
Dokumentarische Bilder des Ruhrgebiets
Michael Girke führt im Jahr 2010 Interviews mit Rainer Komers, Reinald Schnell, Gabriele Voss und Christoph Hübner, Klaus Wildenhahn
2010 – im Jahr als das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt war – führte der Filmjournalist Michael Girke Interviews mit Dokumentarfilmern, in deren Werk Bilder und Töne des Ruhrgebiets eine besondere Rolle spielen.
Sich den filmischen und mentalen Eindrücken, die das Ruhrgebiet hinterließ, annähernd, schlagen die meisten der Interviews dann einen großen Bogen zum dokumentarischen Arbeiten.
Sie führen die Leser zu frühen Prägungen, die Spuren in den Filmen – auch zum Ruhrgebiet – hinterließen, zu Wahrnehmungen und Haltungen, zu Empfindungen und Momenten, die, mit Glück, auch in den Filmen zu entdecken sind. Schließlich auch zu individuell entwickelten ästhetischen Formen und Stilen.
Die von Michael Girke genau erfragten Einblicke in die dokumentarische Praxis möchten wir der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
Foto © Gabriele Voss und Christoph Hübner bei Dreharbeiten
Interviews
Ein Gespräch via E-Mail zwischen Michael Girke und Rainer Komers
MICHAEL GIRKE: Den wesentlichen Anteil deines Lebens als Künstler hast du in Mülheim/Ruhr verbracht – was ist Grund dieser auf den ersten Blick doch ungewöhnlichen Entscheidung? Was sind die Vor- und was die Nachteile eines Künstlerlebens im Ruhrgebiet?
RAINER KOMERS: Geboren bin ich 1944 in Guben, nach dem Krieg geteilt in Wilhelm-Pieck-Stadt Guben und Gubin, wie Mülheim an der Ruhr eine nicht sehr große Stadt am Fluss, an der Neiße. Im Februar 1945 Flucht vor der heranrückenden Roten Armee. Mit Geborgenheit war Schluss für einige Zeit. Unser Haus in Mülheim wurde von der britischen Rheinarmee requiriert, und die Familie wurde getrennt. Ich kam zu meiner Tante, bis eine neue Wohnung gefunden und später das Haus zurückgegeben wurde. Während des Studiums habe ich in Berlin, Bonn und Düsseldorf gelebt, aber danach zog es mich wieder zurück nach Mülheim. In Düsseldorf hatte ich in einer Werbeagentur und an der Kunstakademie – im Schatten von Konzernzentralen und Königsallee – Ausbeutung und Konkurrenz erlebt. Dem dort vorherrschenden Kampf um Anerkennung und Status bin ich bewusst ausgewichen in die provinzielle Geborgenheit (und Enge) des Ruhrgebiets, wo mich keiner nach Rang und Namen fragte. Bis heute fühle ich mich zu denen hingezogen, die manuelle Arbeit machen, 'Du' zueinander sagen, und die wenig oder nichts zu verlieren haben. Aber der Preis für den Rückzug war eine langjährige Regression. Filmreisen ins winterliche Moskau und in den sonnigen Jemen halfen mir, mich daraus und aus drückender Provinzialität zu befreien und eröffneten mir eine Welt jenseits von stillgelegten Zechen, Stahlwerken und Lokalfrust. Auf dieser Linie lag die Entscheidung, einen zweiten Standort in Berlin zu suchen, um dort 'die Batterie aufzuladen'. Aber erneut scheue ich davor zurück, mich gänzlich dem Gerangel und der Unbehaustheit einer Großstadt auszuliefern.
Hast du noch Erinnerungen daran, was das Kino zur Zeit deiner Jugend war? Welche waren die bewegenden Filme, wer die faszinierenden Regisseure?
Ich bin gänzlich fernsehfrei und fast kinofrei aufgewachsen. Kino wurde mir zuhause als etwas Ungebildetes, Unbürgerliches, quasi Exotisches vermittelt, von dem man mich fernhielt. Heimlich und mit Schuldgefühlen schlich ich mich in die Ganghofer-Verfilmung „Das Schweigen im Walde“. Es war Adenauerzeit, eine bleierne Mischung aus Verdrängung, Restauration und Kaltem Krieg. Aber neben Atomraketen und Starfightern schickten die USA auch Rock’n Roll-Bands, Gangster- und Westernfilme in die Bundesrepublik, Vertreter und Produkte der Kulturindustrie, die archaische und mythische Bedürfnisse nach Abenteuer und Selbstentäußerung bedienten. James Cagney und Gary Cooper wurden meine Helden. 1963 in Berlin kamen Zbigniew Cybulski in „Asche und Diamant“ von Andrzej Wajda und Tarkowskis „Iwans Kindheit“ dazu. Osteuropa war näher am Krieg gebaut als westdeutsches Wirtschaftswunderland. Noch heute sehe ich die hinreißenden Plakate von Hans Hillmann und Jan Lenica aus Berlins Straßen vor mir.
Zurück in Mülheim mit seinen damals noch zahlreichen Kinos erinnere mich an „Der Rest ist Schweigen“ mit Hardy Krüger, Peter van Eyck und „Das Brot der frühen Jahre“, erstklassig und in magischem Schwarzweiß fotografiert von Wolf Wirth, einem Münchener Verwandten von mir. Mitte der 60er Jahre, als Mitarbeiter im Studentischen Filmclub Bonn, mutierte ich vom Kinogänger zum Kinomacher. Wir zeigten Nouvelle Vague, New American Cinema, 16mm-Filme von Stan Brackhage, Kenneth Anger und amerikanischen Atomwaffengegnern, Pasolinis „Accattone“ und Ozus „Tōkyō Monogatari“. Julian Beck und das Living Theatre luden wir ein in den Hörsaal 1 der Bonner Universität. Aber vor allem beeindruckten mich „Los Olvidados“ und „Viridiana“ von Bunuel, dem wir eine Reihe widmeten, und später war „Tagebuch einer Kammerzofe“ lange mein Lieblingsfilm. Anstelle von Schauspielern wurden Regisseure wie Buñuel meine Helden, und durch Plakate, die ich zu Ihren Filmen entwarf und druckte, konnte ich näher an sie heranrücken.
Hattest du zu dieser frühen Zeit schon einen Blick für den Dokumentarfilm?
Zurück aus Bonn und wieder im Ruhrgebiet traf ich Peter Nestler und Reinald Schnell, die gerade mit der Bolex „Mülheim (Ruhr)“ gedreht hatten. Dieser wunderbar poetische Film steht am Anfang meiner eigenen Entwicklung zum Dokumentarfilmer. Mit ihrem kurzen Meisterwerk hatten sie gezeigt, dass es auch außerhalb von Filmstudios und den Metropolen und mit minimalen Ressourcen möglich ist, Filme zu machen, und dass ein Festival wie die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ihnen ein Forum bietet. Oberhausen wurde nach Bonn zu meiner zweiten Filmakademie und ein weiteres Tor zur Welt, diesmal durch den Dokumentarfilm. Inzwischen hatte sich die Jugendbewegung zur Studentenbewegung ausgeweitet und politisiert. Experimental- und Dokumentarfilm, die das Oberhausener Festival bis heute zusammen zeigt, fingen an, getrennte Wege zu gehen. Konfrontiert mit den Nachwehen der Gewaltherrschaft in Deutschland erschien mir die Beschäftigung mit Kunst, obwohl sie mich stark faszinierte, als Luxus einer elitären Minderheit. Für mich stand auf der Tagesordnung die Gesellschaft ganz, auch in der Arbeitswelt, zu demokratisieren und sich den Hinterlassenschaften von Rassismus und Krieg zu stellen. Mit dem Rüstzeug von Plakat und Dokumentarfilm schien ich für diese Aufgabe am besten gewappnet zu sein. Also wurden Flaherty und Ivens meine Helden.
Führt ein direkter Weg von dem Punkt, Regisseure zu Helden zu haben, zu dem Punkt, selber ein Regisseur werden zu wollen?
Vor allem wenn das Ego (noch) schwach ist, braucht es Helden. Zudem bekommt es die wirklichen, meist unscheinbaren, Helden fast nie zu Gesicht, sondern die künstlichen, gemacht von der Unterhaltungsindustrie, nach herrschendem Geschmack. Da ich ein langweiliger Gutmensch bin (war), nahm ich mir mit zwanzig Jahren im Western den Sheriff zum Vorbild, John Wayne, einen Reaktionär, zu dem sein schiefes Lächeln und sein eiernder Gang nicht zu passen schienen. Übrigens ging es meinem Freund Elk Chief von den Blackfeet im Alter von zwanzig mit Wayne tatsächlich genauso wie mir. Da dieser, auch das Gute, wie gesagt, schnell langweilig werden, wandte ich mich mit zweiundzwanzigeinhalb von den Pferdeopern ab und dem Gangsterfilm zu. Großstadtdschungel statt Prärie, Chevrolet statt Quarter Horse – nur die Waffen, die meine Helden benutzen, blieben in etwa die gleichen, abgesehen von der Maschinenpistole, die die unhandliche Winchester ersetzte. James Cagney, obwohl klein von Statur, stand in meiner Beliebtheitsskala ganz oben, auch wenn er am Ende des Films sterben musste. Wie sehr sich z.B. seine Coolness vom gestelzten Gehabe und Geschrei auf der Theaterbühne meiner Gymnasialzeit absetzte, beschreibt Lewis Jacobs so:
'Just as the screen required restraint in gesture, it also required restraint in delivery of speech. A technique of voice delivery proper to the film was in the long run worked out, largely through the success of American Grade B pictures and the rise to fame of such actors as Spencer Tracy, James Cagney, and Gary Cooper. Film dialogue, it was discovered, was most effective and dramatic when it was uttered clearly, rapidly, and evenly, almost thrown away. Emphasis and emotional effect must of necessity be left to the care of the visuals. Moreover, films must move or they become intolerable. Long stretches of dialogue inevitably cancel movement and visual variety, in spite of all that the most enlightened director can do.'
Was mich am Hollywoodfilm jener Jahre außerdem anzog, war das proletarische Milieu, in dem seine Geschichten und Helden spielten. Der Cowboy ist ein Viehtreiber, ein ungebildeter Tagelöhner, der statt eines Bankkontos nur seine Fäuste hat, um sich zu behaupten. Gegen den konnte der Briefträger und Kleinbürger Rühmann bei mir nichts ausrichten. Und der Gangster ist ein Outlaw, ein Andreas Baader, der sich (fast) die gesamte Gesellschaft zum Feind macht. Im Grunde träumt ein Zwanzig- oder Zweiundzwanzigeinhalbjähriger davon, selbst ein starker Cowboy oder ein gerissener Gangster zu sein. Mit fünfundzwanzig ahnt er, dass aus diesem Traum wahrscheinlich nichts wird. In diesem Alter verschlang ich im Mülheimer Löwenhof-Kino Frank Tashlins „The Nutty Professor“ und „The Bellboy“. Jerry Lewis, der auf seinem Pferdegebiss mit den Lippen Klavier spielen kann, wurde mit seiner (präsexuellen) Schüchternheit mein Held, und ist es – ohne Reue – bis heute geblieben. Der Filmvater eine wabbelige, konturlose Null, die Filmmutter ein knochiger, despotischer Drachen, diese Konstellation seiner Geschichten war mir aus vielen Nachkriegsfamilien (die Männer kamen schließlich als Verlierer aus dem Krieg zurück) vertraut.
Mit fünfundzwanzig war ich allmählich in der Realität angekommen und konnte mir jetzt auch eine Bolex zulegen. Die Helden meiner ersten Filme, nach zehn Jahren Umweg über die Serigraphie und das Plakat, waren Bauern der Wilstermarsch und Zigeuner aus Duisburg. Aber wenn ich frei hätte wählen können, wäre ich lieber der Held vor der Kamera gewesen, vielleicht kein Bauer oder Zigeuner, eher ein Abenteurer, einer der wagemutig ist. Hinter der Kamera als jemand, der die Handlungen anderer beobachtet, der sie benutzt wie Schauspieler, sie aber nicht dafür bezahlt (selbst ein Voyeur bezahlt seine Darsteller), kam ich mir oft vor wie ein Gefangener hinter Gittern oder ein Behinderter, der sich selbst nicht frei bewegen, sondern nur beobachten kann. Deshalb ist das Verhältnis Helden – Regie bei mir bis heute skrupulös besetzt. Es hat eine blutsaugerische Komponente und etwas 'Unauthentisches', einen Defekt, den ein anthroposophischer Arzt bei mir diagnostizierte, und der mir empfahl, statt mit der Filmkamera fremden Leuten auf den Pelz zu rücken, Steine zu bearbeiten, die Bildhauerei. Ich hatte ihn wegen einer Pollenallergie aufgesucht. Bildhauer bin ich nicht geworden, und die Allergie habe ich immer noch. Spürbare Entlastung kam erst, als ich die Regisseurin und Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen mit meinen Skrupeln hinter der Kamera belästigte, worauf sie auf ihre trockene (Dithmarscher) Art erwiderte: 'Mach Dir nicht so viel Sorgen, sie (die Protagonisten) haben doch auch was davon, wenn sie gefilmt werden. Schließlich bekommen sie Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung durch Dich.' So selbstverständlich wie dieser Trost von Gisela kam, wirkte er therapeutisch. Hinter der Kamera stehe ich immer noch.
Mit deinen Anmerkungen von eben bewegen wir uns in Konstellationen der Zeit um 1968. Rüstzeug klingt nach Bewaffnung. Inwiefern konnte/kann Kunst ein Rüstzeug sein? Was bedeutete Kunst damals?
In jenen Jahren gab es eine starke Tendenz, Elfenbeintürme und Studierstuben, Museen und Hörsäle zu verlassen, Produkte kollektiv herzustellen, technisch zu vervielfältigen und damit buchstäblich auf die Straße zu gehen. Voraussetzung dafür war, über die Produktionsmittel selbst zu verfügen und ihre Handhabung zu beherrschen. Angeregt durch Andy Warhol und seine Factory entwarf und druckte ich Plakate, erst für Filmclubs, dann für politische Kampagnen wie die Anti-Apartheidbewegung.
Politisch zu handeln, auch bei der Herstellung fotografischer Bilder, kann zurückgehen auf frühe Wahrnehmungen von mir. Mein Vater war Direktor in einem Stahlwerk. Wenn wir im Winter Kohlen bekamen, ließ er Arbeiter aus der Fabrik kommen, die sie in den Keller schippten, und für jeden gab es eine Flasche Bier. Meine Mutter hatte Marlies, eine Haushilfe, die uns das Mittagessen ins Esszimmer brachte, aber selbst in der Küche essen musste. Ihr Freund holte sie manchmal von der Arbeit ab mit einer schwarzen BMW, mit der sie später an einem Baum landeten. Ich bin in einer bürgerlichen Straße aufgewachsen, und in der Villa um die Ecke wohnte ein Industrieller. Schräg gegenüber von uns gab es eine abgetretene Wiese, die zu einer proletarischen Straße hinführte. Dort spielte ich mit Ala und den anderen Arbeiterkindern Fußball. Mit Ala spielte ich auch Hockey und in einer Mannschaft mit Albert-Hugo, dem Industriellensohn. Als Ala ein Auto kaufte, fuhr er nachts zu schnell in die Kurve und war tot. Obwohl bei Albert-Hugo zuhause ein weißer Flügel stand und sein Vater der Schule eine Orgel spendierte, bewunderte ich Ala mehr, der etwas Wildes, Ungebändigtes an sich hatte. Und weshalb ich Leuten wie Ala heute noch immer zuneige, weiß ich selber nicht so genau.
In der Familie diskutierten wir oft über Auschwitz, und dabei schnitten meine Eltern schlecht ab. Der Deutschlehrer, ein gläubiger Katholik, las 1962 mit uns Brecht, der im Westen als Kommunist verfemt wurde. Ein anderer Deutschlehrer, der uns in die Geheimnisse der darstellenden Künste einweihte, wurde als Homosexueller denunziert und strafversetzt. Dann durfte ich mit einem tief sitzenden Gefühl für Ungleichheit in der Welt, aber auch für verborgene Schönheit und Kraft erwachsen werden.
Neulich hörte ich mir eine zufällig gefundene, sehr alte Live-Platte von Franz Josef Degenhardt an. Viele sehr schöne Lieder darauf, das Politische und das Poetische für einmal glücklich verbunden. Aber: Degenhardt macht stets lange Ansagen, welche den Liedern Stoßrichtungen geben sollen, sie aber verflachen, die Poesie eindämmen, sie tendenziell instrumentalisieren. Hast du dich auch mit solchen Spannungen zwischen Kunst und Politik herumgeschlagen?
Da ich weder Talent für Agitation noch für Werbung besitze, hielt sich propagandistische Verflachung, selbst in einer dogmatischen Phase, bei mir in Grenzen. Als ich die Serigraphie der Galerie Denise René/Hans Mayer leitete, entwarf und druckte ich in Mülheim ein Plakat zur Wiederzulassung der KPD – in Op-Art-Manier und zu Pudowkins „Sturm über Asien“ – in Pop-Art-Manier. Bob Dylan, nicht Degenhardt drehte sich auf meinem Plattenteller.
Ich habe politisches Bildermachen lange Zeit als Zwang zur Selbstverleugnung und zur Verleugnung meiner ästhetischen Erziehung gedeutet. Als Nachkriegsdeutscher und Bürgerlicher fühlte ich mich in erster Linie mitschuldig an den Verbrechen der Nazis und zur Wiedergutmachung verpflichtet. Diese Disposition reichte in der Regel aber weder für politische und schon gar nicht für gute Bilder. Heute versuche ich die Selbstverleugnung und das Plakative wegzulassen und - zu erzählen bzw. zu zeigen.
Die Spannungen, von denen du sprichst, kann man auch filmtechnisch beschreiben. Für jeden engagierten Bildermacher, unabhängig davon, welche Rolle er sich selbst im (politischen) Spiel zuweist, kommt es darauf an, authentisch, d.h. glaubwürdig vor sich selbst und für seine Protagonisten zu sein. Denn verhaltenspsychologisch betrachtet geht es beim Fotografieren von Menschen immer auch um ein Spiel mit der Macht, um einen verdeckt oder offen aggressiven Akt, für den ein ständiger und oft ermüdender Rechtfertigungsbedarf besteht. Da die herkömmliche Fotografie in einer Camera Obscura durch Objektive mit (im Verhältnis zum natürlichen Sehen) unspezifischen Brennweiten vollzogen wird, und da alle weiteren Prozesse an einem vom shooting entfernten Ort passieren, lassen sich schon rein technisch Manipulation und Lüge mit dem Material nicht ausschließen, es sei denn, der Fotograf kann sich durch ethische Normen ausweisen und hält sich auch daran. Diese ethischen Normen muss er versuchen in Übereinstimmung zu bringen mit seinen bildnerischen Instinkten, seinem individuellen und gesellschaftlichen Antrieb und seinen ästhetischen Parametern, die ihn letztlich auf den Auslöser drücken und ein verantwortliches, 'gutes' Bild zustande bringen lassen. Welch widersprüchliche Verhaltensweisen sich aus diesem Balanceakt ergeben können, zeigt sich z.B. bei der New Yorker Straßenfotografin Helen Levitt (deren Fotografien zwar nicht auf Seite 1 des „Daily Worker“ erscheinen, die aber meiner Vorstellung von engagierter Fotografie entsprechen). Helen Levitt, die hauptsächlich Armeleutekinder beim Spielen in Harlem und in der Lower East Side fotografierte, war bei der Arbeit mit der Leica so schüchtern, dass sie einen Winkelsucher zu Hilfe nahm. Aber kaum jemand beutete dabei (trotz des fragwürdigen Hilfsmittels) seine 'Objekte' so wenig aus wie sie. Und über die Qualität ihrer Arbeit äußert der Kurator und Kunsthistoriker Colin Westerbeck: 'Levitts Bilder vermitteln den Eindruck, dass sie Kinder nicht besonders mag. Darum sind ihre Bilder auch gut.'
In der Geschichte der Malerei geschieht im 15. Jahrhundert Umwälzendes. Bis dahin hatte man die Ästhetik des Malens gewissermaßen unsichtbar gemacht; die Aufmerksamkeit der Betrachter sollte sich allein auf den gemalten Gegenstand richten, dem hatte die Kunst zu dienen. Und dann wurde z. B. die Dicke der Farbschichten und damit das Malen selbst zum Thema der Bildkunst. Gibt es beim dokumentarischen Filmemachen ähnliche Züge und vor allem gibt es sie in deinen Filmen?
Die Sache mit dem 'dienenden Blick' ist ambivalent – und erweiterbar. Am Anfang steht die reine Beobachtung. Edelsteinschleifer in Idar-Oberstein, eine meiner ersten Kameraarbeiten. Der Diamant ist in ein Griffwerkzeug eingespannt, wird auf die horizontal rotierende Schleifscheibe gedrückt, vor die Lupe am Auge geführt, begutachtet, wieder auf die Schleifscheibe gedrückt und so fort. Der Vorgang wiederholt sich so lange, bis der Diamant den perfekten Schliff und Glanz hat. Kamera und Montage versuchen, diesen Prozess verstehbar zu machen und zu verdichten, durch den Wechsel der Kamerapositionen, durch die Wirkung von Licht und Schatten, durch den Rhythmus. Aber erst aus dem aktiven Zusammenspiel der Attraktion vor und hinter der Kamera in einer, wie auch immer gearteten, 'menschlichen' Dimension kann ein Juwel werden, sonst bleibt es Mechanik und Oberfläche. Für welchen Edelsteinschleifer entscheide ich mich, den dicken oder den hageren, den faltigen oder glatten, rasierten oder unrasierten? Wie ist seine Mimik, seine Körpersprache, seine Aura? Und wie reagiert der Blick hinter der Kamera, der zum Blick des Publikums werden soll, auf das Ensemble im Cadre? Ein Blick, der zwischen Voyeurismus und Vereinigung hin und her schwingt, gesteuert von Instinkt, Respekt und gesellschaftlicher Erfahrung. Ein Diamant ist haltbar und überdauert die Zeiten, weil er hart ist, und weil er verführerisch glänzt, also wegen seiner physischen und seiner ästhetischen Eigenschaften. Wie und in welchem Kontext kann aus dem Blick ein Juwel werden, oder wie kommt die Eintagsfliege in den Bernstein und dadurch zu Haltbarkeit? Indem ich, in einem ersten Schritt, die Elemente der Filmkunst nicht nur bewusst mache, sondern sie, als eine Möglichkeit, bewusst reduziere? Indem ich z.B. die Sprache weglasse? Darüber habe ich mir oft den Kopf zerbrochen und auch versucht zu schreiben.
