheint endgültig ruiniert. In diesem Augenblick wird der echte Godeau angemeldet. Er ist mit einem märchenhaften Vermögen aus Indien zurückgekehrt. Das Stück endet mit Mercadets Ausruf (Zitat): «Ich habe Godeau so oft vorgeführt, dass ich nun wohl das Recht habe, ihn zu sehen. Gehen wir ihm entgegen.» Aber das Publikum bekommt ihn natürlich nicht zu Gesicht. Der Vorhang fällt.</p><p>Von diesem Godeau übrigens, glauben einige Theaterfachleute, habe sich Samuel Beckett für seinen Klassiker «Warten auf Godot» inspirieren lassen.</p><p>In unserem Zusammenhang aber ist die Balzacsche Figur des Godeau aus ganz anderen Gründen interessant. Mercadet benutzt ihn als phantomatischen Hoffnungsträger. Sein Godeau verkörpert gewissermaßen jenen abstrakten Vermögenswert, die Aktie, die hochgetrieben wird und fällt. Mercadet ist ein eleganter Blender, der – wie er am Ende sagt – «Godeau so oft vorgeführt» habe, dass er jetzt auch «das Recht habe, ihn zu sehen.»</p><p>«Das zwanzigste Jahrhundert», schrieb Stefan Zweig 1930, «blickt nieder auf eine geheimnislose Welt.» Aeussert sich bei den Spekulanten über die Start-up-Helden bis zu den Quizshow-Kandidaten, neben der Sehnsucht nach Vermögen und Macht auch unbewusst ein Hang, mit einer Risikobereitschaft wieder in Gebiete vorzustoßen, die erregendes «Neuland» versprechen? Ein quasi-religiöser Glaube an den Fetisch Aktie, der darwinistisches Imponieren im Dschungel der modernen Dienstleistungsgesellschaften vorgaukelt?</p><p>Der amerikanische Schriftsteller John Dos Passos schildert in seinem Roman «Manhattan Transfer», was für ein mysteriöses Revier die Börse ist, am Beispiel eines Kinderdialogs.</p><p>Drei verwöhnte Kids, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen, wollen «Blindekuh» spielen. Doch die Idee ist ihnen zu kindisch. Aufregender ist das Börsenspiel. Darauf entsteht folgender Dialog:</p><p>«Ich habe Aktien für eine Million Dollar zu verkaufen. Maisie ist der Haussier und Jimmy der Baissier.»<br>«Schön, was haben wir zu tun?»<br>«Die ganze Zeit herumlaufen und ein Geschrei machen... ich verkaufe ungedeckt» «Gut, Herr Makler, ich zahle fünf Cent pro Stück.»<br>«Nein, das darfst du nicht sagen...Du sagst sechsundzwanzigeinhalb oder so was Ähnliches.»</p><p>Die Börse als eine Art modernes Mau-Mau-Spiel, als atavistische Konfrontationsshow, in der mit Notizzetten umgegangen wird wie mit heiligen Fetischen. Das ist durchaus in ihrer heillosen Absurdität, ein optisches Faszinosum, weshalb nicht nur der Franzose Marcel L'Herbier in seinem Film «L'Argent» nach solchen Bildern griff, sondern schon 1922 Fritz Lang bei seinem Film «Dr. Mabuse, der Spieler». Mabuse ist Psychoanalytiker, der Kraft hypnotischer Fähigkeiten seinen Reichtum vergrößert, in dem er die Börse manipuliert und die Börsianer zu Marionetten macht.</p><p>Die Amerikaner, die keine Tragödie kennen, aber immer wieder versucht haben, das dramaturgische Prinzip der Tragödie am kleinen Mann zu vollziehen, haben nicht selten die Börse als Mittel für eine drastische Fallhöhe eingesetzt.</p><p>In Raoul Walshs Gangsterfilm «The Roaring Twenties» aus dem Jahre 1939, spielt James Cagney einen nervösen, krankhaft geltungssüchtigen Rinnstein-Napoleon, der sich nach den feudalen Riten und Usancen feiner Herrenklubs sehnt. Das schafft er auch, doch sein Gegenspieler, die neidische Hyäne Humphrey Bogart, legt ihn rein – mit Börsenmanipulationen.</p><p>Die Entwicklung solch zäher Aufsteigerfiguren mit ihrem radikalen Egoismus und ihrer Rücksichtslosigkeit folgte den Gesetzen Shakespearscher Königsdramen. Entscheidend dafür waren aber nicht mehr nur blutige Auseinandersetzungen, sondern eben auch die undurchsichtigen Machenschaften an der Börse, als Synonym für eine übergeordnete, undurchschaubare Macht.</p><p>Den Europäern dagegen war und ist die Börse eher ein Hort des seelenlosen Schreckens, das nicht mehr unbedingt dem Satan unterstellt wird – wie noch bei Fritz Lang – , sondern einer dubiosen gesellschaftlichen Kälte. Meisterhaft darin war der Italiener Michelangelo Antonioni in seinem 1962 entstandenen Film «L'Eclisse».</p><p>In eindrücklichen Bildern schildert er die psychischen Nöte einer jungen Frau, die von ihrem Geliebten wegdriftet und bei der Mama Halt sucht – ausgerechnet in der Börse.</p><p>Dort ist die Mutter, eine um ihre soziale Sicherheit bangende Kleinaktionärin, im verzweifelten Kampf um ihre Papiere gestrandet. Die schönste Szene kommt zum Schluss, wenn die junge Frau – Monica Vitti – sich von einem dynamischen Börsenhändler – Alain Delon – trennt. Nacheinander legt er die vorher ausgehängten Telefonhörer wieder auf. Es klingelt auf allen Leitungen, die Welt, für ein paar<br>Augenblicke illusionären Glücks aus dem Raum verbannt, bricht wieder los.</p><p>Es ist eine Welt atemberaubender Desintegration, eine Welt der Ellbogen- und Organisationsmentalität, des Erfolgs, der Leistung, des Pragmatismus und der Gefühlskälte. Antonioni fand dafür schöne Bilder: Das scheinbar sinnlose Herumgerenne der dunkel gewandeten Anzugmänner und eine Denkminute für einen verstorbenen Politiker: Eine Minute lang stehen die Börsianer wie abgeknipste Roboter schweigend in einer kalten, tempelartigen Marmorhalle.</p><p>Heinrich Mann und Bert Brecht haben in ihren Werken «Im Schlaraffenland» und «Die heilige Johanna der Schlachthöfe» die Börse in ihren literarischen und dramatischen Arbeiten miteinbezogen, doch das waren eher Ausnahmen. Die Börse blieb bis in die 68er Generation ein Versammlungsort des Bösen. Trotzdem identifizierten die Studenten das Grosskapital mit anderen Häusern, wie Banken, Verlage oder Kaufhäuser. Ganz einfach, weil es griffiger war: Das Kaufhaus als Tempel des Konsumrauschs, die Bank als Hort der Geldwechselei und die Verlage als Grossmanipulateure. Die Börse dagegen war weniger griffig – man konnte mit ihr nicht so richtig beeindrucken. Sie war zu abstrakt.</p><p>Im deutschen Film, der ohnehin auf Kriegsfuß mit der Realität steht, existieren Börse und Börsianer nicht. Die Pumpstation des kapitalistischen Systems ist ihnen ein zu meidendes grässliches Purgatorium.</p><p>Der Experimentalfilmer Hans Richter zeigt in seinem kurzen Film «Inflation» die Repräsentanten dieser Dämonie: Dicke Männer mit dicken Zigarren und schweren Pelzkragen auf ihren teuren Mänteln. So kennen wir sie alle und so sehen wir sie gern.</p><p>Antonioni hat mit Alain Delon einen neuen Typus geschaffen, der mit dem Klischee des Raffzahns nicht mehr übereinstimmt. Der junge Mann ist smart, wenn auch ein bisschen strizzihaft, aber alert, frisch, modern, cool. Die kalten, maskenhaften Züge im Gesicht allerdings weisen schon auf seinen erfolgreichen Nachfolger hin: auf Michael Douglas in «Wall Street».</p><p>Seine kantigen, zum Jähzorn neigenden Züge, diese kurz vor der Explosion stehende Physiognomie, erinnert an Emile Zolas Saccard aus seinem Roman «Das Geld» (Zitat): «Sein Leben zu verteidigen, das ist gar nichts, viel schlimmer ist es, sein eigenes und anderer Leute Geld zu verteidigen.»</p><p>Oliver Stones Gekko ist noch einen Schritt weiter: Anderer Leute Geld wird nur verteidigt, wenn
s in die eigene Tasche fließt.