Behauptung: Warum altern (Film-)Bilder mit Sprache tendenziell schneller und werden schneller historisch (Archivmaterial) als solche ohne Sprache?
Eine gefilmte oder fotografierte Szene ohne Sprache und erklärenden Text ist wie die Reise durch eine Landschaft ohne Wegweiser, Landkarte und GPS. Der Betrachter hat die Freiheit, sich in der gezeigten Landschaft nach seinen Vorstellungen zu bewegen. Vorstellung (auch Musikhören) unterliegt keinem aktuellen Zeitmaß, löst sich davon ab wie der Traum.
Für Traum ist Mangel an Orientierung und kritische Reflexion charakteristisch.
Im Traum gibt es keine Zeit, sondern aufeinander folgende Bilder (nach Siebenthal).
Wird der Betrachter dagegen durch Sprache geführt, wird er einem (laut-)abstrakten Code unterworfen, der ihn tendenziell zu rationaler Rezeption bzw. Analyse zwingt. Dieser Vorgang impliziert zugleich ein konkretes Zeitmaß: Der Protagonist A hat das und das zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt. Der Alterungsprozess beginnt sofort. Ein Bild oder ein sprachloser Ton dagegen können wie ein Windhauch sein, der die Haut berührt und nicht nach der Zeit fragt.
'The eye should learn to listen before it looks' sagt Robert Frank.
Es wird alles sofort alt mit mir, vielleicht marschiert es mit mir. Das Foto macht ja sofort alles alt.
Wenn ich einen Brief schreibe, spreche ich vom Jetzt – das gibt es aber nicht in der Fotografie, da ist alles immer Vergangenheit. Du machst Deine 'Fotografenarbeit', und alles wird sofort Vergangenheit. Wörter sind mehr Gedanken, das 'Fotografenbild' ist immer umhüllt von romantischem Glanz – 'no matter what and how you twist it.' Robert Frank im Gespräch mit Ute Eskildsen und seiner Frau June Leaf – aus dem Katalog „HOLD STILL keep going“. Die Sache, z.B. mit der behaupteten Haltbarkeit des 'sprachlos-schönen’ Blicks, bleibt also ambivalent und verhandelbar.
Einer deiner frühen, schwarzweißen Dokumentarfilme heißt „480 Tonnen bis Viertel vor zehn“. Er zeigt die Welt der Hafenarbeiter von Duisburg, die den Status von Aushilfen haben, ohne gewerkschaftliche Organisation und ohne Schutz dastehen. Wie bist du zu diesem Thema gekommen?
„480 Tonnen...“ entstand für die WDR-Sendereihe „Schauplatz”, die wenig später mit Beginn der Ära Kohl eingestellt wurde. Das Institut für Sozialforschung an der Universität Duisburg hatte ein Forschungsprojekt „Arbeit im Binnenhafen” zusammen mit der Gewerkschaft ÖTV, bei der ich Mitglied war und bin (jetzt heißt sie ver.di), gestartet. Einer der beteiligten Studenten kam aus Mülheim und hatte schon bei der Firma Scharrer im Duisburger Südhafen recherchiert. Mit ihm zusammen habe ich den Film begonnen. Kurz vorher hatte ich die zwei „Bandonion“-Filme von Klaus Wildenhahn fotografiert, hatte also intensive Erfahrungen mit dem Direct Cinema gemacht, was hieß: kein Licht (available light), kein Stativ, keine gestellten Szenen, sondern 'teilnehmende Beobachtung' (was ein hohes Drehverhältnis einschloss). Nach diesen Prinzipien habe ich auch „480 Tonnen...” gedreht. Am Anfang und am Ende des Films gibt es jedoch zwei Szenen, die mit dem Protagonisten (und Betriebsrat) Günter Prusa verabredet waren. Sie sollten die angestrebte Entwicklung vom ehemaligen Tagelöhnerberuf zum anerkannten Beruf des Hafenfacharbeiters zeigen. Requisiten der beiden Szenen waren ein alter Dampfkran und Günter Prusas Tagebücher, in denen er jeden Tag seiner 30-jährigen Arbeit im Hafen festgehalten hatte. Der Rest des Films ist reine Beobachtung ohne weitere Interventionen: in und vor dem Sozialbau, wo auch die Arbeit verteilt wurde, beim Verladen auf oder in den Waggon, auf oder im Schiff, am Kai und auf dem Kran. Den Film habe ich in Schwarzweiß gedreht, weil ich Angst vor den bunten Bemalungen und Wimpeln der Rheinschiffe hatte. Seltsamerweise verleiht ihm das, zusammen mit der so unmittelbaren Darstellung der Arbeit einen Hauch von Zeitlosigkeit. Kürzlich war ich, also dreißig Jahre später, noch einmal im Südhafen. Dort stehen noch immer die beiden 'Mohr'-Kräne wie im Film. An der Arbeit wird sich kaum etwas verändert haben, Stückgut bleibt Stückgut. Als ich kürzlich den Film im Filmforum Duisburg zeigte, war unter den Zuschauern auch der (inzwischen emeritierte) Professor Dankwart Danckwerts, der seinerzeit das Forschungsprojekt „Arbeit im Binnenhafen” geleitet hatte. Von ihm erfuhren wir, dass der Film dazu beigetragen hat, dass es den anerkannten Beruf des Hafenfacharbeiters gibt.
Der Film „480 Tonnen“ besticht dadurch, dass er den Hafenarbeitern lange und geduldig bei ihren Tätigkeiten zusieht, so dass der Betrachter einen genauen Eindruck von ihrem Alltag erhält. Glaubst du, man würde einen solchen Film heute noch beim WDR zeigen? Und hat sich deines Erachtens etwas Grundlegendes verändert an den Haltungen der öffentlich rechtlichen Sender gegenüber dem Dokumentarischen?
Vor dreißig Jahren, als der Film entstand, waren alle jünger: die den Film gemacht haben, die ihn gesendet haben, und die ihn gesehen haben. Das Durchschnittsalter der Fernsehzuschauer bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten liegt heute bei sechzig plus. Die wollen sich gut fühlen, wenn sie die Kiste einschalten: Hunger in Afrika, Spritzen am Bahnhof Zoo, bedrohte Schimpansen am Pol, Kranke, die nicht länger krank sein wollen, Verbrecher, die öfters zwei Mal klingeln, Leben und Sterben außergewöhnlicher Frauen und Männer und Eisbären, untermalt von Streichern. Ein bisschen Gender darf’s auch sein, Senf gehört zum Würstchen dazu. Leute mit sechzig plus haben das Arbeitsleben – freiwillig oder unfreiwillig – hinter sich, jetzt fängt ihr Leben erst richtig an. Dieses Leben wollen/müssen die Anstalten – bewusst oder unbewusst – bedienen, lassen es menscheln und tiereln, plotteln und mehrwerteln, bis der Bildschirm kracht. Branding und Verpackung wie im Supermarkt, jeden Tag derselbe Käse, dieselbe Wurst, und die Biotheke wächst langsam mit den Altersflecken. Dennoch glaube ich, dass Discounter wie Anstalten sich prinzipiell in der Annahme irren, nur mit nach industriellen Fertigungsmaßstäben angefertigten anonymisierten Produkten Kunden bzw. Zuschauer an sich binden zu können. Warum ist ein jüngeres Publikum die vorgestanzte Dauerberieselung offenbar leid und macht sich im Internet ihr eigenes 'handgestricktes' Programm? Warum laufen Dokumentarfilme, die interaktives Mitsehen und Hören verlangen, nachts um Eins und nicht zur Primetime?
„480 Tonnen“? Als ich den Film zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder sah, bekam ich direkt Lust, wieder Direct Cinema zu machen: Menschen beobachten, wie sie buchstäblich mit Materie hantieren, die ein Bewusstsein von oben und unten haben und stark genug sind, ihre freie Brust wie ihren freien Standpunkt öffentlich zu machen. Im WDR? Das wäre mein Wunsch. Aber mit weder dreißig noch neunzig Minuten Länge, ohne Story, just Arbeit und Alltag, nur ein Splitter in der Hand, sonst keine Krankheiten, in welches Format, welches Schema passte das rein? Vollprogramm und Quote bilden zurzeit eine wasserdichte Allianz. Ein „Studio für audiovisuelle Kunst“ nach dem Vorbild des WDR-Hörfunks, ein dokumentarisches Spartenfenster, in dem Filme wie ein neuer „480 Tonnen“ außerhalb des Tagesprogramms via Internet jederzeit gesehen und gehört werden können – das wär’s. Die Weichen dafür können nur alle Beteiligten zusammen mit der Politik stellen.
Bei „480 Tonnen“ ist etwas zu beobachten, was auf alle deine Filme zutrifft: du wendest dich nie einem einzigen Protagonisten zu, sondern immer einer Gruppe, einer (Arbeits-)Gemeinschaft, oder gar der ganzen Bewohnerschaft eines Ortes. Ist dies richtig beobachtet und wenn ja, was ist der Antrieb für dieses Vorgehen?
Skrupel. Skrupel, in die Persönlichkeitssphäre anderer einzudringen. Skrupel, die Verantwortung für einen Protagonisten zu übernehmen, mit dem es an die Öffentlichkeit geht. Skrupel, als Filmemacher an der Nabelschnur eines Protagonisten zu hängen und von dessen Kooperationsbereitschaft 'bis zum Äußersten' abhängig zu sein. Skrupel vor der psychischen Energie, die ich erst in ihn hineinpumpen muss, bevor ich ihn aussaugen kann. Skrupel, ihn als Schauspieler zu benutzen, ohne ihn wie einen Schauspieler (zu) bezahlen (zu können).
Lust. Lust auf Gemeinschaft an gesellschaftlichen Schauplätzen. Lust, den Hölderlin’schen Turm zu verlassen. Lust, den untertänigen Scardanelli an die frische Luft zu schicken, Land, Leben und Leute entdecken zu lassen.
Angstlust. Angstlust, vor eine fremde Gemeinschaft zu treten und ihr in die Augen zu sehen. Angstlust, auf eine Gemeinschaft zu stoßen, die konträr zur eigenen Gemeinschaftslosigkeit steht. Angstlust, einer Gemeinschaft Vertrauen abzuhandeln, der ich selbst nicht angehören möchte.
Sehnsucht. Sehnsucht, einer Gemeinschaft anzugehören und ihr die Verantwortung zu übertragen. Banale Sehnsucht, nicht allein sein zu müssen, sich selbst nicht definieren zu müssen. Illusorische Sehnsucht nach Vereinigung in Harmonie und Konfliktlosigkeit.
Du arbeitest gleichzeitig als Kameramann und als Regisseur. War dies schon immer so und wodurch kam es zu dieser Verschränkung der Tätigkeiten? Wie sehr prägt deine Arbeit des Kameramanns deine Auffassung von dem, was ein Regisseur ist?
Ich fing Mitte der 60er Jahre an mit poetischen Kameraaufzeichnungen von Vorgängen in meinem Umfeld, wie ich sie heute auch wieder mache, nur dass sich das Umfeld inzwischen ausgeweitet hat, und dass die Tonspur dazugekommen ist. Den Versuchen lag damals kein filmisches Konzept zugrunde. Daher führte ich sie nicht weiter und arbeitete zunächst als Kameramann bei unabhängigen Projekten. Die Kameraarbeit korrespondierte mit meiner bildnerischen Arbeit als Plakatmacher. Es handelt sich beim Film wie beim Plakat um technisch reproduzierbare Medien, mit denen ich mich bewusst von der bildenden Kunst, in der das handgefertigte Original im Mittelpunkt steht, absetzen wollte. Durch den jahrelangen ausschließlichen Umgang mit bewegten und unbewegten Bildern hatte ich jedoch das Schreiben und den Kontakt zu Literatur und Theater vernachlässigt. Daher war mir das essentielle Verhältnis von Sprache (als einer Ausdrucksform des Denkens und Erzählens) und dem erzählenden Film lange nicht bewusst – was einerseits ein Defizit war, andererseits Ansporn bis heute ist, an einer filmischen Erzählform zu arbeiten, deren Rezeption sich der von Werken der bildenden Kunst und der Musik annähert.
Ich füge hier die Synopsis meines „Kobe“-Films an, um ein Beispiel dafür zu geben, wie ich die Nähe zu anderen Künsten, in dem Fall zur Musik, suche:
'Jemand fragte Debussy, wie er komponiere. Er sagte: Ich nehme alle Töne, die es gibt, lasse diejenigen weg, die ich nicht will, und verwende alle anderen. Die Antwort von Debussy gefällt mir. Ich möchte es so anfangen, wie er sagt: Ich nehme alle Großstädte, lasse diejenigen weg, die ich nicht will, und verwende Kobe…Kobe hat alle Häfen: Handelshafen, Fährhafen, Flughafen – produziert alle Waren: Schiffe, medizinische Apparate, Sake – verarbeitet alle Tiere: Rinder, Fische, Perlmuscheln – bietet alle Parks: Industriepark, Technologiepark, Merikenpark… Kobe hat alles, was Großstädter verbindet: Bullettrain, Brücke, Bergbahn – alles was Großstädter anfassen: Essstäbchen, Kampfschwert, Pachinko – alles was Großstädter fürchten: Langeweile, Verkehrsstau, Zartheit – alles was Großstädtern fehlt: Erfahrung, Genügsamkeit, Horizont… Ich nehme alle Schauplätze in Kobe, verwende diejenigen, an denen es spezifische Töne gibt, und lasse alle anderen weg…'
Im Moment, wo ich die Kamera aus eigenem Antrieb einschalte, beginnt Regie. Der Schauplatz, der Beginn des Einschaltens und der Zeitpunkt des Abschaltens werden von mir definiert. Der Prozess des Auswählens und Sammelns von Bewegtbildern geschieht im Bewusstsein des Montageprozesses, der dem Material die endgültige Gestalt und den endgültigen Rhythmus gibt. Dies gilt sowohl für die Direct Cinema-Methode, bei der ein prozesshaftes Geschehen, dessen Ausgang unbekannt ist, beobachtend und improvisierend begleitet wird, als auch für den synthetischen, d.h. konzeptuell vorbereiteten und geplanten Film. Dass ich die Kameraarbeit auch bei den eigenen Filmen bis heute nicht aufgegeben habe, hat mit der Obsession zu tun, durch den Sucher der Kamera ein bewegliches Objekt in einem Raum ins Visier zu nehmen, d. h. die chaotische und verwirrende Vielfalt visueller Phänomene im Fadenkreuz eines kadrierten Rechtecks zu bannen und auf das 'Wesentliche' zu reduzieren. In der Dominanz dieser Obsession steckt die Gefahr, dass sie ergebnislos verpufft, solange sie nicht durch Buch und Regie, d.h. durch eine erzählerische Form gelenkt wird.
In dieser Dialektik programmierter Blockaden (visuelle Obsession vs. sprachlich determinierter Plan) bewegt sich meine Regiekameraarbeit. Im Zentrum des Konflikts steht also das Verhältnis von Sprache und Film. Der Kameramann in mir verlangt ostentativ (schon um das teure Filmmaterial von Kodak zu sparen): Im Bild muss sich mehr bewegen als die Lippen der Protagonisten (talking heads). Dieses emotional starke Verlangen hat den Regisseur in mir dazu bewegt, nach einer Methode zu suchen, die ganz ohne talking heads und voice over auskommt und Sprache durch Geräusche oder ambient sound (auch wild sounds genannt) zu substituieren.
[…]
Irgendwann hat es eine Art Bruch oder einen Sprung in deiner Arbeitsweise gegeben, so dass man dein Werk in deutlich unterscheidbare Phasen einteilen kann. Vorher gab es, bei all ihrer Qualität, eher konventionell oder sagen wir klassisch gearbeitete Dokumentarfilme wie „480 Tonnen“ oder auch „Lettischer Sommer“. Dann ab „B 224“ sind die Filme ohne Kommentar, ohne Sprache - die nun wesentlichen Elemente sind allein die rasch wechselnden Bilder und die Montage. Wie kam dieser Wechsel zustande?
Von Anfang an hatte ich ein spannungsvolles Verhältnis zur Sprache im Film. Bewegt werden dabei – wie gesagt – vorrangig die Lippen, und es kostet viel wertvolles Material (ich spreche von Film, nicht von Video). Instinktiv begann ich mich deshalb für Fotografie zu interessieren und war ein Jahr lang Gasthörer bei der Fotografieprofessorin Inge Osswald. Das hat wohl eine Bewegung von der verfolgenden Kamera des Direct Cinema („480 Tonnen“) zur 'fotografischen' oder 'kadrierenden' Kamera („B 224“) ausgelöst.
Entscheidender noch war die Erkenntnis, dass ich ein Konzept brauchte für die weitere Filmarbeit, die sonst in einer Sackgasse enden würde. Auslöser für diese Erkenntnis war eine Semester-Exkursion zu den Feierlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie. Ich hatte mit einer sehr guten Kamera sechs Schwarzweißfilme belichtet, aber – im Gegensatz zu meinen Mitstudierenden – ohne Konzept. Ich hatte also nichts zustande gebracht, nicht ein ansehbares Foto. Trotz dieser niederschmetternden Erfahrung hat es dann noch vier Jahre bis zu dem Wechsel gebraucht, und Auslöser dafür war „Ein Schloß für alle“, ein wortlastiger Film für den WDR, bei dem ich sechzig Kassetten verdreht hatte und auf das deprimierende Drehverhältnis von 1:30 gekommen war. Ich musste das Ruder um 180° herumreißen und warf meinen Fernseher gleich hinterher. Statt vor der Kiste zu hocken, hörte ich im Radio WDR 3, „Studio für akustische Kunst“, ein Soundscape vom Vertreter der musique concrète Luc Ferrari. Eine Flasche Rotwein, oder eine halbe, half dabei, und das war’s: Soundscape zusammen mit Film, gleich 35 mm, Breitwand und Dolby SR. Keine 'soziale Falle', keine Gemeinschaft mehr, stattdessen Fortbewegung entlang einer Straße und in einem von ihr definierten Korridor, fotografisch knappe und sequenzielle Beobachtung von Arbeitsvorgängen und Freizeit an wechselnden Schauplätzen, Drehverhältnis 1:4, der Pilotfilm für sechs fertig gestellte dialogfreie Filme bis heute. Glücklicherweise wurde der kein Flop.
Was wäre deine Reaktion, wenn man deine Filme als Heimatfilme bezeichnen würde?
Den Begriff 'Heimatfilm' verbinde ich mit dem Kino der Adenauerzeit. Kurz nach dem Weltkrieg wurde damit die Sehnsucht nach einer heilen Welt bedient. Städte und Fabriken waren zerstört, Millionen Menschen waren entwurzelt, meine Familie auch. Der Prozess der Entwurzelung wurde und wird beschleunigt durch eine rasant fortschreitende Technologisierung und Verstädterung. Angekommen in der schönen, neuen digitalen Welt stellte sich die Frage: 'Was ist Realität?' Der Wirklichkeitsbegriff, auch der im Dokumentarfilm, wurde einer Revision unterzogen. Die boomenden Medien, die ursprünglich reine Mittler von Wirklichkeitsdaten waren, generierten jetzt selbst Wirklichkeit und infiltrierten damit die physische Welt. Und während die mit jedem Tag künstlicher wird, zeichne ich mit einer analogen Kamera, wie schon die Lumières 1897, Bewegungen an physischen Schauplätzen in verschiedenen Heimatländern auf. Das ist meine Reaktion auf erlebte Entwurzelung. Und andere reagieren auch. Neulich, während eines Aufenthaltes in New York, wohin ich zu einem Festival eingeladen war, las ich folgende Anmerkung des Kritikers Mark Elijah Rosenberg, New York: 'Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell auf eine nachindustrielle Welt zubewegen würden, beherrscht von virtuellen Produkten und Cyber-Realitäten? Eine Welt, in der es für die physischen Objekte der jüngsten Vergangenheit keine Verwendung mehr gibt und die Erzeuger und Verbraucher von heute altmodischen, früher nützlichen Produkten keinen Platz mehr haben. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo wir unseren Abfall liebevoll bedenken müssen, um uns selbst vor der Vernichtung durch Abstraktion zu bewahren.'
Von dem Schriftsteller Robert Walser wird gesagt, dass er im Laufe seiner Arbeit immer mehr die Fähigkeit verloren hätte, sein Augenmerk auf das Zentrum eines Romangeschehens zu richten und stattdessen sich in das Anschauen der an der Peripherie des Gesichtsfeldes auszumachenden Dinge verliebte. Ein bisschen, finde ich, ist mit Letzterem etwas über deine jüngeren Filme gesagt - oder haben die ein Zentrum?
Wenn ich mich nicht irre, kreisen diese Filme um ein kollabierendes System, dessen überforderten Akteuren – blind vor Eifer – anscheinend Hören und Sehen vergangen ist. Gebetsmühlenartig drehen sie – wie Gefangene ihrer selbst – am Rad des Konsums, der in den Filmen auf der mechanischen Ebene der Ausbeutung, der Produktion und der Freizeit reflektiert wird. In dem tranceartigen Zustand, in den sich die Akteure gedreht haben, droht ihnen die Achse des Rades aus dem Gesichtsfeld, und drohen sie selbst an die Peripherie des Geschehens zu geraten (die dafür verantwortlichen Fliehkräfte nehmen bekanntlich mit der Entfernung vom Zentrum zu). Diesen zentrifugalen 'Roman' als Addition von Abläufen und sich wiederholenden Vorgängen auszumachen und konzentriert aufzuzeichnen, liebe ich. Der trancehafte Mechanismus selbst und dessen Darstellung in collagenhafter Form (Montage: Bert Schmidt), deren Gestalt sich erst beim hörenden Betrachter konfiguriert, mag die bei Walser konstatierte Wahrnehmungsverschiebung an die Peripherie suggerieren, bewusst vollzogen oder beabsichtigt ist sie nicht.