Genau dazu werden die jungen Anleger in dem Film «Risiko» gestriezt und gebimst. Der Film zeigt, vielleicht sogar noch interessanter, weil lebensnaher als «Wall Street», die Gier junger Menschen, denen man weiß gemacht hat, dass sie Millionen verdienen können, wenn sie nur potentielle Kunden – wie Aerzte, Anwälte oder andere gehobene mittelständische Freiberufler – für Aktiennotierungen keilen, um sie über den Löffel zu balbieren, weil die betreffenden Aktien sozusagen Godeaumässig – wie in Balzacs Stück – gar nicht existieren oder wertlos sind.
Auch in diesem Film schreitet letztendlich die Moral ein. Ohne das geht es offenbar nicht, um einem haltlosen Trieb nach Fantastillionen Grenzen zu setzen.
Zola wusste, wie schwierig es ist, einen Roman übers Geld zu schreiben (Zitat): «Das ist kalt, eisig, bar jeden Interesses.» Genau darin liegt die Schwierigkeit dramatischer Gestaltungen.
Anfang der siebziger Jahre veröffentliche William Gaddis den voluminösen Dialogroman «JR» – was bitte nichts mit dem Kürzel von Mister Ewing aus «Dallas» zu tun hat – , in dem ein Elfjähriger über das Schultelefon und postalische Geldanweisungen, ein gewaltiges Finanzimperium zusammenträgt. Das ist natürlich eine Satire, aber so abwegig ist sie nicht, seit der Computer zur Schicksalsgöttin, zum
Orakel für derartig abstruse Vermögensanhäufungen wurde.
Gaddis hat diese Entwicklungschraube ins Virtuelle aufgezeigt.
Den einstige Kommunikationsguru Marshall McLuhan hatte mit seiner Behauptung schon recht: «Wir leben in einem einzig eingeengten Raum, der von Urwaldtrommeln wiederhallt.»
Einer der Trommler ist der Börsianer. Er hat nichts Romantisches mehr, aber genau daran klammert sich nach wie vor der Film, indem er ihn unentwegt dämonisiert. Das erlaubt einen leichten Zugriff für die dramatische Kunst.
In den 90er Jahren hat sich etwas seltsames ereignet, etwas dass zu unserer so debatten- und thesenfreudigen Öffentlichkeit, dass zu unserer tiefschürfenden Kulturkritik, der kein Mentalitätswandel entgeht, so recht nicht passen will. In den 90er hat sich, zumindest in Deutschland, das gesellschaftliche Verhältnis zur Technik um 180 Grad umgedreht. Es war ein stiller Wandel, eine Veränderung, die ohne Feuilletonaufmacher und ohne Bundestagsdebatten geschah. Dieser Wandel passierte wie von selbst.
Zur Erinnerung: In den 80er Jahren gab es Massenbewegungen gegen Großtechnologie. Reagans „Star War“ wurden als Ausdruck der Hybris verstanden, des Wahns mit Militär-Technik ein politisches Problem lösen zu können. 1986 explodierte Tschernobyl: Das war der katastrophale Beweis, dass die Menschen eine Technik erfunden hatten, die ihre eigene Möglichkeiten überstieg. Die Erkenntnis, dass Technik etwas potenziell Gefährliches ist, wurde in den 80er Allgemeingut. Genau das hat sich in den 90ern stillschweigend verändert. Die Apokalysefurcht verdampfte. Das hat mit 1989, dem Ende der Blöcke, dem Verschwinden der Atomkriegsangst zu tun - das Verschwinden der Technologieskepsis fußte freilich auf einer Alltagserfahrung. Und damit sind wir bei dem Film „Triumph of the Nerds".
Denn dieser Wandel, die stille Rehabilitierung der Idee, dass Technik kein Fluch sondern ein Segen ist, sogar die Wiederkehr der Idee, dass Technik Fortschritt bedeutet, ja sogar die vage Vorstellung, dass Geschichte ein positives Ziel hat - all das gibt es auch wegen Bill Gates und Steve Jobs, wegen IBM, Microsoft und Apple.
In den 90ern wurde der PC Allgemeingut. Wer will, kann sich einen eigenen Computer in seine Wohnung stellen und damit allerlei anfangen, seit dem Internet sogar mit außen kommunizieren. Diese Idee, dass jedermann meint, zu Hause einen PC zu brauchen, war 1985 ungefähr so exotisch wie, sagen wir, eine Idee, dass es bald eine Station auf dem Mars gibt. Aber so kam es. Die Computerbranche hat das Alltagsleben wahrscheinlich mehr verändert als die Einführung des Fernsehens in den 50ern. Ohne Computer keine „New Economy“, die Computerindustrie und die Erfinder haben die Geschwindigkeit dessen, was wir Globalisierung nennen, ungemein erhöht. Und Computer haben unser Verständnis von Technik verändert. In den 90ern wurden Computer zu Alltagsgegenständen, zur Massenware. Sie wurden von Jahr zu Jahr billiger, kleiner, besser. Diese Erfahrung ist, so glaube ich, der Kern unseres neuen, oder vielmehr alten Technikoptimismus. Genauer gesagt: Von dem klassischen Fortschrittsglauben wie er etwa in den 20er oder in den 50er Jahren herrschte unterscheidet sich die Fortschrittsidee der 90er, dass sie ohne Glaubensbekenntisse auskommt. Denn natürlich wissen wir ja, dass die Fortschrittsidee ihre Unschuld verloren hat. Unser Fortschritt ist ganz pragmatisch, unideologisch, wie ja sonst alles andere auch.