Täusche ich mich oder ging mit der neuen Art deiner Filme auch so etwas wie eine Leichtigkeit einher. Nicht dass die Themen leichtgewichtig wären, auch nicht die Gedanken, die man sich macht - doch entsteht beim Anschauen etwas Schwebendes, für das ich derzeit kein besseres Wort als Leichtigkeit weiß. Ist das etwas, was du anstrebst? Und: ist die zuweilen bei der Arbeit selbst auch spürbar oder überwiegt dabei doch die Anstrengung?
Immer, wenn es zu anstrengend, langweilig oder unübersichtlich zu werden droht, sage ich mir: Konzentrier dich auf die Geräusche. Geräusche werden ausschließlich durch mechanische Bewegung erzeugt, und mechanische Bewegung ist gut für die Kamera. Die (lustvolle) Freude an reiner Bewegung oder Choreografie – wie in der Slapstick Comedy –, verbunden mit dem Montageprinzip, 'dass die Bilder wechseln, bevor wir uns an ihnen festschauen können' (Manfred Riepe), hat etwas Spielerisches an sich und kann den Eindruck von Leichtigkeit erzeugen, selbst wenn die Sache vielleicht schwer ist wie in Deer Lodge State Prison, wo auch Todesurteile vollstreckt werden. Statt der Apokalypse zeigt der Film [„Milltown, Montana"] Gefangene, die Autoschilder mit dem Montana-Label „Big Sky“ und mit Buchstabenkombinationen bedrucken, die von Ernst Jandl stammen könnten. Und in welchem Rhythmus das Klacken der Stanzmaschine geschnitten ist, erinnert an den Rhythmus eines Thelonious Monk. Die Szene mit dem Lassowerfer auf der Gefängnisranch entstand so: Wir schlenderten über das Gelände und hielten bei einem aus Blech modellierten Kuhkopf und einigen gesattelten Pferden an, als ein roter Truck mit der Aufschrift „Inmate“ und einer bimmelnden Kuhglocke an der Stoßstange vorfuhr und stoppte. Wegen des Geräuschs der Kuhglocke und des röhrenden Truckmotors bat ich den Fahrer, der unter anderen Umständen sein Geld auch als Dressman hätte verdienen können, für Kamera und Mikrofon noch einmal vorzufahren. Der dreibeinige Kuhkopf erinnerte an ein Readymade von Duchamp, und so bat ich den gut aussehenden Fahrer anschließend um eine Lassoübung. Welche 'Palette' von Geräuschen ein Lasso macht – ein fast metallisches Reibegeräusch beim Einrollen; ein Klatschen, wenn es auf den Lederschurz trifft, ein Pfeifen, wenn es geschwungen wird; einen blechernen Hohlklang, wenn es sich um den Kuhkopf schlingt – das entdeckten wir erst bei der Aufnahme.
Du hast in jüngerer Zeit zwei bemerkenswerte Trilogien über Orte gemacht, Orte im Jemen, in Japan oder in Alaska. Wodurch wird ein Interesse oder eine Faszination an einem Ort bei dir ausgelöst? Und kannst du einmal beschreiben, wie du beim Drehen vorgehst, dich einem Ort, den Menschen annäherst?
Für die Trilogie „ErdBewegung“ suchte ich eine Straße, die durch dünn besiedeltes Gebiet, fernab von städtischer Zivilisation führt und dachte dabei an die Mongolei – ohne zu wissen und deshalb zu bedenken, dass im Jahr 2001 Filme über die Mongolei im deutschen Fernsehen schon Legion waren. Darauf machte mich Inge Classen, Leiterin der Filmredaktion von ZDF/3sat und Koproduzentin der Trilogie, aufmerksam und schlug mir stattdessen Alaska vor. Alaska ist riesig, und auf dem bekannten Pan-American Highway, der von Anchorage über Fairbanks nach Prudhoe Bay führt, wollte ich die Kamera nicht aufstellen. Da erinnerte ich mich, dass Dore O und Werner Nekes vor längerer Zeit in Alaska waren, und ich fragte Dore: 'Wo genau?' 'In Nome', antwortete sie und zeigte mir vergilbte Fotos von sich im Schnee. Noch aus der Goldgräberzeit würde es dort ein Kino mit roten Plüschsesseln geben, und ein Ei im Geschäft kostete vier Mark. Klar, Haushühner gedeihen nicht am Polarkreis, was mich aber nicht davon abhielt, das mir gänzlich unbekannte ‚Nome’ als Schauplatz zu wählen.
Eine Vorbereitung vor Ort kam aus Zeit- und Kostengründen nicht in Frage, stattdessen erforschte ich das Gebiet erstmals im Internet, das ich gerade für mich entdeckt hatte. Dort erfuhr ich: Nome liegt an der Beringstraße, erreichbar in der eisfreien Zeit nur per Schiff oder ganzjährig per Flugzeug, eine Straßenverbindung zum übrigen Alaska existiert nicht. Die wenigen Pisten, die von Nome wegführen, enden nach eineinhalb Stunden Fahrzeit in einem ehemaligen Goldgräbercamp in der Tundra oder an der Nordküste der Seward Peninsula in der Eskimo-Ansiedlung Teller. Für Goldrauschnostalgiker gibt ein kleines Touristenbüro am Strand von Nome, dessen Leiterin Leslie Seamon mir in E-Mails den Ort (Slogan: 'There’s No Place Like Nome') in leuchtenden Farben schilderte. Eindeutig überwog bei ihr jedoch die Farbe Pink. Sie lebten dort wie in einer großen Familie, schrieb sie, jeder sei für den anderen da. Und diese Harmonie könne auch nicht durch schlimmes Verbrechen aus jüngster Zeit getrübt werden. Zwei Schlittenhunde seien erschossen worden, und der jugendliche Täter sei hart dafür bestraft worden. Ich befürchtete, wenn Leslie meine einzige Informantin bleiben würde, dann müsste ich mit dem Film Schiffbruch erleiden. Deshalb rief ich Alexander in Frankfurt an, von dem ich wusste, dass er mit einem Faltboot den Noatak River heruntergepaddelt war, der nördlich von Nome in den Kotzebue Sound mündet. Alexander hatte ich über Peter Nestler in Polen kennen gelernt. Er hatte die Erinnerungen von Toivi Blatt, einem Überlebenden des Vernichtungslagers Sobibor (und Protagonist von Peters Film), ins Deutsche übersetzt, und kam uns deshalb bei den Dreharbeiten besuchen. Alexander nannte mir Susan Steinecker, die sich in Nome gut auskannte. Als er sie am Noatak traf, hatte sie einen russischen Freund dabei, der später mit einem Hubschrauber in Sibirien abgestürzt war. Über die Adresse ihres Exmannes konnte ich sie erreichen und wurde gleich weitergereicht an Jim Stimpfle, den Inhaber von New Frontier Realty, den Immobilienmakler von Nome. Jim war ein Glücksfall, nicht nur für den Film. Als ich, zehn Tage bevor das Team kam, in Nome eintraf, war seine Frau Bernadette gerade zu einem Computerkurs nach Kanada gereist, und der schwergewichtige Jim ging jeden Morgen um halb Acht zum Frühstück in Fat Freddies Polar Café. Hier machte er mich mit seinen Freunden bekannt: einem Schiffschlosser vom Hafen, einem Krankenpfleger, der von der Nachtschicht kam, und Buddy Rehm, einem Goldsucher aus Arizona. Das war ein guter Einstieg in Nome. Vom Polar Café schwärmte ich aus und bekam überall, selbst im Gefängnis, eine Drehgenehmigung, mit Ausnahme des ölgetriebenen Kraftwerks, wo man wohl dachte ich sei ein Greenpeace-Agent aus New York. Auch ein Gunmaker, ein traumatisierter Veteran der Special Forces, wollte sich nicht filmen lassen. Von Jim lieh ich mir für die Recherche eins von seinen Autos, einen klapprigen, schwarzen Toyota und später ein Fahrrad, als sein Sohn sich mit dem Wagen überschlagen und ihn dabei zu Schrott gefahren hatte.
Zuerst interessierten mich die Goldgräber, übrig gebliebene Einzelgänger, nachdem die Alaska Gold Company die Förderung eingestellt und ihre riesigen Goldbagger als düstere Mahnmale in der Landschaft zurückgelassen hatte. Jobs gab es fast nur beim Staat oder bei der Stadt Nome: im Hafen, im Gefängnis, im Krankenhaus. Im Norton Sound Hospital spielte eine Alzheimer-Patientin auf verstimmtem Klavier einen Yankee-Doodle für mich, aber leider durfte ich sie nicht aufnehmen. Statt im großen Stil Gold zu fördern, wurden in Nome jetzt Steine zu Schotter gemahlen und verschifft, und ohne Rücksicht auf den Landschaftsschutz wurde dafür das malerische Cape Nome weggesprengt. Vielmehr gab es nicht in Nome zu besichtigen. In den Bars war nichts los, und betrunkene Eskimos, die sich wie ihre Verwandten in Sibirien 'Inupiat' nennen, wollte ich nicht zeigen. Die anderen 'Modelle', den Musher Joe Garney aus Teller und die Schützen in den Jagdszenen entdeckte ich auf Fahrten entlang der Pisten – so auch den Fuchs im Goldgräbercamp von Betty Krutch. Angelockt durch Schokolade traute der sich ganz nah vor die Kamera. Einen ordinären Fuchs im exotischen Alaska aufzunehmen, wo man stattdessen Grizzlies und Moschusochsen erwartet, bereitete mir ein besonderes Vergnügen. 'Ich bin nicht Discovery Channel', gab ich mir selbst die Losung aus, bedauerte am Ende aber doch, keinen Sandhill Crane habe filmen zu können, die sich an einem Tag im Frühherbst zu Zehntausenden vor dem Abflug in den Süden versammeln. Aber mit der Nagra konnte Michael Busch ihren durchdringend krächzenden Ruf aufnehmen, und so sind sie wenigstens auf der Tonspur zu hören, um die es mir ja im Besonderen geht.
Ähnlich wie in Nome habe ich auch die anderen Filme vorbereitet. Zuerst orientiere ich mich an geografischen Koordinaten, dem Korridor entlang einer Straße in Indien oder Alaska, an der Küstenlinie in Kobe, der Oase in Ma’rib, der Interstate 90, die gekreuzt wird vom Highway 93, in Montana. Dann gucke ich, wer oder was bewegt sich dort und macht dabei welche Geräusche, was ist typisch daran gerade für diese Gegend oder Landschaft, und wie und von was leben die Leute da. Dann suche ich auch nach parallelen Motiven, die das aktuelle Projekt mit früheren verbinden, etwa den Bergbau, eine Freizeiteinrichtung oder ein Krankenhaus. Nach den Straßen der Trilogie bin ich an Orte gegangen, die in der Vergangenheit zerstört wurden. Auslöser dafür waren die Anschläge von New York, London und Madrid. Im Bewusstsein, dass alles mindestens einmal gefilmt wurde und vieles mehrmals oder unendlich oft, gebe ich mir zusätzlich zum dialogfreien Bild-Ton-Konzept selbst Spielregeln, um mich zu motivieren, das schon Gefilmte noch einmal zu filmen. Das sind in der Tetralogie die vier Elemente, die jeweils ein Leitmotiv sind: Wasser in Kobe, Erde/Sand/Stein in Ma’rib, Luft in Montana, Feuer/Licht im Ruhrgebiet. Und weil mir das als Motivation noch nicht reicht, versuche ich, ähnlich wie die Oulipo-Leute durch formale Zwänge in der Literatur, etwas für den Ort Wesentliches wegzulassen bzw. nicht zu filmen: den Autoverkehr in Kobe, die Religion in Ma’rib, die Jagd in Montana.
„Big Sky“, wie sich der Staat Montana und das Filmfestival in Missoula nennen, brachte mich auf die Fährte 'Luft'. Gleichzeitig ist der Film Bestandteil der deutsch-tschechischen Serie „Breathless“. Das führte mich zur Asbestose-Klinik von Libby, wo ehemalige Arbeiter einer Asbestmine, die buchstäblich ohne Luft bzw. Atem sind, untersucht werden. „Breathless“, metaphorisch gelesen, korrespondiert mit dem Faktor 'Zeit'. Das brachte mich auf die Idee, die verschiedenen Zeitschichten der Besiedlung bzw. Kolonisierung Montanas zu zeigen, sofern sie heute noch sichtbar sind. Die ersten Menschen, die vor 17.000 Jahren über die Beringstraße kommend den amerikanischen Kontinent betraten, waren die Indianer bzw. Inuit. Die ersten Europäer, die in die Wildnis Montanas eindrangen, waren französische Pelztierjäger, auch 'Mountain Men' genannt. Dann kamen Büffeljäger, gefolgt von Goldsuchern, Schienen für die Eisenbahn wurden verlegt. Mit dem 'Homestead Act' von 1862 lockte die Regierung in Washington Farmer und Rancher ins wilde Montana, Bars und Saloons machten auf, und in diesem Ambiente siedelte Howard Hawks seinen Western „Big Sky“ an, den ich als Gattung mit der Gefängnisranch von Deer Lodge zitiere bzw. parodiere. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann der Abbau von Bodenschätzen im industriellen Maßstab, vor allem die Förderung und Schmelze von Kupfer in Butte und Anaconda. Der Bergbau benötigte Holz zum Ausbau von Strecke und Streb, viel Holz. Also zeige ich das inzwischen stillgelegte, große Sägewerk bei Milltown, wo es einen Damm mit einem Wasserkraftwerk gab, um den Energiebedarf der elektrischen Sägen und Hobel zu decken. Der inzwischen abgerissene Damm liegt an einem Fluss, dem Clark Fork River, der bei Butte entspringt. Jahrzehntelang wurden dort Schwermetalle und Gifte wie Arsen eingeleitet, die das Flussbett bis zum Milltown Dam hin vergifteten. Planierraupen verladen das kontaminierte Erdreich in schwarze Waggons, die auf einer Deponie wieder entladen werden. Auf halber Strecke passieren sie einen schwarzen Tunnel, der neben einem Wildwechsel liegt, was einigen Rehen und Kojoten zum Verhängnis wurde. Zwischen den Gleisen filmte ich ein überfahrenes Reh und in Großaufnahme dessen leere Augenhöhle.
Auf das Augen-Motiv war ich erst während des Drehs und bei einem Besuch der Universität von Missoula gekommen. Auf der Suche nach einem Dozenten, mit dem ich einen Filmvortrag verabreden wollte, spähte ich durch eine halb geöffnete Tür in einen abgedunkelten Hörsaal. Dort wurde gerade Buñuels „Un Chien Andalou“ gezeigt mit der bekannten Auge-Szene am Anfang, die von mir in der Branding-Szene zitiert wird: das schreckgeweitete Auge des zu Boden geworfenen und gefesselten Kalbes, das heftig atmend bzw. schnaufend den Sand hochbläst (Element 'Luft'). Das darauf folgende leere Rehauge habe ich, vielleicht etwas banal, so gedeutet: die Leute an den Bildschirmen und vor den Bildern müssen heute so viel sehen, dass sie am Ende (eines Tages, eines Monats, eines Jahres, eines Lebens) nichts mehr sehen. Meine Antwort darauf ist Reduktion.
Deine jüngeren Filme sind dokumentarisch, kommentarlos, materialistisch - wo in ihnen stecken die Emotionen?
Deine Frage suggeriert, dass Gefühle im Film vornehmlich durch Protagonisten, durch ein mehr oder weniger dramatisches Geschehen, in das sie verwickelt sind, also durch Personalisierung generiert werden. Flaherty hat mit „Nanook of the North“ den dokumentarischen Prototyp für dieses 'Helden'-Genre geschaffen. Dass Helden im Dokumentarfilm keine bezahlten Schauspieler, sondern reale Personen mit einem Leben vor und nach dem Film sind, wird dabei leicht übersehen, so auch die Tatsache, dass Nanook schon bald nach Fertigstellung des Films, der ein Welterfolg wurde und ihn 'unsterblich' gemacht hat, gestorben ist. Flaherty behauptete sogar, Nanook sei verhungert. Unkalkulierbare Verantwortlichkeit für Protagonisten war es auch, die Kieślowski veranlasst hat, vom Dokumentarfilm zum Spielfilm zu wechseln, um hier, ungehemmt von Rücksichten und Verantwortlichkeiten, Emotionen dort zu zeigen, wo sie für ihn am elementarsten sind, im Schlafzimmer, wo geboren, geliebt und gestorben wird. Da mich im Dokumentarfilm, vom Gefühl und vom Bewusstsein her, aber gemeine Plätze anziehen, intime Orte und Situationen dagegen überhaupt nicht, bin ich, wenn auch postmodern domestiziert, „Der Mann mit der Kamera“, der sich den Korridor einer Straße im Ruhrgebiet, eine Oase am Rand der Wüste Rub’ al Khali oder eine Hafenstadt in Japan als Helden nimmt. Und wer sich den anonymen, nur über Bewegung sich mitteilenden Menschen in diesen Filmen zuwendet, wird sein Gefühl und sein Bewusstsein für die Widersprüche, denen sie ausgesetzt sind, entdecken, und er wird bei allen Widersprüchen auch Sympathie für den kollektiven Helden Straße, Oase, Hafenstadt empfinden und eine „Traurigkeit im Sommer“ wie bei der Betrachtung eines 'schönen Menschen' im gleichnamigen Gedicht von Jannis Ritsos:
Ein schöner Mensch, der Dörfler, ausgestreckt im Schatten der Platane.
Um ihn braust die goldene Sonnenhitze, atemlos. (…)
Er stand auf. Nahm ein Bündel Holz unter den Arm.
Nahm ein Kind an der Hand und entfernte sich im Hintergrund des goldenen
Mittags. Zwei Meter hinter ihm folgte die schmale Frau.
Unendliche Traurigkeit:
Niemand wird ihm sagen, daß er schön ist. Er wird es nicht erfahren.
Doch statt pathetischer Formeln wie „braust die goldene Sonnenhitze“ oder „unendliche Traurigkeit“ mache ich es emotional ‚cooler’, musikalischer, spielerischer. Eine Ausbeutung von Gefühlen derer, die sie vermitteln und rezipieren, soll nicht stattfinden; aber das mit der Schönheit ist okay.
Ein Gespräch zwischen Michael Girke und Reinald Schnell
MICHAEL GIRKE: Als ich am Beginn des Jahres einen Text für das Programmheft der Veranstaltungsreihe „Der Pott filmt“ schrieb, hast du moniert, darin fehlten Einlassungen über den besonderen Charakter des Ruhrgebiets. Wie würdest du diesen Charakter denn beschreiben?
REINALD SCHNELL: Man muss einfach wissen: mit der Industrialisierung des Ruhrgebietes war eine Bevölkerungsexplosion verbunden. Vorher war es ein Agrarland, die Städte waren noch Dörfchen. Die Unternehmer stellten dann solche Siedlungen wie Eisenheim oder Mausegatt mitten auf die Felder; die Städte wurden größer, breiteten sich aus und schließlich wurden die Siedlungen integriert. Und natürlich trafen hier nicht Kulturen, sondern Mentalitäten, fremde Mentalitäten, aufeinander, die sich zunächst richtig heftig gerieben haben. Innerhalb dieser enormen Expansion fanden also diese starken gesellschaftlichen Auseinandersetzungen statt, aber den Ruhrgebietlern gelang es mit der Zeit sozusagen eine Einheit zu finden, dazu eine gewisse Form der Offenheit. Übrigens auch eine eigene Art des Sprechens. Wenn man in den Betrieben Anleitungen gab, musste man schreien, in den Siedlungen unterhielten sich die Leute über die Gartenzäune ihrer recht weit auseinander liegenden Häuschen hinweg. Hier war es also stets ein bisschen laut.
Die aus all dem erwachsene Mentalität kann man vielleicht so skizzieren: wenn sich in den 20er Jahren Leute begegneten, hieß es beispielsweise ʹNa, du altes Arschloch, wie geht’s dennʹ. Keiner nahm so etwas übel, denn die Fremdheit, die es ja lange Zeit gegeben hatte, wurde mit solchen Formen ironisiert. Und so hat das Ruhrgebiet eigene, sehr direkte Kommunikationsformen entwickelt, die in meinen Arbeiten, nicht nur als Filmemacher, eine große Rolle gespielt haben. Es geht mir darum, ein Thema immer möglichst direkt anzugehen.
Im Verlauf der Zeit kamen immer wieder Leute her, die sich fürs Ruhrgebiet interessierten, die auch Sympathien hatten, aber ihren Blick über diese ihnen fremde Welt legten und oftmals eine Form der Romantisierung betrieben. Da wurden Elemente in die Darstellung des Ruhrgebietes gemischt, welche mit dem Kern der Ruhrgebietsmentalität nicht viel zu tun hatten. Das war meine gar nicht wirklich kritische Wahrnehmung deines Textes: wieder so ein typischer Blick von außen!
Wie sollte es anders sein?
Sicher. Aber ich hätte es eben gut gefunden, wenn du wenigstens erwähnt hättest, dass durch diese gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, zu der die Menschen sich verhalten mussten, eigene Lebens- und Umgangsformen entstanden. Denn, auch wenn in deinem Text gar nichts Falsches steht, berührt er die Wurzeln nicht. Ich glaube, dass meine Filme zu den wenigen gehören, die das Ruhrgebiet in dieser Weise begreifen und begreifbar machen.
Nun bist du lange schon ein Bürger Mülheims. Kannst du einmal die Veränderungen der Stadt in der jüngeren Zeit, in den letzten drei Jahrzehnten beschreiben?
Bei mittelalterlichen Städten, um einen Vergleich heranzuziehen, war es so, dass in ihnen Fürsten residierten … das hat Folgen, wirkt bis heute nach außen hin prägend. Das Ruhrgebiet hingegen kann man nicht als etwas Statisches verstehen, es war eigentlich immer in Veränderung begriffen, die Umgestaltung ein Problem in Permanenz. Kohle und Stahl waren ja nicht länger als hundertfünfzig Jahre dominant. Ab den 60er Jahren veränderten neue Produktionsprozesse alles noch einmal, auch durch eine neue Urbanisierung, Universitäten mussten nun her, auch ist das Ruhrgebiet heute nicht mehr expansiv – aber wieder nimmt alles eine andere Gestalt an.