Das ist die europäische, vielleicht sogar nur die deutsche Perspektive. In den USA, wo die sagenhaften Karrieren vom Computerfreak, der in der Garage etwas zusammenbastelt zum Milliardär, stattfanden, war die Gleichung Technik gleich Fortschritt sowieso nie ernstlich in Zweifel: trotz Harrisburg. Daher rührt wohl der euphorische Ton, in dem die Macher in „Triumpf of the Nerds“ über sich selbst reden.
Ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen, aber sie auf etwas hinweisen, das mir zentral zu sein scheint: die Metaphorik, die Gates Steve Jobs und all die anderen bei ihren Selbstbeschreibungen wählen.
Es ist die Sprache eines Gründungsmythos: hier reden Leute, die die Welt verändert haben und die das wissen. Es ist eine Geschichte von Kämpfen, von Tricks, wie man den Gegner überlistet, eine Geschichte wie das was groß war, z.B. IBM (im Film „the Big Blue“) klein wurde und was klein war, Microsoft, groß. Das hatte nicht nur mit Erfindungsgeist zu tun, sondern oft mit Zufällen, fast immer mit der richtigen Einschätzung, was der Markt will. Die Idee für „Windows" zum Beispiel, das Programm mit dem Gates seine marktdominierende Position begründete, war eine Erfindung von Xerox aus den frühen 70ern.
Diese Gründungssituation ist, wie in jedem Gründungsmythos, offen. Oft fällt das Wort „Freiheit“. Es gab noch keine festen Konvention, es war ein offenes Spiel. Wer zuerst etwas erfand, wer im richtigen Moment das richtige kaufte, konnte innerhalb von ein paar Jahren Herr eines Weltkonzerns sein.
Zur Sprache des Gründungsmythos gehört auch die Idee, dass die Zukunft offen ist - ja mehr noch, die Zukunft ist etwas das man „erfinden kann". Man kann sie machen, die Zukunft ist so etwas wie Knetgummi. Und wer den richtigen „Traum" hat, dem gehört sie.
Und diese Zukunft wird von Einzelnen gemacht. Es gibt auch das Team, meist junge Leute, die direkt von der Schule kommen, aber Geschichte machen einzelne: Bill Gates und Steve Jobs. Diese Figuren sind Führer. Lichtgestalten, so etwas wie Helden. Oder wie es in „Triumpf of the Nerds" einmal über den Apple-Gründer Steve Jobs heißt: „Wir reden nicht über Geld, nicht darüber wie man so schnell so viel verdient, um sich mit 40 zur Ruhe zu setzen. Wir reden über heilige Kriege, über Flüsse von Blut und Felder von toten Märtyrern, um einfach Computer zu verbessern. Und um die Welt zu verändern. Wir reden über Steve Jobs".
Es geht um Besessene, nicht um Geld, um Reichtum, das bequeme Leben, es geht um eine Mission, um einen, wie es im Kommentar heißt, „technologischen Kreuzzug".
Ist das halt die Sprache von Gründern? War das auch die Sprache von Krupp und Ford, die Sprache von jenen Gründern der ersten industrielle Revolution? Oder weist die religiöse Metaphorik auf etwas anderes hin? Auf eine Art Hybris, die typisch für Erfinder von virtuellen Welten ist?
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe das Vergnügen, Sie mit dem ersten Teil Geld-Schöpfung des dokumentarfilmischen Essays von Peter Krieg Die Seele des Geldes bekannt zu machen. Das Vergnügen ist auch eine Last; denn ich weiss nicht recht, wo ich beginnen soll. Sie erinnern sich sicher an den Charles Walter-Film "High Society" aus dem Jahre 1956, in dem Celeste Holm und Frank Sinatra das Cole Porter-Lied sangen Do you want to be a millionaire? Sie erinnern sich an den Refrain des Liedes, den die beiden überzeugend mehrmals wiederholten: I don't! I don't!. Frank Sinatra hatte gut singen. Wahrscheinlich war er damals schon Millionär - nach seinem künstlerischen Wiederanfang und seiner Kooperation mit Nelson Riddle und Billy May. Heute rufen täglich gut tausend Leute, die sich bei dem privatrechtlichen Sender RTL für die Rate-Show melden, in der man steuerfrei kassieren kann, wenn man kann: Ich will! Ich will!
Wer will nicht?
Der Soziologe Ulrich Beck hat den Wunsch, ein eigenes Leben zu führen, als die moderne Lebensabsicht bezeichnet. Dieser Wunsch, eine Variation unserer westlichen Idee von Autonomie und Selbstentfaltung, ist voraussetzungsvoll; will man ihn leben, sollte man finanziell einigermaßen ordentlich ausgestattet sein. Seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan beobachtete ich, wie die Fantasie vom schnellen Reichtum sich durchzusetzen begann wie eine Wetterlage: Frank Sinatra dachte sehr erfolgreich musikalisch laut nach: If I can make it there, I make it anywhere; New York City wurde die touristische Attraktion und zur Metapher einer Stadt des enormen Reichtums; Oliver Stones Wallstreet machte 1987 das schnurlose Telefon und die breiten Hosenträger und das mit Brillantine zurückgekämmte Haar populär, während der Yup - der Young Urban Professional - allmählich an Attraktion verlor, - schließlich hatte Tom Wolfe ihm 1987 in seinem Roman der kapitalistischen Exerzitien Fegefeuer der Eitelkeiten den Garaus gemacht.
Das ist der eine Aspekt von Peter Kriegs Film-Essay: Die psychosoziale Bedeutung öffentlich kursierender Fantasien, auf die wir mehr oder weniger eingestimmt sind. Geld ist ein Paradoxon: Nehme ich eine Banknote aus dem Portemonnaie, scheine ich es in der Hand zu haben. Aber was ist es? Was besagt die Ziffer auf der Banknote? Wofür steht sie? Sicher, wir wissen, was wir für 50 Mark kaufen können. Was wissen wir noch? Dass der Tausch und der Handel dadurch standardisiert sind? Peter Krieg sagt Ihnen: Wir wissen nicht, was das Geld ist. Geld ist ein Beispiel dafür, wie wir unsere Wirklichkeiten herstellen und wie wir blind sind für die Herstellung unserer Wirklichkeiten. Er sagt zur Absicht seines Films: es gehe ihm um die "Ent-Trivialisierung von Politik" - also um die Aufklärung über Wirklichkeiten, die mit bedeutsamen Fantasien unterfüttert sind und von ihnen auf unklare Weise bewegt werden. Sie sind gewissermaßen die Seele einer Wirklichkeit. Das Geld ist das Beispiel, mit dem er seine Absicht exempliziert.
Peter Krieg benutzt die Konzepte, die Lloyd DeMause, New Yorker Psychohistoriker, der gleich mehrmals zu Wort kommen wird, entwickelt hat: die Gruppen-Fantasie, der Fantasie-Führer, das Opfer und die Psycho-Klasse. Ich werde etwas ausholen. Psychohistorie, im deMauseschen Zuschnitt, ist psychoanalytisch orientierte Geschichtsschreibung und politische Tiefenpsychologie in einem. 1976 veröffentlichte Lloyd de Mause in der psychoanalytischen Fachzeitschrift Psyche den Aufsatz "Psychohysterie und Psychotherapie" und stellte am Beispiel von Richard Nixon die Frage, welche Bedeutung die psychische Gesundheit unserer politischen Führer für uns hat (1).
Lloyd deMause illustrierte an Richard Nixon, bei dem man, psychiatrisch gesprochen, eine paranoide Struktur vermuten kann, das beunruhigende Diktum des britischen Psychoanalytikers Wilfred R. Bion, dessen Arbeiten er aufgenommen hat: dass eine Gesellschaft, salopp gesagt, sich die Verrücktesten zu ihren Führern wählt. Übrigens folgt der 20 Jahre später entstandene Film von Oliver Stone Nixon dieser Einschätzung.
Zwei Jahre später legte de Mause den Aufsätze-Band "Hört Ihr die Kinder weinen?" bei uns vor (2). In dem Einleitungsaufsatz entwarf de Mause nichts weniger als eine Evolutionstheorie der Sozialisationsmuster. Auf eine Formel gebracht, lautete sie: Die Qualität der Kindererziehung, die erst spät anzutreffende Fähigkeit der Eltern, sich in die Bedürfnisse der Kinder helfend einzufühlen, hat sich sehr langsam entwickelt - und erst im 19. Jahrhundert hat die Kindheit den Charakter eines Alptraums zu verlieren begonnen. Diese Progression der Sozialisationsmuster bestimmt, vermutete de Mause, nicht nur unsere Sozialbeziehungen, sondern ebenso unsere politische Kultur mit; sie entscheidet darüber, welche politischen Institutionen geschaffen, welche Herrschaftsformen etabliert und welche Umwelten hergestellt werden. Gesellschaft, so verstanden, ist das Produkt kollektiver Interaktionen und komplizierter sozialer Delegationsprozesse, die sich in politischer Herrschaft auswirken.
Reduziert de Mause die psychosozialen, politischen Prozesse aufs überschaubare Rechteck der Familienstube? Kann man ihm "familialistisches Psychologisieren" vorwerfen - ein Begriff, den Alfred Lorenzer prägte? Ich meine, nicht. De Mausepräsentiert ein Bewegungs- oder Funktionsprinzip einer psychoanalytischen Gesellschaftstheorie, mit welchem die alte Frage zu beantworten versucht wird, was eine Gesellschaft bewegt und zusammenhält. Das Bewegungsprinzip sind nicht die Antagonismen der Klassen-Differenzen, sondern der Konflikt der"Psycho-Klassen", der Veränderungen eines Kollektivs vorantreibt. UnterPsycho-Klasse versteht de Mause eine Gruppe von Individuen, die, weil sie ähnlich sozialisiert wurden, ähnliche Persönlichkeits - und Beziehungsstrukturen aufweisen und den dynamischen Einfluss einer "Klasse" besitzen (3). Spannungen entstehen dadurch, dass in einer Gesellschaft Psycho- Klassen unterschiedlichen Niveaus miteinander leben und auskommen müssen. Und diese Spannungen beeinflussen die Existenz oder die Entwicklung kollektiv geteilter Gruppen-Fantasien - ein weiterer psychohistorischer Begriff, von dem Sie gleich etwas erfahren werden. Gruppen-Fantasien sind der Niederschlag der psychosozialen Prozesse innerhalb eines Kollektivs - sie entsprechen dem, was heute als "Mentalitätsgeschichte" untersucht wird. Sie sind einmal das, was Erik Homburger Erikson, der Psychoanalytiker und Psychohistoriker, dessen Buch "Kindheit und Gesellschaft" ich für immer noch sehr lesenswert halte, vor allem das für uns so bedeutsame Kapitel über die Jugend Adolf Hitlers und das typische reichsdeutsche Sozialisationsmuster, den "emotionalen Zustand einer Nation" nannte - die Gewissheit einer kollektiven Identität, mit der zu leben ein gutes Grundgefühl vermittelt (4). Zum anderen enthalten Gruppen-Fantasien das, was, ein schwieriges Konzept, den weit verbreiteten Abwehr-Operationen unterliegt - Sie kennen das bundesdeutsche Beispiel des Psychoanalytiker-Ehepaares Margarete und Alexander Mitscherlich, das die westdeutsche "Unfähigkeit zu trauern" diagnostizierte (5) -: nämlich die in einer Gesellschaft latent gehaltenen Konflikte und Probleme, die Angst- und Wunschträume; Gruppen- Fantasien leisten deren Abwehr.
Gruppen-Fantasien suchen sich und delegieren die politischen Führer, die deshalb für Lloyd deMause Fantasie-Führer sind - dazu beauftragt, die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren und "sehr tiefe und sehr ambivalente Ängste zu beseitigen" und deren Idealisierungen zu realisieren (6). Deshalb das ständige Rufen der Öffentlichkeit nach einem überzeugenden" starken" Politiker. Deshalb das penible Registrieren und Bilanzieren aller seiner Stärken und Schwächen. Eine Abhängigkeit vom Zustand der Gruppen-Fantasie ist die Folge. Und die Medien, neben ihrer Kontrollfunktion und Differenzierungsfunktion - von der Niklas Luhmann sprach - beobachten sehr genau, wie ein Politiker seine Fantasie-Führer-Aufgabe meistert: Tag für Tag wird ihm in der öffentlichen Diskussion der Eindruck seiner Leistung oder seines Scheiterns vermittelt, auf den er wiederum zu reagieren hat. Politik gerät so in den Sog kursierender Gruppen-Fantasien: unter der öffentlichen Aufsicht gilt die Sorge der Regierungen dem sogenannten "Image", das ihre Politik hinterlässt. Image, würde de Mause sagen, ist der Grad des Zusammenpassens von Politik undGruppen-Fantasie.
Dass Politik sich an der Kosmetik ihres Images in der Öffentlichkeit orientiert droht, lässt sich seit der Präsidentschaft von Jimmy Carter beobachten. Lloyd de Mause und seine Mitarbeiter sagten am Ausgang der 70er Jahre präzis voraus, dass Jimmy Carter schon bald nach seinem Amtsantritt demontiert werden würde(7). Jonathan Schell, der US-Autor, der mit seinem Buch The Fate of the Earthüber die verheerenden Wirkungen der Atomwaffen bekannt wurde, hat anhand der Richard Nixon-Regierung detailliert beschrieben, wie das Polieren des öffentlichen Images die Substanz einer Politik ersetzte - Richard Nixon etablierte eine "Time of Illusion", so der Titel seines Buches, mit der seine Probleme zu kaschieren versuchte und sein Scheitern beschleunigte (8).
Das Geld, ich komme langsam wieder zu Peter Kriegs Film zurück, trägt das Malder Schuld; es gehörte früher, dazu interviewt Peter Krieg Lloyd de Mause, zum Ritual des Opfers, mit dem die unklaren Schuldgefühle, Ausdruck einer tiefen Bindung und eines regressiven Wunsches, vertrieben werden sollen. Es ist die Substanz einer tiefen Ambivalenz. Es gehört zu den Produkten unserer Zivilisation, deren Vorderseite wir kennen, von deren Rückseite wir aber nichts wissen. Davon handelt Peter Kriegs Film.