Mülheim ist eine ganz typische Stadt, sie hat klassische Industrien und gleichzeitig ein Max-Planck-Institut, dessen Mitarbeiter etwas mitbrachten, neue Formen der Kommunikation. Dazu kommen die traditionelle Oberklasse und die Arbeitenden. Alle diese Leute haben aber ein Miteinander gefunden, das einen ganz anderen Charakter hat als beispielsweise in Berlin. Bloß weiß man nicht recht zu sagen, was nun wirklich repräsentativ für das Ruhrgebiet ist.
Wird man angesichts der permanenten Veränderungen zuweilen auch sentimental?
Sentimentalität entsteht für mich dadurch, dass viele Formen, die für mich wesentlich waren, Wurzeln meiner Phantasien, einfach wegsterben. Vielleicht gehöre ich noch zu den Romantikern, die sagen, dass auch etwas bleibt. Es ist mir aber überaus bewusst, dass Veränderungen unvermeidlich sind. Als alter Dialektiker weiß ich, es ist immer etwas in Bewegung, wie es ja schon Heraklit in der Antike mit seinem berühmten Satz ʹAlles fließtʹ gefasst hat – das sind Gesetzmäßigkeiten. Und die werden durch das bestimmt, was real stattfindet, durch das Neue, das in einer Zeit hinzukommt. Die Besonderheit des Ruhrgebietes als einem industriellen Zentrum ist eben, dass die Prozesse, auch alle Geschehnisse, welche mit Migration zu tun haben, weitaus schneller ablaufen als anderswo.
Ein Staat wie die DDR, dessen Existenz für mich, wie bewusst oder tief erlebt auch immer, zum Alltag gehörte, ist inzwischen historisch geworden; viele junge Leute wissen schon fast gar nichts mehr über die DDR oder die historischen Gründe der Existenz dieses Staates. Wie erlebst du dieses Wegwehen bestimmter Ruhrgebietsrealitäten, in welchen du gelebt hast?
Ich bin Jahrgang 1935 und gehöre einer Generation an, die ungeheuer viele Veränderungen erlebt und durchgemacht hat. Mein erster bewusster Schock war die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Meine Eltern waren Antifaschisten und haben mich sehr geprägt. Plötzlich wurde dann in Westdeutschland wieder über Militarisierung und Aufrüstung geredet. Mir war stets bewusst, dass der deutsche Militarismus in den 20er Jahren den Faschismus mit hervorgebracht hatte - und mir schien das nun wieder zu beginnen oder weiter zu gehen. In einer solchen Situation fragt man als junger Mensch, an wem man sich denn orientieren könne. Mein großer Held war zunächst Gandhi (lacht), der hatte beinahe die Züge eines Heiligen.
Nun waren meine Großeltern väterlicherseits sehr fromm gewesen, mein Vater aber war Marxist. Es gab eine große familiäre Ambivalenz, die aber bewirkte, dass ich mich auch mit dem dialektischen Denken beschäftigt habe – mein Vater hatte mir die entsprechende Literatur gegeben. Dabei stellte ich fest: die von Marx festgestellten Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche der Geschichte gingen in Westdeutschland immer schneller vonstatten. Von der Eisenbahn hin zum Auto - das hat hundert oder fünfzig Jahre gedauert, die Menschen konnten sich ganz allmählich mit technischen Entwicklungen vertraut machen. Heute entwickeln die Kommunikationstechnologien sich rascher, fordern die Menschen auch anders.
Also: diese Art von Denken und mein persönliches Erleben stehen in einem Zusammenhang. Und daraus folgt für mich, dass die Fragen, nach dem was ich bewahren will und was meine Vision nach vorne sein könnte, gleichberechtigt nebeneinander stehen. Weil Bewahren allein nicht zu einer produktiven Lebensform führt, bieten meine Filme, die sich mit Ruhrgebietsgeschichte befassen, niemals ein sentimentales Zurück an. Wie Bewahren und Nach-Vorne-Streben zusammenzuführen sind, da habe ich zwar keine Antwort darauf, aber ich bin optimistisch.
Vor über vierzig Jahren hast du zusammen mit Peter Nestler den Film „Mülheim/Ruhr“ gedreht. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Zufall. Hier kommt mein Vater ins Spiel: Robert Wolfgang Schnell. Er war Schriftsteller und kam immer sporadisch angereist, aus Berlin, wo er wohnte. Eines Tages stand er mit seiner üblichen Zigarette im Mundwinkel wieder vor der Tür und hatte noch jemanden dabei, den er mit folgenden Worten vorstellte: der hier macht Filme!
Forsch behauptete ich, auch Filmemacher zu sein. Und zwar, weil ich Mitglied in der Internationale der Kriegsdienstgegner war und zusammen mit einem Freund Bilder aus Konzentrationslagern mit einer 8-mm-Kamera abgefilmt und geschnitten hatte; das wurde dann auf Veranstaltungen gezeigt und war als Film natürlich gar nicht ernst zu nehmen. Aber Nestler guckte fasziniert darauf. Nachdem wir einige Male trinken waren, entstand dann langsam ein Verhältnis zwischen uns. Eines Tages kam ein Brief, in dem stand, dass Peter einen Film über das Ruhrgebiet machen und mich besuchen wolle. Wir einigten uns dann auf Mülheim, weil der Etat nicht groß war und ich Hinz und Kunz kannte - das war wichtig, so habe ich dem Nestler viele Leute vorstellen können. Wir gingen an diesen Film und führten ähnliche Diskussionen wie auch wir am Anfang dieses Gesprächs, nämlich darüber, was das Ruhrgebiet eigentlich ist. Im Grunde ist „Mülheim/Ruhr“ ein Film über diesen Dialog.
Ist der Film dokumentarisch oder gibt er in erster Linie eure Gefühle gegenüber der Stadt wieder?
Das kann ich eigentlich nicht beantworten. Die Bilder gaben Mülheim so wieder, wie ich es verstand. Was ja doch bei jedem Dokumentarfilm so ist. Peter Nestler verstand Mülheim ähnlich, das Bild Mülheims entspringt einer erfahrenen Realität. Der, der die Stadt kannte, zeigte sie dem, der sie nicht kannte. Das Bild Mülheims halte ich für realistisch, aber es gibt natürlich ganz andere Definitionen von Dokumentarfilmen.
Nun hat „Mülheim/Ruhr“, auch noch lange Jahre nach der Fertigstellung heftigste negative Reaktionen hervorgerufen. Haben die euch als Filmemacher überrascht?
Nein! Wir haben zwar nicht damit gerechnet, aber man war solche Auseinandersetzungen durchaus gewohnt. Ich erinnere mich, wie mein Vater vom damaligen Intendanten des Theaters nach Düsseldorf eingeladen wurde, um dort Büchners Stück „Leonce und Lena“ zu inszenieren. Da war ich noch ein kleiner Junge, habe also gar keine Szene mehr vor Augen, nur dass Valerio zum "Badenweiler Marsch" mit Hitlergruß die Bühne betrat, denn in der Inszenierung des Stücks wurde versucht zu erklären, wie Faschismus eigentlich möglich wird. Das wurde als skandalös empfunden, es gab heftigste Beschimpfungen und Verunglimpfungen. Ähnliches, wie gesagt, erlebte ich bei dem Konflikt um die Remilitarisierung Deutschlands. Es war einfach ständig Druck spürbar und mein Gefühl war, in einer Art Widerstand zu stehen.
Würdest du sagen, der Film „Mülheim/Ruhr“ hat, ähnlich wie die erwähnte Theaterinszenierung, deutliche politische Aspekte?
Peter Nestler hat einmal geschrieben, Filmegucken sei Arbeit, und dass es darauf ankomme, was ein Zuschauer, der ja ein Bewusstsein darüber hat, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang er lebt, zu einem Film assoziiert. Somit ist der Film schon politisch gedacht, und es wurde auf ihn ja auch immer politisch reagiert. Denn sowohl romantisierende als auch damals absehbare Vorstellungen der großen ökonomischen Konsortien darüber, wie eine moderne Stadt aussehen soll, werden von uns hinterfragt. Ob man unser Bewusstsein nun Klassenbewusstsein nennt oder sonst irgendwie, ist mir egal. Der Film war nicht gegen eine bestimmte Schicht gerichtet, sondern als eine realistische Reflektion gedacht, um mit Gleichgesinnten über gewisse Dinge überhaupt sprechen zu können, um sich sozusagen selber zu finden.
Neulich führte ich den Film in einem Seminar an der Fachhochschule in Dortmund einigen Filmstudenten vor, die waren zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt. Eigentlich alle bezeichneten den Film als deprimierend.
Ich würde diese Sichtweise nicht beanstanden, sondern den Film als einen Anlass nehmen, über diese zu reden. Wenn die Studenten solch einen alten realistischen Film sehen, entsprechen ihre Reaktionen wohl den augenblicklich in der Gesellschaft dominierenden Anschauungen. Und mein Eindruck ist schon, dass unsere Gesellschaft sich selbst immer mehr im Konsum verliert.
In der von euch gefilmten Stadtlandschaft, so sehen es die jungen Leute, mag man nicht gerne sein.
Das sind alles Bemerkungen, die ich sehr interessant finde, weil sie zeigen, was Leute schön finden, wo die Wurzeln ihrer Visionen liegen. In der Nachkriegszeit wurden ja schon Häuser als schön erachtet, die nicht ganz so kaputt waren, wie hässlich sie auch sonst gewesen sein mögen. Und obwohl die wilhelminische Ära verachtet wurde, entdeckte man in der Nachkriegszeit auch die Vorzüge mancher erhaltener Fassade aus dieser Epoche. Nun gehören Häuser zu dem existentiellen Bereich, in dem Menschen wohnen und kommunizieren, aber man betrachtet seine Umwelt stets nach dem Stand seines Wissens. Und in der gegenwärtigen Phase tiefer gesellschaftlicher Unzufriedenheit, wenn nicht Depression, kann ich verstehen, dass man unsere damaligen Bilder als düster empfindet. In den 60ern empfanden viele Leute den Film aber durchaus als optimistisch. Denn wir zeigten ja etwas von dem, was unsere Wirklichkeit ausmachte, den Jetzt-Zustand eines Ortes. Nimmt man derartiges nicht zur Kenntnis, ist man ignorant. Heute sind die Straßen vielleicht sauberer, aber dafür sehe ich kaum mehr wirklich offene Bilder.
Nun entstand „Mülheim/Ruhr“ kurz vor den 68ern, der Film gehört in gewisser Weise zu diesem Ereignis dazu. Wie hast du das damalige Klima in Deutschland erlebt?
Dadurch dass ich ein entschiedener Kriegs- und Wiederbewaffnungsgegner war, lernte ich Arno Behrisch kennen, der zusammen mit Willy Brandt in der Illegalität gearbeitet hatte. Er war der deutsche Vertreter bei der Dänischen Widerstandbewegung und von 1949 bis 1961 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er tritt auch in Peter Nestlers Film „Sie dürfen nicht wiederkommen“ auf. Solche Begegnungen führten dazu, dass ich vor dem Entschluss stand, ein Mitglied der SPD zu werden. Dann aber fand hier in Mülheim eine heftige Diskussion mit einem Landtagsabgeordneten des konservativen Flügels der SPD statt; dessen Antworten erschienen mir unzureichend. Schließlich fand die Remilitarisierung auch bei den Sozialdemokraten immer mehr Zustimmung; ich hingegen war für die Neutralität Deutschlands, wurde zum Mitbegründer der Deutschen Friedensunion. Solche Auseinandersetzungen gingen auch in die Filmarbeit mit ein.
In dem Film „Nicht versöhnt“ von Huillet und Straub gibt es eine sehr markante Einstellung: eine alte Dame zielt vor der Fassade des Kölner Doms mit einem Revolver auf jemanden. Man erfährt nicht, auf wen, kann aber aus dem Film schließen, dass es einer derjenigen ist, die sowohl bei den Nazis als auch im vermeintlich neuen, eigentlich aber bedrückend restaurativen Deutschland Karriere machten.
Die ganze Wahrheit ist das aber nicht. Nehmen wir mal meinen Film über den Ort Kassenberg. Der Außenstehende, der da durchkommt, stellt nur fest, wie hässlich dieser Ort ist. Aber die Menschen, die dort leben, sehen auch das Schöne, das vielleicht im Abseits zu finden ist. In dem Film ist eine Straße zu sehen, in welcher sich das Leben des gesamten Ruhrgebiets widerspiegelt – von ihr ging ein Weg ab, der einmal zu einem Gefangenenlager der Fremdarbeiter führte und den man offiziell nicht begehen durfte. Ich will darauf hinaus, dass es sehr viele wahrzunehmende Facetten gibt und in unserem alten Film „Mülheim/Ruhr“ steckt die Schönheit der Stadt durchaus auch mit drin. Denk´ doch an die Schulkinder, welche die Kamera einfängt, die voller Vitalität sind. Oder auch an die Wirtin, diese ältere Dame, zu der man sofort Vertrauen fasst. Anders gesagt: in dieser bundesdeutschen Atmosphäre leben auch Menschen, die eine gewisse Gelassenheit zum Ausdruck brachten. Und unser Film entstand ja in derselben historischen Phase wie „Nicht versöhnt“.
Du hast erwähnt, du seiest in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Kunst, Theater, Literatur durch Vater und Mutter ganz selbstverständlich präsent waren. Gehörte auch das Kino zur Kultur der Eltern?
Jetzt muss ich etwas erzählen, das vielleicht missverständlich wirken könnte. Wenn mein Vater und ich ins Kino gingen, dann meist, wenn wir müde und abgespannt waren. In solchen Momenten waren allein noch Filme attraktiv, Hauptsache Peter Alexander spielte mit, oder Gunther Philipp, „Graf Mucki“ [Peter Alexander als Graf Bobby und Gunther Philipp als Baron Mucki z.B. in „Die Abenteuer des Grafen Bobby“ Ö 1961] oder ähnliches. Wir haben uns totgelacht und das Kino nicht ernst genommen. Ich finde aber nach wie vor, dass solche Filme eine hohe Qualität hatten. Diese Filme der 50er waren blöd, aber offen und ehrlich blöd. Und wir waren auch oft blöd, und dann passte so etwas zu uns.Mein Vater hatte ein großes Verständnis für solche einfachen Filme, weil die Zeit damals sehr bedrückend war. Und diese Bedrückung brauchte irgendein Ventil. Später schrieb Vater Scripts, wirkte auch in verschiedenen Filmen von Wolfgang Staudte mit. Kino interessierte ihn, aber es war nicht seine Welt. Zugleich aber waren wir sehr an Malerei und Literatur interessiert, an den Klassikern: Kleist, Büchner, Goethe. Das fand aber im Theater statt. Ich erinnere mich noch an eine Inszenierung von „Faust“, die mich beeindruckte – später habe ich dann ja meinen eigenen „Faust“-Film gemacht, zehn Minuten lang, zu der Frage, was die Realität dieser klassischen Figur heute sein mag.
In deinen Filmen geht es stets um wirklich passierte Geschehnisse, die Fiktion wird strikt vermieden. Das heißt, es gibt ein enormes Interesse für Geschichte. Woher rührt es?
Hat man ein Interesse an Menschen, kann man diese ja nicht in einem leeren Raum wahrnehmen. Das stelle ich in den Mittelpunkt, auch in den Filmen. Wenn man sich vor Augen führt, was wir nach 1945 alles gemacht haben – manches hätte uns ins Gefängnis bringen können. Trotzdem haben wir uns immer als Teile der Gesellschaft empfunden. In unseren damaligen Diskussionen hat das Grundgesetz eine große Rolle gespielt, dessen erste zwanzig Artikel unveränderliche und einklagbare Grundrechte sind. Das waren Maßstäbe, die wir anerkannten und akzeptierten, das heißt, die humanistischen Maßstäbe unserer bundesdeutschen Gesellschaft waren ein wichtiger Pol - und so konnten wir beispielsweise niemals in anarchistischer Richtung denken. Es war immer darum gegangen, dass es ein gesellschaftliches Bewusstsein geben sollte, dass beispielsweise der Humanismus dieses Grundgesetzes begriffen, es nicht nach dem jeweiligen Eigennutz ausgelegt wurde.
Du hast einen bürgerlichen Beruf erlernt und ausgeübt. Hast du deine Filme immer außerhalb der eigentlichen Arbeit gemacht?
1943, also während des Krieges, war mein Vater Opernregisseur in Den Haag. Er hatte dieses Engagement angenommen, weil er so nicht Soldat werden musste. Wir waren bei einer Haager Familie einquartiert, die holländische Juden über den Ärmelkanal nach England schleuste. Eines Tages kam meine Mutter dahinter, aber wir haben das natürlich gedeckt. Wir gaben der Familie unsere Lebensmittelkarten, denn wir hatten ja die Möglichkeit, in der Kantine des deutschen Theaters zu essen. Als mein Vater dann doch Dienst mit der Waffe leisten musste, desertierte er, so dass wir uns auch verstecken mussten. Durch all diese Ereignisse fehlten mir ganze Schuljahre. Lesen und Schreiben lernte ich allein von meinen Eltern.
Die Künstler: deren eigenartige Diskussionen hingen mir als Kind zum Halse raus. So wie ich jetzt in unserem Gespräch, haben die auch permanent geschwafelt. Und irgendwann sagte mein Vater, hör mal, Schule ist doch Scheiße! Er war als Kind ein großer Schulschwänzer gewesen und akzeptierte meinen Wunsch, Handwerker werden zu wollen. Kunst, meinte er, könne man später immer noch machen.
Ich dachte, in dieser Berufswahl wird wohl eine Art Revolte gegen dieses intellektuelle Elternhaus stecken.
War auch so. Bloß mein Vater durchschaute das. Und er konnte die Dinge sehr wohl auseinanderhalten.
Wie findet man zu einer eigenen künstlerischen Form?
Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Wenn ich einen Brief schreibe, dann so, dass mein Gegenüber mich versteht. Genauso ist es beim Malen oder Filmen. Diejenigen, die meine Arbeit schätzen und auch die, die sie nicht schätzen, erkennen an, dass ich meine eigene Sprache habe. Schon in der Zeit mit meinem Vater war ein wesentlicher Teil meiner Erfahrung, dass Kunst und Leben nicht zu trennen sind, dass die Glaubwürdigkeit einer Kunst allein mit der Lebenserfahrung eines Künstlers wächst. Wenn du ein Bild von mir ansiehst, erfährst du immer mich, meine Konflikte mit der Wirklichkeit. Wenn ich male, dann setze ich mich mit gewissen Visionen auseinander, um in mir etwas Bildhaftes zu haben, zugleich auch, um meine gesellschaftlichen Sinne zu qualifizieren, wie Marx das genannt hat. Das Feld dieser Konstellation habe ich nie verlassen und will es auch nicht.
Es gibt von dir einen schönen Film über den Maler Otto Pankok, über dessen in den 1930ern entstandenen Bilderzyklus „Passion“. Du magst diesen Zyklus sehr, aber er ist nicht der alleinige Entstehungsgrund des Films?
Otto Pankok ist ein alter Freund unserer Familie, ich habe ihn schon als Junge kennengelernt. Seine humanistische Einstellung hat mich immer fasziniert, auch der Zigeuner-Zyklus, den er gemalt hat. Darin zeigt er Menschen - und erklärt sich mit ihnen solidarisch - die während des Dritten Reiches in Ghettos gedrängt wurden, dort zu leben versuchten, wissend, das sie später ins Konzentrationslager kamen. Insofern war Pankok vorbildlich für mich, schon gar sein Credo ʹman darf sich nicht alles gefallen lassenʹ. Für ihn war das Christentum ein Antrieb zum Widerstand. Ich bin kein Christ, aber ich hatte immer großen Respekt davor.
Bei dir ist das Dokumentarische immer mit der Idee des Bewahrens verbunden, mit dem Erinnern an etwas, das zu verschwinden droht.
Ja und nein. Ja: Ich habe nach dem Krieg eine Zeit erlebt, in der man als junger Mensch ohne Solidarität keine Chance gehabt hätte, körperlich oder auch gesellschaftlich zu überleben. Du brauchtest immer wieder die Hilfe von anderen, warst also vom anderen abhängig. So wuchs man aber zusammen. Meine Mutter malte damals Porträts von Besatzungssoldaten. Dafür erhielt sie kein Geld, aber Marmelade, Milch oder Butter. Diese Solidarität, die wir damals erfuhren und die uns überleben ließ, sie hat sich mir verinnerlicht. Und ich denke, solche Erfahrungen müssen weitertransportiert, weitergegeben werden. Mit meinen Filmen möchte ich dokumentieren, dass in der Vergangenheit Werte, Potentiale geborgen liegen, die uns helfen können, gesellschaftlich zu leben. Was aber nicht bedeutet, dass alles übernommen werden soll; das würde an Schwachsinn grenzen und wäre auch nicht dialektisch. Es geht darum, etwas zu bewahren und es zugleich aber auch weiterzuentwickeln.
Dabei fällt mir gerade etwas ein, was wir gegenwärtig erleben müssen, nämlich, dass immer mehr öffentliches Eigentum privatisiert wird. Wenn die Gesellschaft aber immer mehr ihrer Aufgaben delegiert, ist das eine subtile Zerstörung von Gemeinschaft.
Das mit dem Bewahren gilt auch für deinen Film „Auf dem Weg zur gesellschaftlichen Wirklichkeit“, dem Portrait eines evangelischen Pfarrers. Wie bist du auf diesen Stoff gekommen?
Auch den Emil Menz habe ich persönlich kennen gelernt. Er wollte seine Mitchristen davon überzeugen, dass die Verantwortung des Christen für seine Mitmenschen immer Gültigkeit hat, egal welcher Religion ein solcher Mitmensch angehört. Ich war ja nun Marxist, aber zwischen uns gab es kaum Widersprüche. Ich wollte in dem Film herausarbeiten, wie er zu seiner radikalen Haltung gekommen ist.
Der Film fängt Erzählungen von Emil Menz ein, lässt den Betrachter im Wesentlichen lauschen. Waren lange Überlegungen vorausgegangen, wie man mit diesem Lebenslauf verfahren sollte?