In seinem Londoner Exil schrieb Sigmund Freud 1938 diesen gegen René Descartes gerichteten Satz: "Psyche ist ausgedehnt, weiss nichts davon" (9). Es geht, und von dieser schwierigen und beunruhigenden Frage handelt Peter Kriegs Film, um das Problem der Wirklichkeiten, in denen wir uns bewegen, und wie wir diese Wirklichkeiten differenzieren, gesellschaftlich einrichten und uns darüber verständigen oder nicht verständigen.
Der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott sprach von unserer - individuellenlebenslangen Anstrengung unterscheiden zwischen sich und den anderen, zwischen inneren und sogenannter äußeren Wirklichkeiten – es gibt ständige Übergänge, Übergriffe, Zwischenräume (10). Fantasien heben die Grenzen der Differenzierung auf und füllen die Zwischenräume aus: Wir sortieren ständig zwischen unseren Selbst-Empfindungen und unseren Projektionen, mit denen wir ausgreifen, kontrollieren oder terrorisieren. Es waren die britischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker um Melanie Klein und Wilfred Bion, die das Konzept der Projektion erweiterten zu einem Beziehungsmodus, mit dem wir innere und äußere Wirklichkeiten regulieren (11). Fantasien differenzieren Wirklichkeiten. Winnicott schrieb einmal: "Phantasieren ist teil der Anstrengung des Individuums, mit der inneren Wirklichkeit zurecht zu kommen. Man kann sagen, dass Phantasien und Tagträume omnipotente Manipulationen äußerer Wirklichkeit sind. Die omnipotente Kontrolle der Realität setzt eine Phantasie über die Realität voraus. Das Individuum erreicht die äußere Wirklichkeit mit der Hilfe der omnipotenten Phantasien, die in dem Bemühen gestaltet wurden, der inneren Wirklichkeit zu entkommen" (12).
Die Fantasien, welche wir im Kopf haben, bleiben nicht in unseren Köpfen. Unsichtbare Motoren psychosozialer Prozesse, drängen sie Wirklichkeit zu werden. Sigmund Freud wusste das sehr genau; er schrieb 1908: "Phantasien werden von unbefriedigten Wünschen genährt, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit" (13). Das Kino greift sie auf, artikuliert sie und hilft bei der Differenzierung und Entwicklung von Wirklichkeit. Denken Sie, ein Beispiel, an Oliver Stones WallStreet und an das schnurlose Telefon. Das ist mehr als jener statische Spiegel, von dem Siegfried Kracauer 1928 sprach, als er in seinem methodologischen Pilot-Text von den "kleinen Ladenmädchen" Freuds Konzept anzuwenden probierte (14). Die Frage ist: In welchen Wirklichkeiten bewegen wir uns? Ist die Neue Ökonomie, auf Neuhochdeutsch New Economy genannt, Fantasie oder, wie man auch sagt, "harte Wirklichkeit"? Wie hart ist sie? Offenbar ziemlich weich. Das entdecken wir, seit die Neue Ökonomie sich am Kursverfall reibt. Sie ist beides; das ist das Problem. Wir müssen, wie gesagt, ständigsortieren. Und was ist der Kursverfall? Fantasie? Ökonomische Wirklichkeit? Eine Reihe von Leuten soll viel Geld verloren haben. Haben sie etwas verloren? Wie gewonnen, so zerronnen, sagt man, wenn der schnelle Spiel-Erfolg kassiert wird von der schnellen Niederlage. Spielen wir in einer Art Zwischenwirklichkeit, wenn wir uns in den kursierenden Fantasien bewegen? Lloyd de Mause macht darauf aufmerksam, wie sehr wir eingestimmt sind auf Gruppen-Fantasien, deren Grad oder Niveau von Wirklichkeit wir ausmachen, wenn wir uns die Augen reiben und entdecken, wohin wir geraten sind. "Psychisches ist ausgedehnt, weiß nichts davon". Der Prozess der Differenzierung ist schwierig; der Moment des Eingestimmtseins auf die kursierenden Gruppen-Fantasien manchmal gefährlich.
Davon zeugen nicht nur die katastrophalen deutschen zwölf Jahre, sondern, wenn wir unsere Republik im Blick haben, der bundesdeutsche Alltag. Ich wünsche Ihnen anregende 44 Minuten mit Peter Kriegs Film- Essay..
Ich danke Ihnen!
Literatur
1) Lloyd de Mause (1976): Psychohysterie und Psychotherapie. Psyche 30, S. 436- 441
2) Lloyd de Mause (Hrsg.): Hört Ihr die Kinder weinen? Frankfurt am Main:Suhrkamp 1978
3) Lloyd de Mause (1979): Historical Group-Fantasies. The Journal ofPsychohistory 7, Heft 1 (Sommer 1979), S. 1 – 70
4) Erik Homburger Erikson: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta1965
5) Margarete und Alexander Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Müchen:Piper 1967
6) Lloyd de Mause: The Fetal Origins of History. In: L. de Mause: Foundationsof Psychohistory. New York, New York: Creative Roots, Inc. 1982
7) Lloyd de Mause: Jimmy Carter und American Fantasy. In: L. de Mause:Foundations of Psychohistory. New York, New York: Creative Roots, Inc. 1982
8) Jonathan Schell: The Time of Illusion. New York: Vintage Books 1975
9) Sigmund Freud: Ergebnisse, Ideen, Probleme. Gesammelte Werke Bd. XVII.Frankfurt am Main: S. Fischer 1966
10) Donald W. Winnicott: Playing and Reality. London: Penguin 1980
11) Melanie Klein (1946): Notes on Some Schizoid Mechanisms. In: M. Klein: Envyand Gratitude and Other Works 1946 - 1963. London: The Hogarth Press 1975.Wilfred R. Bion: Second Thoughts. London: Maresfield Reprints 1984
12) Donald W. Winnicott: The Manic Defense. In: D.W. Winnicott: ThroughPedriatrics to Psycho-Analysis. London: The Hogarth Press 1982
13) Sigmund Freud (1908): Der Dichter und das Phantasieren. In: S. Freud:Gesammelte Werke Bd. VII. Frankfurt am Main: S. Fischer 1966
14) Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino. Aus: S.Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963
Dieser Text geht auf eine Einführung zurück, an die sich die Vorführung von Michael Moores 1989 gedrehten Dokumentarfilm ROGER & ME direkt anschloss. Mit einem Dokument dieses Ereignisses allerdings wird man hier nicht rechnen können. Zumal die Konvention der Filmeinführung, in der Informationen über historische Kontexte wie Produktionsdaten, Regisseursbiographie und – filmographie, sowie Einzelheiten der kritischen Rezeption vorgesehen sind, an dieser Stelle getrost dem Hypertextmedium überlassen werden kann.
Die folgenden Ausführungen werden vielmehr versuchen an hand von ROGER & ME mit der figurativen Wendung der Farbe(n) des Geldes einige Elemente dokumentarischer Wertschöpfung in den zu Blick nehmen; es geht also um Fragen nach dem flukturierenden Wert des Dokumentarischen in Systemen des symbolischen Tauschs.
Im folgenden werden ich die zwei Szenarien meiner Erörterung zunächst kurz umrissen und im weiteren dann breiter entfalten.