Emil Menz war schon in seinem achten Jahrzehnt angekommen und fing an, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Davon wusste ich und teilte ihm dann mit: Aufschreiben ist nicht so glaubwürdig, als wenn du das alles erzählen würdest. Er ging tatsächlich darauf ein. Und bei einem solchen Mann, muss man die Geschichte nicht mit dramatischen Bildern illustrieren. Er hatte seine Biographie bereits schreibend geordnet und erzählte sie dann vor der Kamera, das heißt: er hatte die Regie eigentlich selbst in der Hand. Dazu gibt es das zu sehen, was diesen Menschen umgibt: Landschaften und Orte. Diese Dramaturgie stand vorher fest.
Ich will eine Situation herstellen, wo der Betrachter des Films die Person, die er betrachtet, als Diskussionspartner versteht und sein Hinschauen und Hinhören ein Teil des Dialoges ist. Es ist aber nicht allein entscheidend, was Emil Menz inhaltlich sagt, sondern auch, was sein Gesichtsausdruck erzählt. Meine Mutter war Porträtistin, von daher gab es bei mir ein Wissen darüber, dass jedes Gesicht eine ganz eigene Sprache spricht, dass jeder Mensch mit seinem Gesicht auch spielt, etwa, wenn er beabsichtigt, Trauer zu unterdrücken und dergleichen mehr. Die Dramaturgie, die ein Mensch entwickelt - beispielsweise ein Politiker, der ständig ʹich denkeʹ sagt, aber damit bloß bestimmte Wirkungen erzielen will - kann man und, wie ich denke, muss man lesen lernen. So entwickelt man ein gutes Gefühl für Lügen und lässt sich weniger vormachen.
Kannst du für dich das Dokumentarische und das Fiktive auseinander halten?
Da tue ich mich schwer. Für mich ist es so: ich gehe immer von meinem eigenen Erleben aus. Und manche Werke verdichten diese Erfahrungen, vielleicht verfremden sie diese aber auch dabei. Die Romane meines Vaters waren immer eine Verdichtung der Erfahrungen, die er mit anderen gemacht hat.
Wenn ich einen Dokumentarfilm mache, gebe ich dem Protagonisten immer die Freiheit der Gestaltung seiner eigenen Erzählung. Wenn ich Filme sehe, in denen die Menschen zu rein synthetischen Abstraktionen werden, gehe ich nicht mit. Beim Inszenieren von Spielhandlungen sind Robert Bresson und Jean-Marie Straub wichtige Vorbilder, vor allem aber Bertolt Brecht. Ihnen allen geht es darum, Geschichte zu zitieren. Zu jedem meiner Schauspieler in gespielten Filmen sagte ich, dass er nicht derjenige sei, den er da spielt, sondern dass er zitiert. Es geht darum, sich nicht mit dem Dargestellten zu identifizieren, sondern es zu kommentieren. Dadurch entsteht ja eine große dramaturgische Spannung.
Du willst nicht definieren, was das Filmen ausmacht.
Ich will mal so sagen: Ich will andere Menschen erfahren, will, dass eine Kommunikation entsteht, die der Wahrheit Genüge tut. Meine Filme waren inhaltlich immer gut vorbereitet – bevor wir eine Aufnahme machten, sprachen wir immer lange mit den Leuten. Das ist die eigentliche Arbeit. Denn dadurch haben die Menschen für sich selber immer schon eine Form gewählt, wie sie etwas nach Außen tragen wollen.
Dies vielleicht noch: Peter Nestler und auch ich - wir sind keine Voyeure. Wenn ein Mensch die Seins- oder Ausdrucksweise eines anderen einmal erfasst hat, dann setzt er bestimmte Dinge in seinem Vorstellungsvermögen weiter fort, und zwar realistisch. Deswegen muss man nicht alles zeigen. Wir brauchen keine Inszenierungen von Gewalt oder Leid, sondern menschliche Dimensionen, Glaubwürdigkeit. Überraschungssituationen oder Voyeurismus kommen ja einer Wahrheit gar nicht nahe. Zwar hat man möglicherweise einen bestimmten Moment erfasst, aber noch lange nicht die Realität eines Menschen oder eines Themas.
Es gibt eine umstrittene Szene in Claude Lanzmanns Film „Shoah“. Der Regisseur spricht mit einem der wenigen Überlebenden aus einem Vernichtungslager der Nazis. Es ist aber viel mehr als ein Gespräch. Im Lager hatte dieser Überlebende als Friseur gearbeitet, alle, die in die Gaskammern gehen mussten, bekamen von ihm die Haare abgeschnitten. Lanzmann hat eine Harrschneidesituation nachgestellt, damit dem Mann das Erinnern leichter fällt, doch das ist so schrecklich, dass der Mann abbrechen möchte. Lanzmann drängt immer weiter, will die Erinnerung bergen. Du hingegen wärst als Dokumentarist nicht so weit gegangen.
Nein. Ich hätte auch die Szene nicht in den Film genommen. Weil Achtung vor dem Menschen doch darin besteht, ihn in dem zu achten, was er selber, aus freien Stücken, von sich erzählen will. Wie oft wird diese Grenze überschritten. Und wenn sie überschritten wird, will ich es nicht wissen. Persönlich wäre ich natürlich neugierig, aber …
Und ich habe es manchmal erlebt, dass einer eine Frage zwar nicht beantworten mag, aber ein halbes Jahr später wieder kommt und dann doch etwas über ein Thema sagt. Dann hat er es für sich geordnet. Manchmal passiert so etwas erst nach Jahren. Ich glaube auch, der Hörer kann in solchen Momenten viel mehr erfahren, als wenn da jemand nur einen bestimmten Augenblick zugestanden bekommt.
Deine Filme machen den Eindruck einer großen Einfachheit. Das ist etwas, was du suchst?
Das ist, was schwer zu machen ist. Die sogenannte Einfachheit besteht in nichts anderem, als darin, sich seiner Sache einigermaßen sicher zu sein. Du merkst nun an meinem Geschwätz, dass sich ab und an ein vielleicht komplizierter Gedanke einschleicht, aber ein Werk muss zugänglich sein. Die theoretische Auseinandersetzung ist mitunter kompliziert, der Film selber nicht.
Der Maler Otto Pankok war auch so. Er sagte: wir müssen den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Und das ist auch der Kernpunkt meiner Haltung.
Hat das auch etwas mit der Mentalität des Ruhrgebietes zu tun? Es gibt eine Bemerkung von dir, nach der die Leute in Kassenberg, dem Ort deiner Kindheit, eine Kunst dann nicht akzeptierten, wenn sie mit ihrem Alltag gar nichts mehr zu tun hatte.
Du musst begreifen, dass für Menschen, welche eine dem eigenen Leben doch sehr nahe stehende Kunst machen, Herkunft etwas überaus Wichtiges ist. Und meine Kassenberger lasen zwar nicht viel, aber ihre Erfahrungen und ihre Intellektualität, habe ich überaus geschätzt. Also wollte ich nie etwas machen, das ihnen nicht entspricht. Die Kassenberger müssen meine Filme nicht mögen, aber zumindest sollen sie mich verstehen. Es geht mir also darum, die Bereiche in denen man sich alltäglich bewegt, nicht zu übersteigen. Aber vielleicht ist das der Grund, warum meine Filme derart passé sind.
All das Gesagte ist auch der Grund, warum ich viele Filme, auch Reportagen, für Schrott halte, die in irgendetwas vermeintlich Großes hineinlangen wollen, die zuerst eine hehre intellektuelle Sichtweise über alles stülpen, wo man aber merkt, dass keine Erfahrungen dahinter stecken. Dagegen hilft technische Perfektion gar nichts, die ist oft lediglich Kaschieren von Dummheit und Leere.
Wie war dein Verhältnis zum WDR, für den du einige Filme hergestellt hast?
Die kamen eines Tages zu mir, und meine erste Anmerkung war, dass sie mich ja nicht nehmen müssen. Ab und zu gab es bezüglich eines Films auch mal Krach mit der Redaktion. Es gibt bei mir etwas, was kaum jemand versteht: wenn ich eine Arbeit fertiggestellt habe, dann interessiert mich die Verwertung eigentlich nicht mehr. Dass wir „Mülheim/Ruhr“ damals beim Oberhausener Festival einreichten, lag allein daran, dass Peter Nestler mich dazu überredet hat.
1967 kam es wieder zu einer Zusammenarbeit mit Peter Nestler. Es entstand „Im Ruhrgebiet“. „Mülheim/Ruhr“ ist das Bild einer Stadt - war das nunmehrige Ziel, das Bild einer ganzen Region zu zeichnen?
Peter Nestler reiste damals immer aus München an. Bei manchen dieser Gelegenheiten stellte ich ihm Ruhrgebietler vor, mit denen ich bekannt war. Und so entstand die Idee, diese Menschen, welche ansonsten kaum ein öffentliches Sprachrohr hatten, in einem Film zu präsentieren. Menschen, die von Erfahrungen lebten, die sie im Ruhrgebiet gemacht hatten und die einen beträchtlichen Teil dieser Region repräsentierten. Wir haben also nicht wirklich gesucht, aber die Menschen schon nach dem ausgewählt, was unser Interesse an der Geschichte des Ruhrgebietes war.
Es wird vom Kampf gegen die Rechte in den 20er Jahren berichtet. Der Film ist eine Widerstandsgeschichte.
Kann man so sagen. Du musst einfach die Zeit sehen. Damals gab es in Deutschland einen massiven, regelrecht hysterischen Antikommunismus. Ich war nie Mitglied der DKP gewesen, aber jeder, der sich negativ zu Rüstungsfragen äußerte – und es waren auch viele entschiedene Christen Rüstungsgegner -, wurde öffentlich als Kommunist denunziert, egal, wo er wirklich stand. Durch diese Abstempelung entstand dann aber auch eine große Solidarität untereinander.
Der Film verdüstert sich zu seinem Ende hin, ist schließlich ganz und gar lichtlos. Wie kommt, ein Jahr vor 1968, dieser negative Ton zustande?
Ich sehe das eigentlich gar nicht so, der Film ist überhaupt nicht düster. Aber es war eine Zeit, in der die Stimmung wirklich kaputt war. Dem konnte man gar nicht ausweichen. In dem Film ist ja eine große Demonstration zu sehen, wobei es, glaube ich, um eine Zechenschließung ging. Und wir sahen es so, dass es einen gesellschaftlichen Aufbruch geben müsse. Sollte es den nicht geben, dann wäre jeder Pessimismus begründet. 1968 lag in der Luft, wir dachten alle, irgendwann platzt etwas. Peter Nestler und ich dachten aber zudem, bestimmte gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die es bereits in den 20ern, gegeben hatte und die zum Faschismus geführt haben, griffen nun wieder um sich; zwar nicht in der gleichen Form wie damals, aber sie sind nach wie vor existent.
Ihr habt den Film aus einer radikal antikapitalistischen, radikal linken Position heraus gemacht.
Er ist von Menschen gemacht, die dem Dialektischen Materialismus nahe standen, sich damit identifizierten. Mit dem Wort Kommunismus wurde, wie gesagt, stets bloß pauschalisiert. Und wie du weißt, gab es in der Geschichte der linken Bewegung immer wieder zerstörerische Fraktionskämpfe. Dass die Linke so wenig kooperationsfähig war oder ist, ist wahrscheinlich ihre größte Schwäche. All das betone ich, um deutlich zu machen, dass wir uns innerhalb dieses Feldes zwar als Marxisten verstanden, aber nie etwas mit irgendeinem Parteien- oder Fraktionsgeklüngel zu tun hatten.
Die von euch gefilmten Arbeiter, welche an den Kämpfen der 20er Jahre beteiligt waren, waren für euch Helden?
Nein! Das waren Menschen, die sich den Auseinandersetzungen ihrer Zeit gestellt haben. Und es waren ja auch welche darunter, die gebrochen worden sind, oder die mit einem ungeheuren Misstrauen aus diesen Jahren herauskamen. Wenn einer an der Tür klingelte, dachten sie sofort an den Geheimdienst, stieg die Angst vor dem Terror wieder hoch.
Klaus Wildenhahn sagt, diese alten Arbeiter seien ihm stets näher gewesen als die Studenten von 1968.
Wohl weil die Arbeiter etwas konkret machten - genau das macht auch etwa den Heinz Rabbich im Film „Im Ruhrgebiet“ glaubwürdig. Während die Studenten ihre Wirklichkeit oft nicht konkret, sondern in erster Linie theoretisch fassten. Und man weiß ja inzwischen, wie viele Opportunisten aus der Studentenbewegung hervorgegangen sind, Leute, die später das absolute Gegenteil von dem gemacht haben, was sie damals verkündeten.
Von all deinen Filmen empfinde ich „Ruhrort“ als den eigenwilligsten. Warum ist der nur sechs Minuten lang?
Ich fing an, den Film mit einem Bekannten zu machen. Er hieß Herbert und hatte viel übers Ruhrgebiet geschrieben - der Film sollte ein Portrait über Ruhrort (ein Stadtteil von Duisburg) werden. Wir hatten schon einiges recherchiert und gefilmt, aber eines Tages lag der Herbert tot in seinem Zimmer. Ich musste allein weitermachen, aber das ganze Projekt war doch sehr von seinem persönlichen Zugang zu Ruhrort geprägt. Ich habe es dann dabei belassen. Der Film ist jetzt eigentlich eine Hommage an unser gemeinsames Erlebnis und die Kürze möglicherweise seine Stärke.
Was würdest du sagen, wenn man Filme wie „Ruhrort“ als Heimatfilme bezeichnen würde?
Der Begriff Heimat ist eigentlich nichts Schlimmes, der Begriff Film erst recht nicht. Kein Problem also. Natürlich würde ich denjenigen, die die eigentlichen Heimatfilme immer kritisiert haben, recht geben. Möglicherweise bin ich ein alternativer Heimatfilmer.
Ich finde mein Leben im Ruhrgebiet total aufwühlend, habe keinerlei Sehnsucht etwa nach Amerika zu reisen. Manchmal werden mir die Ereignisse im alltäglichen Leben sogar zu viel. Aus der Kunstszene habe ich mich total zurückgezogen, mag viel lieber den Untergrund dessen, was das Leben eigentlich ausmacht: Essen, Trinken, Zusammenleben, den vertrauten Bereich, in dem mein Einfluss liegt. Die Weiterentwicklung des Ichs misst sich doch an dem, was den Alltag ausmacht. Es gibt aber natürlich auch Menschen, die immer rausbrechen; das kann ich verstehen, die schaffen auch tolle Sachen. Aber sie erschrecken mich manchmal, weil bei ihnen eine ständige, vielleicht zwanghafte Abwendung, ein sich Entfernen von den Dingen zu bemerken ist. Solch ein zwanghaftes Weiter kann auch sehr eindimensional sein.
Verändert sich das Filmen mit dem Altern?
Zu mir hat mal jemand gesagt: ʹDu entwickelst Dich ja gar nicht weiter.ʹ Meine Antwort war, dass ich schon bei meinem ersten Film entwickelt war. Wenn ich mich grundlegend verändert hätte, dann … aber ich habe mich nicht verändert. Das gilt ähnlich auch für Otto Pankok. Seine Malweise hatte er schon ganz früh ausgereift, aber es wäre eine immense Unverschämtheit, wenn man behauptet, er habe sich nicht mehr weiterentwickelt. Solches passiert in Nuancen, in Feinheiten. Worte wie Innovation, Entwicklung, die kommen alle aus einem Überbau, den ich nie gebraucht habe.
Aber als es eben um das Politische ging, war deine Behauptung, wir veränderten uns ständig…
Wenn es eine ganz neue äußerliche Situation gäbe, würde ich natürlich auf diese reagieren. Aber mir geht es darum, einen eigenen Standort zu haben. Den musste ich bislang, substanziell, nie verlassen. Eine solche Aussage steht nicht in Widerspruch zu meinem dialektischen Denken. Wenn ich bei einem Thema massiv irre, und das ist nun wahrlich oft vorgekommen, gestehe ich das ein. So etwas findet aber im Rahmen einer Kontinuität statt.
In dem Film „Im Ruhrgebiet“ sind die Arbeiter Träger eines sozialeren Bewusstseins. Wie siehst du denn deren Entwicklung seit den 60ern?
All die Arbeitsplätze von damals, Bergwerke und Hochöfen, gibt es bekanntlich nicht mehr. Früher traf man sich täglich in der Kantine, besprach die Situation, brütete etwas aus, diskutierte nach der Arbeit in der Kneipe weiter. Das war oft der Kern einer Streikbewegung. Die Arbeitsplätze von heute liegen in sogenannten Kommunikationsbereichen, doch sitzen die Arbeitenden einzeln an Computern. Das ist ein gewaltiger technologischer Umbruch, viel größer noch als der in den 20er und 30er Jahren. Ich finde aber, dass der Begriff Klassengesellschaft nach wie vor seine Gültigkeit hat, bloß formiert sich in der heutigen Gesellschaft überhaupt kein gemeinsames Bewusstsein mehr. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit wird aber doch weiter gestellt werden müssen: wie verstehe ich mich als Einzelner, etwa als Arzt, eigentlich gesellschaftlich? Eine Neufindung, eine neue Besinnung ist verlangt.
Ich empfinde die Stimmung heute übrigens als durchaus ähnlich wie in den frühen 60ern, derzeit deuten viele Zeichen darauf hin, dass die Menschen genug haben vom besinnungslosen Konsum, wieder mehr zu sich zurückfinden wollen. Aber durch die Globalisierung haben die Auseinandersetzungen um eine soziale Zukunft heute eine ganz andere Bedeutung als damals.
Du spielst in Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs Kafkaverfilmung „Klassenverhältnisse“ den Heizer auf dem Schiff nach Amerika. War die Arbeit hart – die Straubs sind ja bekannt für ihre sehr eigene und intensive Arbeit mit den Schauspielern.
Es war in der Tat hart, denn ich kann Texte schlecht behalten. Aber eigentlich waren wir alle bei der Arbeit immer sehr streng, auch der Peter Nestler, über den ich Jean-Marie Straub kennengelernt habe. Man kann ja nicht im Kollektiv agieren und alle beteiligten Stimmen gleich gewichten. Was er methodisch wollte, musste mir Straub aber nicht erklären, das war mir schon vertraut. Mein Vater war am Deutschen Theater gewesen, Bertolt Brecht bekanntlich am Berliner Ensemble. Dazwischen gab es eine Kneipe, der Trichter, da wurde gesoffen, Brecht saß manchmal auch dabei; mein Vater und er diskutierten miteinander und ich schnappte manches auf.
Zurück zu den Dreharbeiten mit Straubs. Viel entscheidender bei ihnen war, dass wir abends immer zusammen saßen, Filme guckten, diskutierten, wie man das Kino erneuern könnte. Für einige Zeit war man eine verschworene Gemeinschaft.
Hast du eigentlich Kontakt zu jungen Leuten?
Ich habe mehr Kontakt zu jungen Leuten als zu älteren.
Als wir neulich telefonierten, meintest du, die Art wie junge Leute sich Dingen annähern, ließen dich manchmal verzweifeln.
Ja. Davon habe ich ja nur deswegen einen Eindruck, weil ich mit einigen Jungen manchmal arbeite. Heutzutage ist das Wettbewerbsdenken absolut dominant geworden und wird auch weithin akzeptiert. Diese Form des Sich-Messens und Vergleichens ist immer falsch, weil dadurch Kriterien entstehen, die mit der Kunst gar nichts zu tun haben. Dazu kommt, dass man, wenn Leute heute ihre Unzufriedenheit mit der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, ganz selten hört, was sie sich als Alternative vorstellen. Wobei die Unzufriedenheit zwar viel Unterstützung findet, aber unsere Gesellschaft nicht mehr in Frage gestellt wird, größere Zusammenhänge und andere gesellschaftliche Entwürfe kaum noch diskutiert werden – erst recht nicht auf Seiten der Politik.
Die Utopie der Unzufriedenen liegt bloß noch darin, sich an die Stelle der Erfolgreichen zu wünschen.
Es gibt keine Gesellschaft ohne Utopien, aber diese sind mittlerweile so ungeheuer reduziert, weil das Leben bei uns nur noch auf einen Wert hin organisiert ist: Erfolg. Aber ich kann das nicht generalisieren, es sind lediglich ein paar flüchtige Eindrücke aus Begegnungen. Und ich mache jungen Leuten nie etwas zum Vorwurf. Das Verhalten ist ja ein Ergebnis, kommt aus einer gesellschaftlichen Situation. Und ich denke, ich kann nur etwas korrigieren, indem ich von meinen eigenen Erfahrungen berichte und diskutiere.
Auf der anderen Seite, man muss ja nur die Geschehnisse um Stuttgart 21 herum betrachten, regt sich derzeit doch etwas. Früher gingen geschlossene und identifizierbare Gruppen wie die Kommunisten auf die Straße – heute kann man die Leute gar nicht mehr richtig zuordnen. Dennoch: es besteht eine große Unzufriedenheit, die emotional ist und nach Formen sucht.
In deinem Film „Ruhrort“ fällt die Bemerkung Mülheim sei früher eine Bürgerstadt gewesen, heute aber eine Proletenstadt. Gilt das auch in der Gegenwart noch?
Mülheim war mal eine Garnisonsstadt. Durch die Industrialisierung hatte das Proletariat mehr Einfluss in der Gesellschaft. Um 1890, in der Hochphase der industriellen Entwicklung, galt Mülheim als "Proletenstadt" überhaupt. Vorurteile hatten ihre Bilder. Dort prügelten die Leute sich und soffen wie die Ketzer. Wenn man nach Essen kam und sagte, man sei aus Mülheim, galt man als kriminell. Die Auseinandersetzungen, die es heute gibt, beispielsweise bezüglich der Integration unserer Freunde aus islamischen Ländern, sehe ich als eine Fortsetzung der 20er Jahre an. Heute gibt es natürlich andere Formen, aber inhaltlich kommt da vieles wieder. Das Ruhrgebiet hat ja einen ungeheuren Schatz an Erfahrungen, aber dieser wird politisch gar nicht genutzt - auch, weil da privatwirtschaftliche Interessen walten (was man länger ausführen und differenzieren müsste). Vor allem aber sind die Auseinandersetzungen hier von Ort zu Ort unterschiedlich, so dass man keine Pauschalantwort geben kann. Und das ist es, was das Ruhrgebiet auch lehrt, dass das mit der Pauschalantwort eben nicht geht.
Den Satz über die Proletenstadt habe ich in meinem Film untergebracht, um darauf hinzuweisen, dass es Wurzeln gibt und dass man diese beachten sollte.
Michael Girke im Gespräch mit Gabriele Voss und Christoph Hübner
MICHAEL GIRKE: Vor vielen Jahren hat Christoph einen Text über den Mülheimer Filmemacher Reinald Schnell geschrieben. Darin steht auch, dass ihr beiden ins Ruhrgebiet gezogen seid, um hier Filme zu machen. Was waren die Motive, ausgerechnet hier längerfristig leben und filmen zu wollen?
CHRISTOPH HÜBNER: Die erste filmische Begegnung mit dem Ruhrgebiet war ein Film, den ich als Student an der Spielfilmabteilung der Hochschule für Film und Fernsehen (Hff) in München gedreht habe. Zu einem Zeitpunkt, an dem die dort nach Hollywood-Modell nacherzählten Geschichten mich nicht mehr interessierten, ich ein starkes Bedürfnis nach Realität hatte. Zuvor hatte ich eine Zeitungsnotiz über einen Streik gelesen, einen "wilden", nicht von der Gewerkschaft organisierten Streik. Mit spektakulären Aktionsformen: ein Walzwerk wurde besetzt, neue, phantasievolle Solidaritäts- und Öffentlichkeitsformen wurden entwickelt. Damals, Anfang der 70er Jahre, fanden wir überaus interessant, was auf Seiten der Arbeiterbewegung passierte.
Wir fuhren also nach Duisburg-Huckingen, zum dortigen Mannesmann-Werk, wo der Streik inzwischen längst vorbei war. Aus vielen Recherchen und Gesprächen erarbeiteten wir ein Drehbuch, eine Art filmischer Rekonstruktion, beinahe wie ein Brechtsches Lehrstück. Aber wirklich besonders war die Arbeit mit diesen Menschen. Warm und intensiv. Die Erfahrung einer Wirklichkeit, wie ich sie bis dahin nicht gekannt hatte.
Das Besondere dieser Erfahrung hast du am Ruhrgebiet festgemacht?
CH: Nicht nur die Landschaft machte diesen tiefen Eindruck, sondern die Menschen. Alles hier war anders, als ich es von meiner Herkunft her kannte. Ich bin in eher bürgerlichen Verhältnissen groß geworden. Zudem war „Huckinger März“ ein interessantes Stück Filmarbeit, kein reiner Dokumentarfilm. Es gab darin Rollen, die besetzten wir nicht streng nach dem Vorbild der Wirklichkeit, sondern es wurde, wie man heute so schön sagt, gecastet, geguckt, wer sich für was eignen mag. Die wunderbaren Erfahrungen bei all dem waren das Samenkorn einer sehr engen Beziehung zum Ruhrgebiet. Der nächste Filmhochschulfilm entstand deshalb auch wieder hier. Als uns dann nach dem Ende des Studiums eine Anfrage aus Hamburg erreichte, ob wir an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) Film unterrichten wollten, haben wir das für ein paar Jahre gemacht, aber das Ruhrgebiet blieb eine Art Sehnsuchtsort.
Die Antworten bewegen sich zwischen 'Ich' und 'Wir' hin und her. Alles Gesagte gilt auch für Gabriele?
GABRIELE VOSS: Ich habe etwas anderes studiert als Film, ging aber oft mit an die Filmhochschule, z. B. zu den legendären Vorlesungen von Helmut Färber. Mir sind vor allem zwei Dinge aus dieser Zeit wichtig. Das Drehbuch für „Huckinger März“ war in München entstanden; die Arbeiter kommentierten unsere Dialoge dann aber mit den Worten: 'So sprechen wir doch gar nicht!' Das hat mit Christophs eben erwähnter Einschätzung der Hochschule zu tun. Dort schrieb man Drehbücher, die dramaturgisch vielleicht okay waren, aber oft wirklichkeitsfremd. Beim Korrigieren des Drehbuchs fiel mir dann auf, dass die Leute eine von ihren Erfahrungen erfüllte, bilderreiche Sprache hatten, die uns, denen es an dieser Erfahrung mangelte, nicht zur Verfügung stand. So gingen wir von nun an davon aus, dass man zunächst viel von einer Realität kennen lernen muss, bevor man einen stimmigen Satz dazu schreiben kann.
Zudem meinten die Arbeiter, die Medienleute kämen nur dann, wenn ein Streik oder irgendwelche andere 'Action' wäre; wenn man wirklich etwas erfahren wolle, müsse man sich den normalen Alltag angucken, weil im Alltag alles entstehe und auch wieder verschwinde. Diese Sicht hat viel zu unserer Art Filme zu machen beigetragen, und sie hat auch mit unserer Hinwendung zum Dokumentarischen zu tun.
Welche Filme haben zur Filmhochschulzeit beeindruckt und beeinflusst?
CH: Wir wuchsen mit den großen amerikanischen Regisseuren auf, John Ford, Howard Hawks. In meinem ersten Filmhochschulfilm zitiere ich aus Nicholas Rays „Johnny Guitar“, den ich schätzte. Zu den Amerikanern kam Jean Renoir hinzu. Seine vor dem Zweiten Weltkrieg gemachten, wundervollen Filme haben ja dokumentarische Aspekte. Jean-Marie Straub war ganz wichtig, Godard und Kluge muss man noch hinzunehmen. Alles eher Spielfilme. Mit dem Dokumentarfilm kam ich sehr spät in Berührung. Wiederum durch Helmut Färber, der einen großen Anteil an meiner damaligen Filmbildung hatte. An der Hochschule hatte man drei Individual- und einen Gruppenfilm zu machen. Mein Gruppenfilm „Drei Ansichten einer Stadt“ enthält eine Szene, in welcher die Kamera auf Schienen fährt und einzelne Personen aus einer von mir zusammengestellten Gruppe herausnimmt. Diese zitieren dann Texte über das Leben in der Stadt, die wir recherchiert hatten. Dokumentarisches Spiel sozusagen. Hieraus entstand später die formale Idee für „Huckinger März“. „Drei Ansichten einer Stadt“ lief dann übrigens auf den Hofer Filmtagen, aber die Godardschen Elemente haben die Leute etwas verstört.
Wir bewegen uns in den 70ern. Wie fanden die ihren Niederschlag in Filmen? Hatten die so genannten 68er einen ausgeprägten Kinobegriff?
GV: Es herrschte damals eine enorme Aufbruchstimmung, das europäische Kino war in Bewegung. Es gab die Nouvelle Vague und von Oberhausen ging die Parole aus, dass Opas Kino tot sei, es also um anderes gehen müsse, als um all diese Heimatfilme oder diese Kulturfilme, die einem in der Schule vorgesetzt wurden. In München war es regelrecht fiebrig. Ständig hatte man neue Filme zu sehen; jeden Freitag beispielsweise Independentfilme aus den USA. Man wusste nicht, was gezeigt wurde, nur dass es freitags um 22 Uhr ein neues Programm gibt. Es kam zu ersten Begegnungen mit Kenneth Anger und anderen. Das Kino dieser Jahre war für mich ein Ort, wo man sich offener äußerte als anderswo in der Gesellschaft, jedenfalls anders als in dem Umfeld in Hagen, aus dem ich kam und das katholisch geprägt war.
CH: Mich hat der in diesen Jahren ans Kino herangetragene politische Agitationsbegriff nie so sehr interessiert. Eher die sogenannten Avantgardefilme, die sich mit der Filmsprache selbst auseinandersetzten. In der politischen Szene wurde so etwas als formale Spielerei abgetan. Gabriele war damals politisch weitaus engagierter als ich. Ihre Kommilitonen warfen ihr sogar vor, dass sie immer mit „Künstlern“ rumhinge. Künstler, das hat skeptisch gemacht. Die Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin war damals der politische Antipode zur Münchner Filmhochschule. Einmal war ich mit einer Delegation von Münchner Studenten dort eingeladen. Ich dachte: die beschäftigen sich zwar mit politischer Theorie, vom Film, von Filmgeschichte haben die aber weniger Ahnung. Politisch hingegen fühlten wir uns im Vergleich mit den Berlinern etwas naiv. Aber der große Vorteil der Münchner, durch Helmut Färber und andere verkörpert, war die fortwährende Beschäftigung mit Filmen und Filmgeschichte. Es ging darum, eine eigene Form zu finden, die aus diesem Wissen schöpfte.
Gab es für den Schritt ins Dokumentarische Vorbilder oder gar Lehrer, Regisseure also, mit denen ihr persönlich Berührung hattet? Und war, wie bei Klaus Wildenhahn, das Direct Cinema ein Einfluss?
CH: An der Filmhochschule war es immer um komponierte Bilder gegangen, in der Hollywoodtradition. Die Kamera wie beim Direct Cinema vom Stativ zu nehmen, jemandem damit zu folgen, das war mir doch eher fremd. Was für eine Befreiung das sein und welche Qualität das haben kann, habe ich erst viel später registriert. Irgendwann sah ich Peter Nestlers „Warum ist Krieg?“, einen ganz einfachen, bescheidenen Dokumentarfilm. Er war für Kinder gemacht, erzählte aber allein mit Bildern und beeindruckte mich sehr stark. Vor allem aber faszinierten mich Einbrüche von Realität in Spielfilme. Beispielsweise wenn der damals politisch bedeutende Generalstaatsanwalt Fritz Bauer plötzlich in Alexander Kluges „Abschied von Gestern“ auftauchte. Oder das Gespräch zwischen Anna Karina und einem realen Philosophen [Brice Parain] in Godards „Vivre sa Vie“.
Zurück zum Ruhrgebiet. 1977/78 entsteht euer vierstündiger Dokumentarfilm „Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“. Was war die Motivation zu diesem Sujet, der Biografie eines Arbeiters, derart ausführlich zu arbeiten?
CH: Eigentlich entsteht ein Film bei uns fast immer aus einem vorherigen. Wie Gabriele erwähnt hat, stand nach „Huckinger März“ die Annäherung an den Alltag der Arbeiter im Mittelpunkt. Es folgte also „Vom Alltag einer Krise“, ein episodischer Film zur Arbeitslosigkeit, die Mitte der 70er Jahre zum ersten Mal nach dem Kriege wieder ein Problem wurde. Wir suchten nach einem Zeitzeugen, welcher die große Arbeitslosigkeit Ende der 20er Jahre miterlebt hatte.
GV: Wir fragten bei den Gewerkschaften nach. Es hieß, da gebe es jemanden in Castrop-Rauxel, das sei der einzige in diesen Kreisen, dem vor allem junge Menschen einen ganzen Abend lang zuhören wollten. Wir fuhren hin. Und in der Tat war dieser Alfons S. anders als alle die Alten, die wir bis dahin besucht hatten. Er guckte ganz anders auf Geschichte, redete nichts schön, besaß auch die erstaunliche Fähigkeit, manches noch aus der Perspektive des Kindseins erzählen zu können. Außerdem war er ein Anarchist, dem die zu einfachen Politikmodelle z. B. nicht passten. Ein wirklich selbständig denkender Mensch, weswegen er auch Schwierigkeiten mit den Funktionären der Gewerkschaften hatte.
CH: Parallel zu dieser Begegnung hatte ich ein künstlerisches Modell vor Augen. Angeregt vor allem von dem Schriftsteller Sergej Tretjakov, der den Begriff des 'Bio-Interviews' für sich erfunden hatte. Was besagt: sich eine einzelne Biografie in ihren Alltagsaspekten ganz genau anschauen, weil darin der Alltag und die Geschichte eines Landes, einer ganzen Kultur sichtbar werden kann. Damit aber etwas sichtbar wird, muss man sich Zeit nehmen und ins Detail gehen. Mit diesem Hintergrund haben wir dann „Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“ begonnen. Aus vierzig Stunden Interviews wurden viereinhalb Stunden Film.
Hat euer Schritt, sich den Erfahrungswelten von Arbeitern zu nähern, auch etwas mit dem zu tun, was Pier Paolo Pasolini in den frühen 60ern gemacht hatte, als er in die Vorstädte, zum Subproletariat gegangen war. Er sah in diesen Armen die am wenigsten korrumpierte Klasse der italienischen Gesellschaft, schrieb über sie, filmte mit ihnen - und knüpfte Hoffnungen auf Veränderung der Gesellschaft an sie.
GV: Ich glaube, es waren immer die Menschen selbst, die uns anzogen, nicht unsere auf sie projizierten Hoffnungen. Wir fanden die Art faszinierend, wie die Arbeiter, die wir bei der Entstehung von „Huckinger März“ kennen lernten, mit ihren Erfahrungen umgingen, wie sie Geschichte sahen, schon gar wie sie mit dem Streikerfolg umgingen. Da gab es kein 'Hurra, wir haben gewonnen', sondern sie behielten sowohl die Vorgeschichte als auch das, was in der Gegenwart passierte, immer weiter im Auge. Zu entdecken, wie außergewöhnlich Leute mit einem solchen scheinbar einfachen Hintergrund oftmals sind.
CH: Es gab nach „Huckinger März“ Anfragen aus dem Gewerkschaftsumfeld, ob wir nicht Filme für die machen wollten. Dort zog man aber noch engere Grenzen als die Fernsehredakteure. 'Dies dürft ihr nicht zeigen, das muss aber dem Vorstand und auch dem Vorvorstand, dem Unterbezirk etc. vorgelegt werden' usw.! Weswegen wir uns davon dann doch eher fern hielten. Dennoch waren wir natürlich von den Zeiten bewegt, haben mit einem gewissen Pathos auf die gesellschaftlichen und politischen Alternativen gesetzt. Viele politisch Engagierte gingen damals in Betriebe, um dort Erfahrungen zu sammeln; sie fanden Realitäten, die anders aussahen als ihre Vorstellungen. Vielleicht steckt darin das Entscheidende: nicht nur auf ein politisches Konzept vertrauen, sondern hingehen, hinsehen, lernen.
Filme über Arbeiter und Arbeitswelten standen und stehen im Widerspruch zu allem, was im gebildeten Leben als poetisch betrachtet wird. Hat sich dieser Umstand auf die Rezeption von „…Alfons S.“ ausgewirkt?
GV: „Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“ stieß auf erstaunliches Interesse. Nicht nur wegen der radikalen Form. Ich denke auch, weil darin Erfahrungen artikuliert werden, in denen viele Menschen sich wiedergefunden haben. Und Alfons S. erzählt sie häufig in Form von Geschichten, sehr anschaulich und spannend, manchmal sogar in direkter Rede. Man war erstaunt über die erzählerischen Fähigkeiten dieses Mannes und über die ganz eigene Poesie, die darin zum Ausdruck kam. Christoph reiste auf Einladung des Goethe-Instituts mit dem Film nach Lateinamerika, ich in die USA und nach New York. Und selbst dort waren Leute von der Art bewegt, wie Alfons S. erzählt.
CH: Weil Alfons S. die ganze Zeit am Küchentisch sitzt und erzählt, sagten manche Leute, das sei kein Film, man könne so etwas allenfalls im Hörfunk machen. Dennoch wurden die Filme gerade wegen ihrer ungewöhnlichen Form doch wahrgenommen. Als „Huckinger März“, in einem sogenannten Informationsprogramm versteckt, auch in der DDR, in Leipzig lief, lernten wir bei der Gelegenheit auch Jürgen Böttcher und Volker Koepp kennen, denen unser Film wohl gefallen hatte.
Im Vorspann eures nächsten Projektes „Prosper/Ebel, Chronik einer Zeche und ihrer Siedlung“ heißt es, dieser Filmzyklus sei der „Versuch einer filmischen Alltagsgeschichtsschreibung“. Mit Geschichtsschreibung verbindet man üblicherweise die Historiker. Was hat es mit diesem Ansinnen auf sich?
CH: Mit Freunden zusammen gründeten wir das Ruhrfilmzentrum, und damit verbunden war dieses große Projekt. Es sollte erzählen über das, was das Ruhrgebiet groß gemacht hatte: der Bergbau und seine Geschichte. Wie macht man so etwas? Wir entschieden uns, von dem Leben, das sich um die Zechen herum, in den vom Bergbau angelegten Siedlungen, den so genannten Kolonien gebildet hatte, zu erzählen – und von der Geschichte einer Zeche. Wir recherchierten, wo es einen solchen Zusammenhang noch gab und kamen auf die 'Prosper' Zechen und die dazugehörige Siedlung Ebel in Bottrop.
Für mich ist einer der wertvollen Aspekte des Dokumentarfilms, dass er eben wirklich Dokumente schaffen kann. Die Idee des Bewahrens ist wichtiger als der jeweilige Zeitgeist. Wenn man sich überlegt, dass man heute Filme macht, die auch in fünfzig oder hundert Jahren noch gesehen werden sollen, dann habe ich den Wunsch, dass sie mir die Realität möglichst geduldig zeigen, so dass ich mehr und anderes sehen kann als Schnitte und Schnipsel. Und zweitens möchte ich die Realität so gezeigt bekommen, dass ich mir selbst eine Meinung bilden kann, die in fünfzig, hundert Jahren womöglich ganz anders als heute ausfallen wird. Die Filme müssen die Vielschichtigkeit der Realität enthalten, also formal etwas anderes sein als ein Meinungszuschnitt. Das meinen wir mit Alltagsgeschichtsschreibung. Dies erlaubt einen Blick auf das, was der Dokumentarfilm kann, befreit ihn auch von den Zwängen der jeweiligen Moden und der Verkaufbarkeit.
Beschreibt dieser Ansatz einer Alltagsgeschichtsschreibung auch eine Gegenposition zum Geist des Films wie man ihn mit dem Namen Hollywood verbindet, wo man sich stets auf dramatische oder herausragende Momente fokussiert?
GV: Obwohl ich mich immer wieder mit Philosophie auseinandersetze, kommen unsere Filme nicht so sehr mit einem Konzept daher. Es gibt also keine dezidierte Haltung gegen Hollywood, zumal es in diesem Kino ja auch viele Alltagsaspekte gibt. Es war und ist eher die Neugier auf die Welt. Was auch der Untertitel des Prosper/Ebel Projekts ausdrückt: „Eine Reise ins Innere des Landes“. Andere verbinden mit dem Reisemotiv die Ferne, Afrika, wir aber die eigene Umgebung, in welcher man auch unbekannte Gebiete entdecken kann. Man denkt, man kennt das, was einen umgibt, muss aber feststellen, es ist überhaupt nicht der Fall. Diese erstaunliche Entdeckung hat uns angetrieben.
Meine Frage bezieht sich eher auf Alfred Hitchcock, der sagt, dass eine Hausfrau im Kino keiner Hausfrau zusehen wolle.
GV: Das haben die Frauen von Ebel auch zu uns gesagt. Ein Teil des Zyklus handelt ja explizit von den Frauen in der Bergbausiedlung. Aber die fragten, wieso wir den Alltag von Frauen zeigen wollten, der sei doch bei jeder Frau auf der Welt gleich. Es hieß 'Wenn ihr zeigen wollt, wie wir leben, dann müsst ihr auch zeigen, wie wir denken, was in den Köpfen ist.' Danach war die zentrale Frage, was man mit Bildern erzählen kann und was mit der Sprache, auf die man doch stark angewiesen ist. Insofern hat Hitchcock sogar Recht. Man muss zu unserem Alltagskonzept schon sagen, dass es nicht um eine 1:1 Abbildung des Alltags geht. Man muss viel Zeit und Geduld mitbringen, um mitzubekommen, wann sich etwas zeigt und wann etwas nur gesagt werden kann.
CH: Aber wir machen schon den Versuch, das genaue, geduldige Hinsehen und die Dauer an die Stelle des Spektakels zu setzen. Das ist schon eine Art von alternativer Ästhetik zum Mainstream. Und ob eine derartige filmische Alltagsgeschichtsschreibung auf ein aktuelles Interesse stößt – das hängt dann vom Thema und zeitgeschichtlichen Umständen ab.
GV: Generell mag ich es nicht, in dieser abgrenzenden Weise zu sprechen. Wir sind unser Leben lang in amerikanische Filme gegangen, haben viele davon gemocht. Was wir machen, hat viel eher mit unserem Temperament zu tun. Wir sind eher episch als dramatisch veranlagt.
CH: Vielleicht noch etwas zum Thema Abgrenzung. Damals hieß 'politischer Film': nach Lateinamerika zu fahren, eine Kamera auf eine Straße zu stellen und zu sagen, wie sehr man dort vom amerikanischen Imperialismus unterdrückt sei. Warum eigentlich guckten die Filmer das eigene Land nicht genauer an? Die Verhältnisse mögen komplizierter sein als in Afrika, die Bilder nicht so bunt und exotisch, aber die Wirklichkeit und der Alltag des eigenen Landes haben uns immer viel stärker interessiert.
Nun konzentriert sich der Filmzyklus „Prosper/Ebel“ ja nicht allein auf das Alltagsleben, sondern auch auf eine konkrete Region. Ungefähr zur selben Zeit macht Edgar Reitz seine berühmte Serie „Heimat“, welche die Geschichte eines Dorfes im Hunsrück erzählt. Lag damals so etwas wie Hinwendung zur Region in der Luft?
CH: Ja, das Regionale wurde damals als Qualität entdeckt. Ich weiß gar nicht mehr genau, warum, ob es als Gegenbewegung zur beginnenden Globalisierung oder dem als abstrakt empfundenen Projekt der Europäischen Einigung gemeint war. Ich erinnere mich an die damaligen 'Römerberg-Gespräche' in Frankfurt. Es ging um den Zustand und die Vision des deutschen Films und es sollte eine Erklärung verabschiedet werden. Der Initiator dieser Erklärung war wie immer Alexander Kluge. Er kam auf mich zu, ob ich nicht einen Absatz über das Regionale in die Erklärung schreiben könne? Und so saß ich zwischen Schlöndorff, Kluge und anderen Größen und hatte auf einmal das Regionale zu vertreten.
Die Rückbindung der Filmkünstler an die Lebensverhältnisse einer Region, das wurde dann tatsächlich eine quasi europäische Bewegung. Wir luden auch Regisseure aus Frankreich und England ins Ruhrgebiet ein und schauten uns deren Modelle von regionaler Filmarbeit genau an. In Deutschland wiederum wurde das 'Ruhrfilmzentrum' zum Modell auch für andere.