A) Die Renaissance des Dokumentarfilms in den späten 80er Jahren
An ROGER & ME hat sich die amerikanische Debatte der späten 80er Jahre entzündet, in der von einer "Renaissance des Dokumentarfilms" und damit einher gehend der Formation einer "new documentary" die Rede ist. Moores Film ist dabei keineswegs nur als das stilbildendes Werk einer neuen Herangehensweise gefeiert worden, sondern wurde auch als Symptom für eine neue Epoche in der Verfallsgeschichte des Authentischen kritisiert. Die Rede der "documentary rennaissance" hat sich dabei zum Einen an den Mustern der klassischen kulturellen Ökonomie des Dokumentarischen orientiert, in der "Blütezeiten" und Durststrecken der Gattung als Konjunkturzyklen eines mehr oder minder konstanten, gesellschaftlich determinierten Wertes des Dokumentarfilms begriffen werden — So waren denn diese "Blütezeiten" unweigerlich Momente wirtschaftlicher, politischer und sozialer Krisen. Zum anderen hat gerade die symptomatische Lesart von Roger & Me sich sehr produktiv dafür erwiesen eine Reihe von neuen diskursiven Wertschöpfungsketten für das Dokumentarische zu thematisieren, die über das "Relevanzmodell" der traditionellen kulturellen Ökonomie des Dokumentarfilms hinausgehen.
Man wird sehen, dass Geld hier zum einen als leuchtendes Orange auf himmelblauem Grund erscheint und zum anderen als der Mehrwert einer produktiven Sorge um den Tauschwert des Authentischen.
B) Der Wert des Scheiterns
ROGER & ME erzählt vom kalkulierten und dramaturgisch unverzichtbaren Fehlschlagen eines dokumentarisch/journalistischen Filmprojekts. Darüber hinaus kommentiert der Film im Modus der Ironie auch traditionelle dokumentarische Verfahrensweisen und lange gehegte professionelle und künstlerische Identitäten des Dokumentaristen, die er dem Gelächter der Zuschauer preisgibt. Moores Film zeigt dabei eine genaue und erfrischend unverschämte Analyse kulturellen Kapitals und schreckt weder vor Albernheit noch vor der Denunziation der eigenen Tradition zurück. Es scheint – um in den Worten von Paul Arthur zu sprechen-, dass ROGER & ME in der Tat die "Asche der dokumentarischen Tradition vergoldet" und damit aus der Aufkündigung dokumentarischer Goldstandards, - wie der eines eng gefassten Begriffs normativer Authentizität - neues symbolisches und nicht nur symbolisches Kapital schöpft.
In diesem Szenario scheint auch eine Konfiguration auf, die ich vorläufig als die "Sehnsucht nach dem unmöglichen Ort" bezeichnen will. Obwohl dieser Mehrwert der Utopie auf einer Ebene der Rhetorik von Roger & Me sicherlich Gegenstand karnevalistischer Umstülpung ist, versucht der Film gleichzeitig die dokumentarische Aura emanzipativer Öffentlichkeit bei aller Ironisierung doch noch einmal zu retten, um sie gegen seine eigene gelegentlich doch recht zynisch vorgehende "neue ästhetische Ökonomie" des Dokumentarischen zu verteidigen. So eindringlich der Film für eine globalisierte Authentizität der Haltung gegenüber dem regionalisierten Anspruch "technischer" Protokolle argumentiert, so deutlich ist die dramaturgische Spannung zwischen Rhetorik und Beobachtung, die den Terror des Alltäglichen als Monopolkapital dokumentarischer Repräsentationsformen beansprucht.
A) ROGER & ME und die "Documentary Renaissance"
Das greifbarste Zeichen für den damit umschriebenen Komplex steht den Zuschauern von ROGER & ME vor Augen, noch bevor die erste Einstellung des Filmes das Licht der Leinwand erblickt. Es ist dieses laute und strahlend bunte Logo des klassischen Hollywood Mainstream, das den Weg der Distribution von ROGER & ME erleuchtet.
Den bunten Farben des kommerziellen Markenzeichens folgt die kaum weniger stilisierte asketische Ästhetik der Notwendigkeit, mit der eine Firma namens "Dog eats Dog" sich in weißer Stanzschrift in der Schwärze des Kaders als Produktionsinstanz inszeniert. Der Filmtitel schließlich zeigt sich als Comicschrifttype, deren Verspieltheit auch an Underground-Comics der 60er und 70er Jahre erinnert.
Es fällt nicht schwer, diese Behauptung von Kreativität, Frechheit und stilistischer Freiheit als umgekehrte Proportion zum verfügbaren Budget zu lesen. Wir registrieren sie widerstandslos als Konfiguration des "independent films" - des unabhängig produzierten Dokumentarfilms allemal. Dass der Abspann von ROGER & ME lange Listen von Danksagungen und öffentlichen Geldgebern anführen wird, gehört zu den Konventionen dieses Genres von Produktionsbedingungen und ist schon zu Beginn so vorhersehbar, wie das happy end im klassischen Hollywood Feature – oder das Sterben im fortgeschrittenen Akt der Oper. Aber wie passt das Hollywood Logo zu dieser kulturellen Dramaturgie, die doch traditionell so emphatisch die Freiheit ihrer grauen finanziellen Resourcen und die breite Palette ihrer möglichen thematischen und stilistischen Färbungen gegen die standardisierte Farbe kulturindustriell gemachten Geldes gesetzt hatte?
Wenn die Aura der traditionellen Kinoware sich an die generische Form der "independent documentary" schmiegt, sich die Produktionsbedingungen des "shoe string budget" so umstandslos mit der heiligen Statistik des Profits verknüpfen, in der ROGER & ME als kommerziell erfolgreichster Dokumentarfilm aller Zeiten geführt wird, und die "tag line" des Films vom Dokumentaristen als "Rebel with a Mike" spricht, dem Warner Brothers für die Verleihrechte gerade eben immerhin drei Millionen Dollar überwiesen hat, so scheinen dies einfach Widersprüche zu sein. Widersprüche allerdings, die keineswegs auf eine idiosynkratische Situation von ROGER & ME verweisen, oder gar moralische Wertungen erfordern, sondern vielmehr in den zeitgenössischen Debatten um die "Renaissance des Dokumentarfilms" zum zentralen Topos avancieren.
So notieren in den späten 80er und frühen 90er Jahren eine Reihe von zeitgenössischen Beobachtern - zumeist im Gestus des Erstaunens - dass es erstmals seit den 60ern mehr und mehr Dokumentarfilmen gelingt sich im kommerziellen Kino zu etablieren – ganz so als wären documentaries in der Tat wirklich movies.
Wären dies nur Filme wie Alex Keshishians Madonna: Truth or Dare (US, 1991) oder andere rockdocumentaries dann wäre das Staunen kaum angebracht. Seit D.A. Pennebakers Filmen in den 60er Jahren sind Verfahrensweisen beobachtenden Dokumentarfilms, der sich Performer und Performances in den Blick nimmt, immer wieder, wenn auch vereinzelt durch die Verleihketten des legitimen Kinos gelaufen. Aber jetzt handelt es sich um eine Reihe von documentaries, darunter eben ROGER & ME, aber auch Filme wie The Thin Blue Line (US, 1988) von Errol Morris, Paris is Burning (US, 1990) von Jenny Livingston und andere, deren formale wie thematische Gestalt zumindest eine neue Struktur der Rückkoppelung in die Verwertungsschleifen der Unterhaltungsindustrie zu spiegeln scheinen.