„Prosper/Ebel“ entstand um 1980 und ist in Schwarzweiß gedreht - in einer Zeit als die Farbe in Kino und Fernsehen etabliert ist. Was liegt dieser ästhetischen Entscheidung zugrunde?
CH: Ich fand damals, dass allzu viele Dokumentarfilme auf eine merkwürdige Art bunt waren. Anders als beim Spielfilm kann man den Leuten ja nicht sagen, macht mal eine andere Tapete in diesen Raum. Und so passten die verschiedenen Farbigkeiten der Einstellungen und Schauplätze in Dokumentarfilmen oft nicht zusammen, wirkten bunt und für mich unschön. Diese Beobachtung lag unserer ästhetischen Entscheidung fürs Schwarzweiß zu Grunde, in dem fast alle unsere Filme damals gedreht waren. Dazu sollte ein Großteil unseres Zyklus den Bergbau zeigen. Da das schwarzweiße Material empfindlicher war als das farbige, konnten wir Untertage mit wenig Licht drehen. Schwarzweiß gilt ja allgemein als grau und trist, was auch die Leute aus Ebel so empfanden. Darüber gab es mit ihnen viele heftige Diskussionen. Einige Passgagen des letzten Zyklusteils [„Prosper/Ebel – Inmitten von Deutschland“] drehten wir dann tatsächlich in Farbe, allerdings sehr gezielt und bewusst.
Kann man das auch als eine Art Wiedergutmachung gegenüber den Ebelern ansehen, die ihren Ort nicht allein in Schwarzweiß betrachtet wissen wollten?
CH: Wir traten mit dem Anspruch an, die Filme mit den Leuten vor Ort zu diskutieren. Wenn das mehr als eine rhetorische Attitüde ist, muss deren Kritik auch einen Einfluss haben können.
GV: Mit dem Wort Wiedergutmachung bin ich nicht einverstanden. Wir haben uns den Leuten auch nicht angepasst. Wenn wir’s nicht eingesehen hätten, hätten wir’s auch nicht gemacht. Die Frage war, wo genau die Ebeler Recht haben, wo die Farbe etwas möglicherweise bislang Fehlendes ausdrücken könnte. Beispielsweise glänzten die Gärten in Ebel goldgelb. Sie in Farbe zu zeigen, drückte auch ein Lebensgefühl aus.
Ins Auge fällt die ungewöhnlich lange Drehzeit von über drei Jahren, die ja so gar nicht geplant war. Wie fiel die Reaktion der Sender aus, mit denen ihr gearbeitet habt? Gab es wegen der Dauer auch Krisenphasen?
GV: Richtig in Frage gestellt war das Projekt nicht wegen der Sender, sondern aufgrund von Reaktionen der Ebeler. Nach dem ersten Teil „Die vierte Generation“, der von Jugendlichen handelt, die in den Bergbau gehen, wollten einige Ebeler nicht weiter mitmachen, weil die von uns porträtierten Jugendlichen für den Ort in ihren Augen unvorteilhaft wirkten. Als wir dann den als nächstes geplanten Film [„Frauen-Leben“] angingen, wurde eingewendet, der Sendetermin läge viel zu früh, so schnell könne der Film nicht entstehen. Es ging um die Frauen. „Wenn wir ehrlich sein wollen, brauchen wir Zeit.“ sagten sie. Ich weiß noch, wie ich innerlich kämpfte. Wie sollten wir das der Redaktion der legendären WDR-Sendereihe „Schauplatz“ beibringen, die pünktlich senden wollte? Der Redakteur Hans Georg Ossenbach hat dann aber eingesehen, dass wir tatsächlich mehr Zeit brauchten und der Sendetermin wurde verschoben.
Das klingt sehr moderat. Ich stelle es mir als eine durchaus zermürbende Erfahrung vor. Weiß man während eines solchen Drehprozesses, wie es ausgehen wird?
CH: Unsere Idealvorstellung war ja, dass wir einige Zeit vor Ort leben, mit offenem Blick das, was uns dort begegnet, drehen und aus dem Material dann fünf Filme zusammenstellen und diese dann veröffentlichen. Für das Projekt gab es, auch wegen der neuen Fokussierung auf das Regionale, eine recht große Öffentlichkeit und ein entsprechendes Interesse. Und so bestand der WDR darauf, die Filme viel schneller zu senden als unser Plan es vorsah – und nicht im Zusammenhang. Das ZDF finanzierte auch mit, auch die Landeszentrale für politische Bildung und alle wollten ihren eigenen Film haben. Wir mussten den Kuchen also schon vor dem Backen aufteilen. Das war ein großer Einschnitt. Wir ließen uns notgedrungen darauf ein, mussten uns nun aber immer darauf konzentrieren, einen Film nach dem anderen sendefertig zu machen. Mit dieser anderen Zeitdynamik war ich gar nicht glücklich. Auch weil nun in dem zufällig zuerst gesendeten Einzelfilm der ganze Anspruch des Projektes gar nicht sichtbar werden konnte.
Die fundamentalen Fragen der Ebeler, wer nun repräsentativ für den Ort sei und wer nicht und die Auseinandersetzungen um das Bild des Ortes, die kamen dann hinzu. Umso betroffener waren wir aber. Ich fragte mich, ob ich wirklich unter den Bedingungen weiter filmen will. Man war so respektvoll und nah wie irgend möglich an die Menschen von Ebel herangetreten, hatte sich soweit es irgend ging für deren Wirklichkeit geöffnet, hatte sogar die Rohfassungen der Filme mit ihnen diskutiert – und dann gab es dennoch derartige Angriffe. Nicht so sehr gegen uns Filmemacher ging es, sondern vor allem gegen die Protagonisten, die Jugendlichen zum Beispiel. Die Familie von einem der Jugendlichen wurde nach der Fernsehausstrahlung von den Nachbarn regelrecht geschnitten.
GV: Wäre es nur zermürbend gewesen, hätten wir, abseits unserer unterschriebenen Verträge, wohl gesagt: Schluss! Wenn man fragt, warum wir drei Jahre mit diesem Projekt und solchen Auseinandersetzungen durchgehalten haben, muss es noch etwas anderes gegeben haben, etwas, das uns so anging, dass wir dabei blieben. Bei allem Schmerzhaften geschah doch etwas für unsere künftige Arbeit sehr Wichtiges. Es ging nicht darum, wer Recht hat, die Ebeler oder wir. Ich habe für mich entdeckt, dass sich in dem unterschiedlichen Blick auf die Wirklichkeit sehr viel mehr als nur eine andere Meinung verbirgt. Der andere Blick kommt aus einer anderen Lebenserfahrung. Und die wollten wir doch kennen lernen. Weglaufen war also keine Option und auch nicht der Kampf ums Rechthaben. Es ging darum, sich mit der Fremdheit der Anderen und mit der eigenen Fremdheit zu konfrontieren. Das ist für dokumentarisches Arbeiten etwas ganz Entscheidendes.
CH: Kein Film ist unschuldig. Er trifft auf eine Realität, die vorgeprägt ist. Die von uns aufgenommenen Leute leben an einem konkreten Ort und wollen dort auch bleiben. Und nach der Ausstrahlung zeigen die Nachbarn möglicherweise mit dem Finger auf einen. Dass mit der Veröffentlichung eines Filmes Verantwortung entsteht, ist uns bei „Prosper/Ebel“ deutlich bewusst geworden. Auch später, bei „Die Champions“ zum Beispiel, haben wir lange diskutiert, ob Bilder, die die jungen Fußballer oft ganz naiv von sich gaben, womöglich ihre Zukunft gefährden, ob wir sie drin lassen sollen oder nicht. Dazu gibt es auch unterschiedliche Haltungen. Ulrich Seidl etwa beantwortet diese Frage auf eine ganz andere Weise als wir es tun.
Man muss dazu auch sagen, dass der Zyklus ein kollektives Projekt gewesen ist. Nicht nur Gabriele und ich, sondern dazu drei weitere Filmemacher haben die einzelnen Teile in unterschiedlichen Zusammensetzungen begleitet. Der Film „Matte Wetter“ [Regie gemeinsam von Theo Janßen und Werner Ružička] kam als dritter Film des Zyklus. Er zeigt sehr genau die Arbeit Untertage, auch wie die Leute stolz sind darauf. Dass es so etwas wie Stolz auf die Arbeit gibt, auf das, was man kann, verstehen viele Leute von außerhalb nicht. Dokumentarfilme können Zuschauer ja wirklich an neuen Erfahrungen Anteil nehmen lassen. Und so gibt „Matte Wetter“ eine Erfahrung von der Welt untertage. Wenn man von Wiedergutmachung spricht, dann leistete sie vielleicht dieser Film. Weil er den Vorurteilen gegenüber den Bergarbeitern, nach denen diese nur Muskeln aber kein Hirn hätten, eine ganz andere Wirklichkeit entgegensetzt. Dieser Film hat die Luft für die noch folgenden gereinigt. Hätten wir ihn als ersten gemacht, wäre das ganze Projekt vielleicht einfacher verlaufen.
GV: Mehr als zuvor habe ich mich gefragt: Was prägt meinen Blick und was prägt den Blick derjenigen, die wir filmen? Und was zeigen wir, wenn wir einen Film dokumentarisch nennen? Zeigen wir den eigenen Blick? Zeigen wir den Blick der Anderen? Geht das überhaupt? Zeigen wir einen Dialog zwischen vielen Blicken, die eben von vielen unterschiedlichen Lebenserfahrungen herrühren?
CH: Man nimmt in die Arbeit immer den Gedanken mit hinein, dass das mein Blick auf jemanden ist, nicht der Blick schlechthin. Ebenso stark wie das Bild an der Wirklichkeit hängt, hängt es auch an meinem Interesse. Obwohl mittlerweile allgemein bekannt ist, dass ein Dokumentarfilm 'gemacht' ist, nehmen noch immer viel zu wenige wahr, dass das Autorenblicke sind.
Bei „Die Einwanderer“ kommt es euch darauf an, das Gemeinsame der Lebenswege und Schicksale jener zu zeigen, die einst aus Schlesien oder Polen hierher kamen und jener, die in jüngerer Zeit aus der Türkei einwanderten. Wobei mitunter, so bei dem ehemaligen Schlesier Herbert Jaskulla, ein deutliches Unbehagen gegenüber den Türken artikuliert wird. Wie wurde dieser Film von den Ebelern aufgenommen?
CH: Relativ positiv. Diese Parallelsetzung verschiedener Einwanderer-Generationen hat allerdings einige rechte Gruppierungen aufgeregt. Die Schlesier, meinten die, seien Deutsche, etwas ganz anderes als die Türken! Es wurden Stinkbomben in ein Kino geworfen.
GV: Schon der Titel „Die Einwanderer“ ging denen zu weit. Damit würden wir ja dokumentieren, dass die Türken hier blieben. Übrigens war in Ebel selbst niemandem wirklich klar, wer überhaupt ursprünglich deutsch war. Alle waren irgendwann zugewandert.
CH: Als wir Fotos aus verschiedenen Zeiten betrachteten, wunderten wir uns, wie sehr die Einwanderer aus verschiedenen Generationen sich gleichen. Bis hin zu den Kopftüchern. Frauen, die vor vielen Jahrzehnten aus Polen kamen, trugen lange schwarze Gewänder und Kopftücher; sie konnten zu großen Teilen auch nicht Deutsch sprechen. Zwischen den angestammten Bewohnern und den Einwanderern aus Polen hatte es heftige, auch gewaltsame Auseinandersetzungen gegeben.
GV: Irgendwann aber akzeptierte man sich. Das Ruhrgebiet hat als große Industrieregion eine relativ kurze Geschichte und die ist als Ganzes eine Einwanderungsgeschichte. Deswegen geht man hier womöglich offener mit dieser Problematik um, leben die verschiedenen Einwanderer wirklich mehr oder minder nachbarschaftlich zusammen. Wir zeigten dies Zusammenleben also so angenehm, wie die Lebensrealität in Ebel tatsächlich war, was dann aber außerhalb des Ruhrgebiets wieder zu Kritik führte. Es hieß, wir würden alles zu positiv darstellen.
Gibt es die von euch festgehaltenen Problematiken heute noch in gleicher Weise?
GV: Wir waren erst vor kurzem wieder in Ebel und dort wurde uns berichtet, dass auf der Grundschule nun weitaus mehr türkische Kinder sind als damals, die meist noch schlechter Deutsch sprechen als damals. Was aber kein spezifisches Ebeler Problem, sondern überall anzutreffen ist. Auch dass sich die Situation der türkischen Frauen, die damals am Ort ja sehr isoliert waren – der Film spielt in den 1980ern – eher noch verschärft hätte.
CH: Eine Zeitung berichtete neulich über eine Studie, die das Zusammenleben verschiedener Kulturen im Ruhrgebiet untersucht hatte Jemand hat ausgerechnet, das es 124 Kulturen sind. Man war zu dem Schluss gekommen, insgesamt funktioniere das Zusammenleben hier weitaus besser als in anderen Regionen.
Dass ein Film über weibliche Lebensentwürfe [„Frauen-Leben“] entstehen konnte – hat das allein Gabriele in den Zyklus eingebracht?
GV: Ich erinnere mich, darüber habe ich auch im Filmtagebuch geschrieben, dass ich das sichere Gefühl hatte, wenn wir keinen eigenen Film über die Frauen in Ebel machen, kommen sie in der Reihe der Filme kaum vor. Allenfalls als Randfiguren, die für ihre Männer nach der Schicht das Essen bereithalten. Nicht aber als eigenständig handelnde und denkende Wesen
Einige Szenen in dem Zyklus, vor allem auch einige Szenen Untertage haben keinen Direktton. Was die Frage nach den Grenzen des Dokumentarischen aufwirft. Welche Situation rechtfertigt es, keinen Direktton zu nehmen – und wird der Dokumentarfilm dadurch nicht dem Spielfilm oder gar einem Hörspiel ähnlich?
CH: Was du sagst, trifft ja überwiegend auf den letzten Teil des Zyklus, auf den Film „Inmitten von Deutschland“ zu. Er war von vornherein als eine Art Zusammenfassung und Rückblick geplant, ist sozusagen am deutlichsten ein Autorenfilm. Nach unseren Erfahrungen mit den anderen Filmen, zogen wir uns für diesen letzten Film aus Ebel zurück. Wir brauchten Distanz, hatten nach drei Jahren äußerst genauen Hinschauens und Beobachtens auch das Gefühl, uns verschwimmt die Realität vor Augen. Das kennt man aus dem Alltag. Wenn man etwas sehr lange anguckt, wird der Gegenstand konturlos und man kann sich schwer orientieren. Wir wussten nicht mehr, was wichtig und was unwichtig ist, konnten nicht mehr unterscheiden zwischen unserem persönlichen Bezug zu Menschen und dem, was der Film über sie erzählt.
Auch formal wollten wir etwas anderes versuchen. Wir konnten all das nicht mehr in einen zusammenhängenden Blick integrieren, was wir in den drei Jahren von den Menschen erfahren hatten. Und so ist „Inmitten von Deutschland“ eine Montage aus lauter sich widersprechenden Einzelelementen. Eine Art Flirren, welches das dokumentarische 1:1 in Frage gestellt. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Ton. Manchmal wird er weggenommen; manchmal war es ein Bedürfnis, Töne, die wir aus den drei Jahren noch im Ohr hatten – ein solcher Ort besteht ja auch aus Tönen – an bestimmten Stellen einzubringen. Gabriele hatte in all der Zeit richtiggehend Töne gesammelt. Damit haben wir versucht, so etwas wie ein dokumentarisches Tongemälde zu verfertigen.
Das bleibt für euch gleichwohl alles noch im Rahmen des Dokumentarischen.
GV: Wieso sollte der Dokumentarfilm durch den Direktton definiert sein? Im Verlauf unserer Arbeit hat sich das Bewusstsein für die Dimension Ton enorm geschärft. Ich arbeite sehr gerne mit Tönen, finde, sie erzählen Orte auf eine Weise, die man mit Bildern nicht einfangen kann. Ganz typisch für „Inmitten von Deutschland“ ist der Anfang, wenn inmitten der Einstellung von einer Autobahn ein Hahn kräht. Mein Gefühl war, dass der in dem kleinen Ort Ebel fortwährend kräht, aber wenn man dann die verdammte Autobahn aufnimmt, hört man ihn natürlich nicht. Hier kommt die berühmte Realismusfrage ins Spiel. Darf nur der mitlaufende Originalton als dokumentarisch gelten? Geht es nicht eher um das Gefühl, wie ein Ort klingt. Wäre das nicht zu dokumentieren? Im Fall von Ebel: das Ländliche inmitten von städtischem Gebiet. Das Hahnkrähen gehört zum Lebensgefühl der Ebeler. Um ihn zu hören, musste man das Krähen von allen anderen Tönen isolieren. Also habe ich am Hühnerstall eine Tongroßaufnahme gemacht und dieses später in der Montage zum Autobahnlärm hinzugefügt. Ist das nicht mehr dokumentarisch? Wir haben allerdings keine Töne aus dem Archiv verwendet, sondern die vor Ort gesammelten charakteristischen Töne.
Man kann an vielen Dokumentarfilmen der Gegenwart feststellen, dass sie insgeheim ein gewisses Ungenügen an der Realität, wie sie ist, ausdrücken. Schubweise wird immer noch etwas mehr Farbe, mehr Sound, mehr Drama hinzugefügt, man kann auch sagen, Realität wird vertrieben.
CH: In den 80ern, als es stark darum ging, was der Dokumentarfilm denn nun eigentlich ist, was er darf und was er nicht darf, schrieb ich einen Text mit dem Titel „Das Dokumentarische als Haltung“. Das Definieren der angeblichen Grenzen des Dokumentarischen hat mich etwas genervt, so entwarf ich für mich den Gedanken, der Dokumentarfilm sei in erster Linie eine Haltung. Sowohl eine ästhetische Haltung als auch eine Haltung gegenüber der Wirklichkeit. Wenn Gabriele sagt, der Direktton war für uns nie ein Dogma, dann ist das richtig. Doch wenn der Originalton in einer Szene genügt, dann kann und soll er auch für sich stehen dürfen. Ich nehme das was da ist, an. Darin steckt eine enorme Wertschätzung gegenüber der Realität, aber auch die Form hat eine Realität.
GV: Vielleicht sollte man es so formulieren: wir arbeiten nicht nur mit Synchronton. Die Loslösung vom Synchronton und der freiere Umgang mit den Tönen, die wir vor Ort finden, haben immer etwas mit Realitätserfahrungen zu tun.
CH: Dass der heute dominante Zug ist, alles zu Dramatisieren und zu Überhöhen, ist sicher richtig. Die Frage ist aber, ob es im Dokumentarischen einen zusätzlichen Reichtum geben kann, wie im Film „Inmitten von Deutschland“. Wenn man diesen Damm öffnet, muss ja deswegen nicht alles möglich sein. Einer Beliebigkeit würde ich nicht das Wort reden. Bei uns gibt es von Film zu Film ein Bedürfnis nach Erweitern, nach Ausprobieren. Bei „Anna Zeit Land“ probieren wir, was aus einer dokumentarischen Haltung heraus mit der Dimension der schauspielerischen Improvisation gehen mag. Womöglich unterscheidet sich unsere Arbeit dadurch von der andrer ausgemachter Stilisten, die sich immer an einer gleichen formalen Linie entlang bewegen. Dennoch sind unsere Filme ja eher zurückhaltend, demonstrieren nicht fortwährend ihren formalen Apparat und ihr Können.
In dem Gespräch, dass ihr für euren Film „Dokumentarisch Arbeiten“ mit Klaus Wildenhahn geführt habt, sagt dieser, mit zunehmendem Alter habe er immer weniger den Anspruch, das ganze Bild zu erstellen. Seine Filme seien lediglich Bruchstücke, Teilstücke, Fragmente. Was Christoph mit dem Satz kommentiert, die einfache Form von Geschichten träfe die Wirklichkeit nicht mehr. Wie ist das ganz genau gemeint und siehst du das heute auch so?
CH: Zunehmend mehr. Vielleicht hat es wirklich mit dem Älterwerden zu tun, dass die Anzahl der Schichten, die ich in einer Realität wahrnehme, ständig zunimmt. Nicht allein die Realität, auch die Wahrnehmung wird komplexer. Getränkt von Erfahrungen und auch von dem, was man alles nicht weiß.
Der Titel unsres vorletzten Films „Thomas Harlan - Wandersplitter“ betont dieses Zusammengesetzte, von dem ich denke, dass es der Realität entspricht. Jetzt muss man aber, das sehe ich als die Aufgabe heutigen Erzählens an, diese Splitter nicht dem Zuschauer roh um die Ohren hauen, sondern eine entsprechende Form der Verbindung dafür finden. Obwohl das Rohe manchmal sogar das Beste ist. Man kommt mit einer gedrehten Szene, einer Aufnahme nach Hause und staunt, was alles da drin steckt - gerade in sogenannten Nebenhandlungen. Ein Bild besteht eben nicht nur darin, Transporteur einer Haupthandlung zu sein. Mit der neuen, hoch auflösenden Technik lässt sich dabei ungeheuer viel gleichzeitig aufnehmen. Was nicht nur das Flächige betrifft, sondern auch die Tiefe von Geschichten. Das wird die große Herausforderung einer künftigen Filmarbeit sein: mit diesem Wissen und dieser Technik Dinge neu zu erzählen.
Und zwar so wie unser spanischer Koch im Restaurant nebenan sagt: frische Küche! Möglichst die Dinge in ihrem Originalzustand sichtbar, schmeckbar zu belassen, sie nur soweit anzukochen und zu komponieren, bis sie genießbar sind und schmecken.
In „Prosper/Ebel“ ist vom Nicht-Objektiven des dokumentarischen Bildes die Rede. Doch wenn das Bild stets ein bloß subjektives ist, hätten die Theoretiker Recht, die behaupten, es gebe das Dokumentarische gar nicht. Wenn ein Bild subjektiv ist, was ist wahr an ihm?
CH: Im Grunde geht es immer um eine Form von Annäherung an die Wahrheit. Dabei sollte man den Weg des Zuschauers, ganz bescheiden formuliert, nicht verstellen, nicht zuviel davor und drum herum stellen, damit dieses Etwas von den Zuschauern auch gesehen werden kann. Ich denke mir den Dokumentarfilm als gleichsam spiralförmige Bewegung, in deren Verlauf man immer etwas näher an etwas herankommt, sich Zugänge eröffnet.