Auch die Akademie reagiert auf diese Renaissance mit Produkten für ihren eigenen Markt. Seit den 70er Jahren nicht mehr aktualisierte Standardwerke der Dokumentarfilmgeschichtsschreibung wie Eric Barnouws Documentary:A History of the Non-fiction Film (1993) oder Richard Meran Barsams Nonfiction Film: A Critical History (1993) werden fortgeschrieben und neu aufgelegt. Neue Dokumentarfilmgeschichten, wie etwa The Documentary Idea von Jack Ellis (1989) erscheinen. Nach mehr als zehn Jahren unziemlichem Schweigens meldet sich mit einem Mal auch wieder Dokumentarfilmtheorie in einem richtigen kleinen Boom zu Wort. (z.b. Bill Nichols Representing Reality, 1991 oder Claiming the Real von Brian Winston , 1995) und andere). Selbst Bücher, wie William Guynns A Cinema of Nonfiction, das schon Anfang der 80er entstanden war und dann im Dunkel der Mikrofilmarchive dämmerte finden mit einem mal Verlage.
Dazu kommt das amerikanische Fernsehen , das zu dieser Zeit massiv beginnt seine prime time mit sogenannten "reality based programming" (das damals heftig diskutierte "reality TV" im Stile von Dial 911 oder "Americas Funniest Home Movies") zu bestücken.
Akademie, Filmkritik und die Programmplaner des Fernsehens scheinen zur gleichen Analyse der Situation zu kommen: Es gibt einen "neuen Hunger nach Wirklichkeit" in der amerikanischen Kultur - was nichts anderes heissen kann, als ein neuer Wert für "non-fiction" im weitesten Sinne im jeweiligen System des Tausches von Aufmerksamkeit.
Einige wie Paula Rabinowitz in ihrem 1994 erschienenen Buch They must be Represented deuten die Phänomenologie dieses neuen Wertes ganz im klassischen Muster der Konjunktur des Politischen, die auch Dokumentarfilmgeschichtsschreibung gerne als impliziten Subtext ihrer Erzählung benutzt hatte. Als Zeichen des Aufbruchs somit, aus den zynischen und politisch apathischen 80ern, indem nun mit dem endgültigen Ende der Ära Reagan und dem Erstarken der idendity politics eine nächste Blütezeit der Gattung ansteht: Die Wirtschaftskrise mit ihrer politischen Radikalisierung in den 30ern, die diversen Protestkulturen der 60er und eine neu erstarkende politische Kultur der späten 80er, die zudem auf wirtschaftlichen Krisensymptomen aufsetzt, sind der Kontext in dem Dokumentarisches seinen zwischenzeitlich verlorenen Aufmerksamkeitswert neu konstituiert. (In Europa wird man wenig später ebenfalls eine Renaissance des Dokumentarfilms diagnostizieren und dies mit den historischen Umwälzungen in Zusammenhang bringen, die sich aus dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Fall der Mauer ergeben).
Dokumentarfilm wäre hier also ganz im Sinne seiner traditionellen kulturellen Ökonomie als symbolischer Tauschwert der Orientierung und Intervention einzusetzen, der die äußerliche Krise zur Bedingung hat. Ganz so, als ob das Dokumentarische als fester Wert, als zwischenzeitlich verdrängtes Realitätsprinzip in den psychischen Ökonomien der Kultur nur auf die Bedingungen seiner Wiederkehr warten muss, um von den Gesetzen dieser Ökonomie wieder in sein Aufmerksamkeitsrecht und damit einen festen Tauschwert eingesetzt zu werden. Es sind oft die Krisen der symbolischen Geldwährungen gewesen, in denen die Sehnsucht nach der scheinbaren Materialität des Goldstandards Konjunktur hatte.
Doch schon die frühen Debatten der späten 80ern zeigen zwei entscheidende Variationen dieses Modells der Krisenzyklen. So wird zum Einen die neue Dynamik des aufkommenden Realitätsfernsehens von einigen Beobachtern wie Charles Musser im Rekurs auf einen historischen Begriff des frühen Kinos als Nickelodeonisierung beschrieben. Eine Art Fernsehen der Attraktionen, dessen sich ständig verkürzende Aufmerksamkeitspannen nicht einfach als Verfallsgeschichte zu erzählen sind, sondern Symptome weitergehender medialer Ausdifferenzierungen sind. Als ein Effekt dieser Ausdifferenzierung wäre durchaus auch jener neue Wert einzusetzen, den die lange, diskrete Form des dokumentarischen Kinofilms, gegen die kurzen, zerrissenen Momente des (neo) primitiven Fernsehens setzen kann. Eine Veränderung in den Ökonomien der Aufmerksamkeit scheint sich anzubahnen, die sich weniger als Spiegel gesellschaftlicher Krisen lesen lässt, sondern vielmehr aus den Binnenmärkten der Aufmerksamkeit und der zunehmenden Verknappung von Aufmerksamkeit als Objekt des Tausches (von dem kommerzielles Fernsehen in ganz anderer Weise als das Kino schließlich leben muss).
Wichtiger noch jedoch sind die Bezüge zur Tradition des photomechanischen Dokuments, die in den späten 80er Jahren im Lichte einer heraufdämmernden Epoche des digitalen Bildes erscheinen. Wenn durch die digitale Produzierbarkeit des Bildes, die Bedingung der Einschreibung zur bloßen Möglichkeit wird, der "Spiegel also sein Gedächtnis verliert" (wie LindassWilliams in "Mirrors without Memory" 1993 schreibt), dann kündet die emphatische Aufmerksamkeit für Dokumentarisches im weitesten Sinne auch das nahende Ende von technisch — aus der Reproduktion - gewonnener Authentizität an, die den Protokollen der Konstruktion von medialer Welterfahrung endgültig die absolute Macht bestätigt — dadurch jedoch ganz und gar unparadox den Tauschwert des Authentischen beträchtlich steigert.
B) Der Wert des Scheiterns
In diesem Kontext ist es zunächst nur ein weiterer Widerspruch, dass die Filme, die als Kanon der "new documentary" ausgemacht werden, eben nicht versuchen, den Marktwert des Authentischen als immer knapperes Gut zu schützen, sondern vielmehr aggressiv und laut an der Aufkündigung dokumentarischer (Gold)standards arbeiten. Es scheint gerade das - oft komödiantisch inszenierte - Scheitern des dokumentarischen Projekts, das zu einem zentralen Topos wird. So hatte schon Mc Elwees Sherman's March (US,1986) höchst vergnüglich das Scheitern des Direct Cinema Ansatzes an der Historie als narzistische Krise inszeniert und Filme wie Tony Bubas Lightning over Braddock, (US1989), Nick Broomfields DRIVING ME CRAZY (US 1988) sowie eben ROGER & ME setzen das Fehlschlagen ihrer als Binnenerzählung gestalteten dokumentarischen Filmprojekte ins Zentrum ihrer Dramaturgie - dazu gehört auch die mehr oder minder präzise ausgearbeitete (Selbst)inszenierung des Dokumentaristen vor der Kamera als komische, pikaresque Figur.
Über eine performative Kritik an den beobachtenden Ansätzen des Dokumentarischen hinaus zeigt sich dort auch eine weiter ausgreifender performativer Zweifel an der ideologischen Identität der Gattungstradition. ROGER & ME emphatischer Antiintellektualismus gehört dazu (eine Pose, die Moore übrigens anläßlich von Pressekonferenzen und ähnlichem auf seine Selbstinszenierung in anderen medialen Kontexten ausdehnt) und die offensichtliche Sinnlosigkeit des "eigentlichen" dokumentarischen Projekts, das nur noch als McGuffin dient um andere - scheinbar emphemere Diskurse zu organisieren. Oder wäre die Behauptung von Roger & Me wirklich ernst zu nehmen, mit der Figur des Chefmanagers von GM den Schuldigen für den Terror der Modernisierung und Globalisierung von Produktionsverhältnissen vorzeigen zu können? Dass die Versuche jenen Roger Smith zum Gegenstand einer dokumentarischen Befragung zu machen, - sich also der Struktur der anonymen Phänomene über "den Menschen" zu nähern - dennoch das zentrale narrative Movens von ROGER & ME bilden, ist hingegen überhaupt kein Widerspruch.
Denn der respektlose aber genau kalkulierte Umgang mit Konventionen dokumentarischer Authentisierung von Wirklichkeitsaneignung ist einer der "Produkte" die ROGER & ME anbietet. Vielzitiert und auch kritisch angemerkt wurde etwa die Mißachtung "redlicher Praxis" die ROGER & ME vorführt. Etwa die "Verfälschung" chronologischer Abläufe im Dienste satirischer Effekte. Nein – als Ronald Reagan zu Besuch in Flint/Michigan ist, hat keiner die Kasse des Restaurants geklaut, das war an einem anderen Tag; auch liegen die vergeblichen Versuche der Stadtverwaltung aus Flint eine Touristenattraktion zu machen zum Teil schon vor der großen Schließungswelle der GM Werke und waren keine direkte Panikreaktion, wie der Film dies darstellt. Hier setzen sich die Logik der satirischen Effizienz über das Protokoll der Reproduktion hinweg.
Doch interessanter, weil subtiler, ist der Umgang des Films mit historischem Filmmaterial, also der Aura der Kompilation – Man erinnere sich an die lange Spielfilmsequenz in der die Rückkehr des verlorenen Sohnes ins Elternhaus gezeigt wird. Es war lange eine feste Regel des dokumentarischen Umgangs derartiges Material als filmisches Äquivalent von Zeitzeugenschaft oder manchmal auch als Quelle ideologiegeschichtlicher Argumentation einzusetzen. (Paradigmatisches Beispiel ist Connie Fields Klassiker THE LIFE AND TIMES OF ROSIE THE RIVETER (US, 1980). ROGER & ME wischt diese rhetorische Konvention des Angemessenen nicht einfach vom Tisch, er ironisiert sie vielmehr ziemlich schlau, indem die lange unkommentierte Sequenz aus dem OFF am Ende mit dem lapidaren Satz kommentiert wird, die Heimkehr des Protagonisten sei in diesem, seinem Fall "not quite like that" gewesen. Die schiere Lust am Camp, die das Vergnügen an der Rezeption eine solchen Passage tragen kann, wird eben nicht in das Gerüst einer historiographischen Relevanz eingegliedert. Vielmehr wird hier ein Konstrukt dokumentarischer Vergangenheitsvergewisserung dem durchaus befreienden Lachen einer respektlosen, karnevalisierenden Umstülpung freigegeben.
Zumal die Selbstinszenierung des Dokumentaristen vor der Kamera keine Gelegenheit ausläßt, den "Rebel with a Mike" als pikareske Figur auszustellen, deren Rebellion sich nicht allein gegen die Konventionen des Geschmacks einer mit geradezu grotesker Undifferenziertheit dargestellten herrschenden Klasse richtet, sondern eben auch gegen das moralisierende und sendungsbewußte Element der dokumentarischen Tradition. Hier wird das "Sprachrohr für die Anderen" zum Megafon eines anarchistischen Ichs, das seine Zugehörigkeit zu jenen Anderen zwar ebenso plausibel behauptet wie durchsichtig inszeniert. Ein beträchtlicher Teil seines Schauwertes, und damit auch den direkt zur ersten Ökonomie kompatiblen Wert auf dem Markt der Aufmerksamkeit, bezieht ROGER & ME durchaus und ganz emphatisch aus seiner Denunziation professionalisierter dokumentarischer Selbstverständnisse.
Allerdings liegt in der Geschmacklosigkeit noch immer der normative Geschmack und das Kapital der Normverletzung stammt vom Wert der verletzen Konvention. Wobei allerdings der Akt der Verletzung als Schau-Wert durchaus auf eine Dynamik der symbolischen Wertschöpfung verweist.
So ist das Lachen der Zuschauer über ROGER & ME sorgfältig kontingentiert - es ist weitgehend reserviert für die dokumentarische (und journalistische) Konvention. Dabei wird respektlos vorgegangen. Es waren schließlich gerade die historischen Organisationsformen der Arbeiterbewegung, die Auto- und Schwerindustriegewerkschaften, die auch sowohl die ökonomische Basis wie auch die ideologischen Kollektivitätsfantasmen sozial-dokumentarischer Intervention gestützt hatten. Wenn ROGER & ME nahezu obsessiv von der Ineffizienz dieser historischen Organisationsformen und der auf ihnen aufsetzenden dokumentarischen Praktiken spricht, dann ähnelt dies den Tiraden der neuen Unternehmer über die Ineffizienz und Überholtheit der traditionellen Arbeits- und Betriebsstrukturen. In beiden Fällen jedoch wird die "alte Ökonomie" als Szenario der erstarrten Ruine und als Gegenstand ironischer Distanzierung gebraucht um den neuen Tauschwert herzustellen.
Ist es ein Zufall, dass die tatsächlich neuen Produkte der "new economy" und der "new documentary" weniger auf neuer Technologie oder neu erfundenen Praktiken aufsetzen, als vielmehr auf emphatischen Inszenierungen von individuellen Agenten der Geschichte. Wenn also die Figur des Dokumentaristen nicht nur vor der Kamera erscheint, sondern die Instanz eines Subjekts der Vermittlung zum neuen Schauwert wird (früher nannte man das mal "Selbstreflexivität"), dann scheinen sich hier new documentary und new economy doch sehr nahe. Auch wenn sich die Performances des Unternehmers als Star doch gelegentlich von den Inszenierungen des Dokumentaristen als Clown unterscheiden, so sind sie doch Zeichen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, die - zumindest zeitweise - das traditionelle Verständnis des Ökonomischen zu überschreiben scheinen; auch weil sie den Wert kulturellen Kapitals gegen die terrorisierende Referenz des materiellen Produktwertes und der ungleichen Verteilung der Produktionsmittel durchsetzt. Davon hat die dokumentarische Tradition immer geträumt.
Eine Veranstaltung der Dokumentarfilminitiative. Gefördert vom Land NRW.