GV: Ich denke schon, dass es das Dokumentarische gibt. Nicht in dem Sinne von: die Welt ist so, wie sie mir fotografisch abgebildet vor Augen tritt. Eher in dem Sinne von: dem Abbild Raum und Zeit lassen, dass der Zuschauer auf seine Weise eintreten und eine Erfahrung machen kann. Dass etwas aufscheint von der Wirklichkeit außerhalb des gemachten Bildes und außerhalb des Bildermachers. Die Sicht des Autors ist nicht im Zentrum und zugleich ist sie es doch. Ein Paradox. Das Dokumentarische – eine Annäherung an etwas, das sich nicht greifen lässt, das sich dem Zugriff entzieht. Zugriff und Annäherung haben aber eine Richtung, die vom Autor weg weist. Zugleich kommen sie nicht von ihm los. Aber es gibt ein Mehr-oder-Weniger und das macht den Unterschied.
Gut, aber was unterscheidet ein dokumentarisches Filmbild substantiell von einem fiktiven Filmbild?
GV: Vielleicht kann das eine Keuner-Geschichte von Bert Brecht deutlich machen. Was tut Herr Keuner, wenn er einen Menschen liebt? Herr Keuner sagt: 'Ich mache einen Entwurf von ihm.' Dann wird er gefragt, wie er das macht? Ob er das Bild nach der Person formt, die er liebt? Das wäre dokumentarisch. Oder ob er die Person nach dem Bild formt, das er von ihr entworfen hat? Das wäre fiktiv. In beiden Fällen ist er der Schöpfer des Bildes, denn er formt es. Nur seine Anstrengung zielt jeweils auf etwas anderes.
Sergej Eisenstein hat einmal von einer „Montage der Anziehungen“ [auch: Montage der Attraktionen] gesprochen. Damit meinte er, dass das, was einem Schnitt im Film voran geht, das, was ihm folgt, herbeilocken soll und umgekehrt. Wie ist die Funktion der Montage in Euren Filmen?
GV: Die Erzählform unserer Filme entsteht aus dem intensiven Betrachten des Materials am Schneidetisch. Man kann nicht gegen das Material arbeiten. Von daher haben die Filme manchmal eine engere, manchmal aber auch keine narrative Struktur im klassischen Sinn. Immer haben sie aber etwas Episches, denke ich. Und das Epische unterscheidet sich nun gerade von Eisensteins „Montage der Attraktionen“. Wir legen es nicht darauf an, dass alle Einstellungen dramaturgisch und rhythmisch zwingend aufeinander folgen. Eher möchten wir die Einstellungen immer wieder von diesem Zwang der Abfolge befreien. Auch wenn man das Vorher und das Nachher wegschneidet, sollten sie noch etwas für sich sein und ein Eigenleben haben. Das ist nicht immer möglich. Der Fortgang der Erzählung entfaltet oft so einen Sog, dass er die Einstellungen mit sich fortreißt. In der Montage versuchen wir immer wieder, aus diesem Sog heraus zu treten. Das kann durch Brüche geschehen, aber auch durch Dauer, die wir den Einstellungen gewähren. In dem Sinne wie Christoph eben sagte: Die Wirklichkeit hat viele Schichten, sie ist komplex, brüchig, eher fragmentarisch als ein kontinuierlich strömender Fluss.
Sowohl euer Zyklus „Prosper/Ebel“ als auch „Die Champions“ und „HalbZeit“ sind Langzeitbeobachtungen. Ihr habt viele Jahre mit den Menschen und Themen zugebracht, die Filme sind gewissermaßen langsam gewachsen. Alexander Kluge, nicht nur er, geht derzeit einen ganz anderen Weg. Er dreht einminütige Filme, sagt, in Zeiten des Internets, müsse der Film zu einfachen, 'robusten' Formen zurückkehren. Bei ihm hat jegliches Sujet also eine Minute Zeit, um sich zu vermitteln. Wie steht Ihr solcher Entwicklung zu minimalistischen Formen gegenüber?
GV: Wir mögen durchaus auch kürzere Stücke. Wir arbeiten selbst im Moment an einem Projekt, das nennt sich „Emscher Skizzen“. In diesem Projekt sind inzwischen mehr als fünfzig kürzere oder längere Filme entstanden, zwischen zwei und zwanzig Minuten lang. Wir nennen diese Filme 'Skizzen', weil sie aus dem Moment entstehen. Wir versuchen auch, diesen Charakter des spontan Entstandenen, des Skizzenhaften in der Montage zu erhalten. Und auch in der späteren Präsentation eine angemessene Form dafür zu finden. Ich glaube allerdings nicht, dass sich jegliches Sujet in einer Minute erfassen lässt. In den von Kluge so genannten 'robusten' Formen habe ich eine Fülle von Wirklichkeitspartikeln vor mir, und ich stelle fest, auch bei den eigenen kürzeren Stücken, dass diese Form die andere Form, in der mir von Autoren mögliche Zusammenhänge von Wirklichkeit erzählt werden, nicht ersetzen kann. Ich stelle bei mir auch fest, dass ich auf die Erzählung von Autoren, die größere Bögen entwerfen, nicht verzichten mag. Das klingt jetzt sehr nach Literatur, ich meine aber auch Filmautoren, die im Kino Geschichten erzählen. Aus Kluges Einminütern baue ich mir selbst immer wieder einen Zusammenhang, den berühmten Film im Kopf des Zuschauers. Wenn ich aber nur das hätte, hätte ich auf die Dauer das Gefühl, nur im eigenen Saft zu schmoren. Die Entwürfe der anderen, ihren Blick auf größere Zusammenhänge in der Welt, ihre Erzählungen, wie die Dinge sich möglicherweise zueinander verhalten, brauche ich.
Klaus Wildenhahn sagt: 'Das oft trübe graue Licht im Ruhrgebiet, der viele Regen, das lässt ganz anders sehen, nicht so klar umrissen wie im Sonnenlicht.' Gibt es so was wie ein typisches Ruhrgebietsgefühl und wie würdet ihr es beschreiben?
CH: Wir drehen, wie gesagt, derzeit an einem Zyklus mit vielen kurzen Filmen, den „Emscher Skizzen“. Und wir staunen jedes Mal, wenn wir dabei an eine neue, uns unbekannte Ecke des Ruhrgebiets kommen. Eben noch hast du gedacht, du bist in Florida, dann begegnest du einem übrig gebliebenen Industriebau, dann einem Bauernhof, dann moderner Architektur. Diese zur Schau getragene Anarchie - das ist für mich das Ruhrgebietsgefühl. Demgegenüber ist das Sprechen vom Ruhrgebiet als Metropole gar nicht so interessant. Es gehört natürlich zusammen. Wir als von Außen Kommende haben es auch immer als Einheit wahrgenommen, aber gleichzeitig ist es viel mehr, nämlich dezentral, hat unheimlich viele und verschiedene Zentren. Ganz anders als z.B. Paris, wo ich weiß, ich bin in der Mitte.
Was löst das Wort Heimat bei euch aus?
GV: Ich entwickle Heimatgefühle nicht über Örtlichkeiten. Obwohl, wenn ich hier je wegginge, würde ich wohl den Fluss vermissen, der vor unserer Tür vorbei fließt. Heimat ist, wo ich mit Menschen zusammen die Dinge tun kann, die ich gerne tue. Was ich am Ruhrgebiet gegenüber den Erfahrungen in München und Hamburg schätzte, ist: die Szenen sind hier durchlässiger. Niemand, der einem ständig demonstrieren muss, er sei wer. Es gibt hier nicht diesen Dünkel, der dich in manchem Hamburger Stadtteil geradezu anspringt. Manche allerdings beklagen die fatale Bescheidenheit der Leute hier, dass die niemals sagen, wir sind wer.
CH: Gabriele ist hier in der Nähe geboren, ich bin ein Zugewanderter aus Heidelberg. Und bei den ersten Bergarbeitern hier war es so, dass sie zunächst jeden Sommer zurück nach Hause, nach Polen oder Schlesien fuhren, dann aber das Ruhrgebiet mehr und mehr Heimat wurde. Und auf einmal entstand das Gefühl, man möchte nie wieder weg. Zugleich hat sich das Ruhrgebiet in den dreißig Jahren, in denen wir hier sind, ungeheuer verändert. Wir befinden uns in einer Übergangszeit und diese Region muss sich andauernd neu erfinden. Manchmal geht das schief, manchmal dauert alles viel zu lang und nervt, weil es hier vielleicht noch langsamer als anderswo zugeht. Was wir andererseits mit manchen Schriftstellern gemein haben, ist, dass wir das Arbeiten außerhalb der Zentren und Szenen als angenehm empfinden. Dieses andauernde Reden über Film, vor allem über das Geschäft, empfinde ich als ermüdend. Wenn man Heimat mit einem Begriff von Arbeit zusammen bringt, dann bekommt sie auf einmal einen gewissen Glanz. Es ist eine immer wieder neu erarbeitete Heimat hier.
Kommen wir zu euren jüngeren Filmen „Die Champions“ und „HalbZeit“. Was war der Antrieb für eine Annäherung an die Welt des Profifußballs? Hätte der Club, der die jungen Spieler beherbergt, irgendeiner sein können oder musste es einer aus dem Ruhrgebiet sein?
CH: Selbst wenn Leute es bei mir gar nicht vermuten – den Fußball trug ich lange als mögliches Thema mit mir herum. Weil er neben der Industrie und der Kultur eben auch wichtig für das Ruhrgebiet ist. Unser Sohn spielte eine Zeitlang bei einem kleinen Vorort-Verein. Und einmal beim Abholen nach dem Training kam mir plötzlich die Frage: 'Was wird eigentlich aus all den Fußballjugendlichen mit ihren großen Träumen einmal?' Das fand ich dann interessanter, als eine Geschichte über fertige Profifußballer zu erzählen.
Ob es ein anderer Verein hätte sein können als Borussia Dortmund? Am Beginn der Recherche hatte ich tatsächlich auch andere Clubs im Blick. Aber die Borussia ist mein Verein, ihr gehörte lange schon meine Sympathie. Es war ein großes Glück, das damals noch Ottmar Hitzfeld Manager des Vereins war, der das Projekt überzeugend fand und mir viele Türen öffnete. Zu der Zeit, Ende der 90er Jahre waren die Jugendmannschaften von Borussia Dortmund mit die erfolgreichsten in Deutschland; so waren sie zum Beispiel fünf Mal hintereinander deutscher A-Jugendmeister. Was Resultat einer gezielten Nachwuchsarbeit war.
In „Die Champions“ stehen vier, in „HalbZeit“ fünf Lebensläufe im Fokus. Man kann sich vorstellen, dass eine Menge mehr Material gedreht worden sein muss als man zu sehen bekommt. Nach welchen Kriterien entscheidet sich, wer in den Film kommt und wer nicht?
GV: Tatsächlich sind Berge von Material entstanden. Bereits parallel zum Drehen fingen wir an, es zu organisieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Jungen sind, was sie gemeinsam haben und was sie unterscheidet. Wir fingen mit zwölf Jungen an, gingen relativ weit mit ihnen. Im Lauf der Zeit kristallisierten sich erst jene vier heraus, die nun im Film sind. Trotzdem drehten wir auch mit den anderen weiter, weil eine derartige Filmarbeit ein völlig offener Prozess ist. Man weiß einfach nicht, was wird, alles kann sich plötzlich wenden.
Zu all dem kommen natürlich auf der Hand liegende Kriterien dazu. Dass Francis Bugri so rasch aufstieg, in den Profikader von Borussia aufgenommen wurde – da hat man keine Wahl. Dass einer wie Heiko Hesse heftige Zweifel bekam und schließlich sogar aus dem Fußball ausstieg – auch an so einer äußerst spannenden Geschichte kann man nicht vorbeigehen. Ebenso nicht an Claudio Chavarria, der aus Chile kam, sich sehr schwer tat mit allem und dann aus dem Verein flog. Mohamed Abdulai aus Ghana repräsentiert einen Weg, den die Allermeisten gehen, die in den unteren Ligen landen.
Es gibt all die offiziellen und offensichtlichen Ereignisse: ein Spiel, das Training, Autogrammstunden, Feiern. Als Filmemacher, steht zu vermuten, hofft man aber wohl auf eine größere Nähe, auch auf Privatheit. Womöglich setzt ein Verein dafür Grenzen. Wie also betreibt man diese Suche nach 'filmdienlichen' Situationen?
CH: Bei „Die Champions“ gab es - im Unterschied jetzt zu „HalbZeit“ - den Vorteil, dass er zu großen Teilen im Jugendhaus von Borussia Dortmund spielt, wo die meisten der Nachwuchstalente des Vereins wohnten. Dort fuhr ich oft hin, ohne recht zu wissen, was passieren wird. Dass ich dort relativ frei drehen konnte, ist der außergewöhnlichen Offenheit des Vereins Borussia Dortmund zu danken. Und dann passiert vieles durch Zufall, durch Warten, durch Offensein für den Moment.
So war das auch mit dieser Geschichte mit Thomas Rositzky, den die Borussia für 25 Millionen einkaufte und der plötzlich auf die Position gesetzt wurde, auf die Francis Bugri sich große Hoffnungen gemacht hat. Ich habe das alles, den Vollzug der Vertragsverhandlungen, die Ankunft von Rositzky in Dortmund, die ersten Trainingseinheiten mit ihm, quasi mit durchlebt. Einmal sieht man im Film, wie Bugri und Rositzky auf dem Trainingsplatz gegeneinander spielen, der eine den anderen wegschubst. Kleinigkeiten, aber doch wiederum bezeichnende filmische Momente, die nur zustande kommen, weil ich immer wieder zugegen war, viel gewartet habe. So etwas wird nicht sichtbar, wenn man hingeht und gezielt ein paar Schnittbilder filmt oder ein Interview führt.
Es ist ja das Außergewöhnliche des Dokumentarfilms, dass er seine Geschichten vermittels allerkleinster Gesten und Szenen erzählen kann, durch Indirektes, zufällige Ereignisse, Dinge, die so in einem Spielfilm nicht oft vorkommen. Wenn man als Zuschauer dafür ein Gefühl entwickelt, beginnt man das Dokumentarische zu lieben. Jürgen Böttcher hat einmal gesagt: am Anfang sei man noch getrennt, dann begänne man mehr und mehr mitzuschwingen. Wie beim Tanzen, wo man zu Beginn noch am Rande der Tanzfläche steht, das Geschehen lediglich beobachtet, aber mit dem Fortschreiten des Abends immer mehr in die Mitte gerät. Und so etwas passiert vor allem bei Filmprojekten, bei denen man die Chance hat, lange dabei zu sein.
Musstest du diese Fähigkeit, warten zu können als künstlerische Methode erst erlernen, oder gehört dies schon immer zu deinen Charaktereigenschaften?
CH: Es gibt eine wichtige mit dem Dokumentarischen gemachte Erfahrung: wenn du gar keinen Plan hast und schon denkst 'was machen wir hier eigentlich, lass uns gehen', dann gerade passiert Überraschendes, passieren Sachen, auf die du gar nicht zugehen kannst. In meinem Text über „das Dokumentarische als Haltung“ findet sich eine Notiz über die Qualität der Pause. Die Pause ist ein Ort, an den alle wieder zu ihren Gedanken zurückkehren und der daher voller Möglichkeiten steckt. Man kann eine Pause entweder peinlich finden oder auch als eine Qualität ansehen, und danach kann es so oder auch so weitergehen. Ist man miteinander vertraut, muss man nicht jede Pause durch Worte zudecken, es ist auch eine Qualität, miteinander schweigen zu können. Was ebenso für das Warten gilt. Das heißt ja nicht blöd rum zu stehen, sondern es ist eine gespannte, mit vielen Gedanken erfüllte Aktivität.
James Benning hat mit seinem Film „Ruhr“ aus dem Warten und der extremen Dauer ein kinematographisches Erlebnis gemacht. Womit viele Leute allerdings große Probleme haben.
GV: Das ist schwer vergleichbar. James Bennings Film „Ruhr“ dauert zwei Stunden. Der erste Teil besteht aus sechs festen Einstellungen von jeweils etwa zehn Minuten, der zweite Teil besteht aus einer festen Einstellung von etwa sechzig Minuten. Da sieht man einen Kühlturm vor dunkler werdendem Himmel, aus dem ab und zu große Wasserdampfwolken hervorquellen. Man wird 'zum Schauen gezwungen' schreibt ein Kritiker, der dies zugleich 'eine großartige Zumutung' findet. Wenn das Gefühl des Zwangs aber überwiegt, wenn man sich in den Kinosessel gefesselt und die Augen fixiert fühlt auf wenige, starre Blicke, immer hoffend, dass etwas passiert, kann man das auch unerträglich finden. Diese extreme Fixierung des Körpers und der Augen auf minimal sich verändernde Blicke kommt im Alltag so nicht vor. Man muss sich beim Schauen extrem beherrschen und deshalb kann es auch als Erstarrung und Fesselung empfunden werden. Das, was Christoph beschrieben hat, meint für mich etwas Anderes. In der Montage äußert sich das als Konflikt zwischen einem freien Schauen, einem schweifenden, ungelenkten Blick mit seiner Eigenzeit, der Realzeit der gefilmten Momente und der Zeit, die als Erzählzeit in einem Film zur Verfügung steht. Damit hat Montage immer zu tun.
Zufall und Methode. Ist es denn schon gelungen, solche in der Realität staunen machenden Momente im Prozess des Schneidens eines Films zu erhalten?
GV: Nicht immer. Bei „Die Champions“ hätte ich mir noch viel mehr davon gewünscht. Da habe ich richtiggehend darum gekämpft, bestimmte Seitenblicke zu erhalten. Das war ganz schwer bei der Fülle des Materials und dem Druck der vorgegebenen Kinolänge.
In euren Interviews, erst recht in Gabrieles Büchern (etwa in der „Der zweite Blick“), wird häufig auf Literatur Bezug genommen. Hat die Literatur, wenn man so allgemein überhaupt sprechen kann, einen maßgeblichen Einfluss auf eure Ästhetik?
GV: Sie hat vielleicht Einfluss auf unsere Erzählweisen. Mich interessiert an der Literatur – neben der Geschichte selbst natürlich – wie sie Erzählbögen schafft, wie sie Geschichten baut, wie eng oder lose sie die Fäden verknüpft. Immer denke ich aber auch an die Unterschiede zu den Möglichkeiten des Erzählens im Film, denn man geht dort, was die Konkretheit, was Raum und Zeit betrifft, mit ganz anderen Dimensionen um als in der Literatur. Vergleichbares könnte ich auch für die Musik sagen. Wie werden Stücke in der Musik gebaut, wie werden dort Bögen geschaffen, Spannung, Entspannung, Dynamik etc. Diese Fragen sind für die eigene Arbeit immer anregend.
Mitunter leben die Fußballfilme ja von Blicken in sehr private Bereiche. Inwiefern sind Dokumentaristen Voyeure?
CH: Es ist gewiss ein Problem, und es begleitet einen auch andauernd: dieses Gefühl, das man als Dokumentarist von anderen Leben lebt. Aber es ist eine gemeinsame Arbeit, und wenn Menschen eine lange Strecke mit uns gegangen sind, dann merken sie auch mehr und mehr, was es eigentlich bedeutet einen Film zu machen. Dabei baut man ja sehr intensive Beziehungen auf. Weil man inzwischen geübt ist, verläuft das mitunter professionell, geht aber oft auch darüber hinaus. Zugleich können wir nicht mit allen die Intensität aus den Filmbeziehungen halten. Demgegenüber ist der Voyeur jemand Außenstehendes. Ich sehe zu, wie eine fremde Frau im Haus gegenüber sich auszieht – das ist der Voyeur. Mit den Menschen, mit denen wir filmen, haben wir aber sehr nahe und intensive Beziehungen. Wir haben sie sozusagen gefragt, ob sie sich ausziehen (um im Bild zu bleiben). Sie kennen uns. So gut, das man sagen kann, es handelt sich bei einem Dokumentarfilm um eine Art gemeinsamen Erzählens. Dabei entsteht gegenseitige Achtung und der Begriff des Voyeurs rückt ganz fern. Und manchmal geschieht es auch, dass ich geradezu übervoll bin mit dem Blick auf andere Leute. Es passt dann nichts mehr rein.
Wie bei einem Therapeuten, dessen Seele von den Problemen anderer belastet ist?
CH: Johann van der Keuken hat einmal wunderbar formuliert: 'Auf Wiedersehen, Du schöne Form.' Das sagt er am Schluss eines Films über Herman Slobbe, ein blindes Kind. Das bedeutet: Die Menschen mit denen wir zu tun haben, werden am Schneidetisch für uns zu Form. Diese Verwandlung finde ich etwas ganz Eigenartiges. Auf einmal ist das nicht mehr die Beziehung zu einem Menschen, sondern zu einer Filmfigur, einer Form, an der ich modelliere.
Es gibt derzeit ein enormes gesellschaftliches Bedürfnis nach Helden. Inwiefern werden nach euren Erfahrungen die jungen Fußballer in „Die Champions“ und „HalbZeit“ vom Publikum als solche wahrgenommen?
CH: Ich denke gerade an den Begriff des Idols. Das Idol ist ja von der Realität abgespalten, ist immer schon eine Konstruktion. So etwas bieten wir nicht an, verzichten auf das, was jemanden zum Idealbild macht. Stattdessen gibt es Zwischentöne, Grautöne, Dinge, die nicht immer zusammenpassen usw.
GV: Vielleicht muss man den Begriff des Helden auch neu definieren. Der Held bewältigt Schwierigkeiten, die ihm auf seinem Weg begegnen. Insofern sind unsere Fußballer auch Helden, nur stellt sich das Ganze in keiner Weise linear dar. Nicht etwa erwartete Siege sind zu bewältigen, sondern unerwartete Situationen. Und zwar ständig, weil diese Situationen eben zur Normalität gehören. So etwas wird in beiden Filmen ja breit aufgefächert. Wenn unsere Filme also Heldengeschichten sein sollten, dann erscheint der Held auf ganz andere Weise als man ihn sich landläufig denkt. Interessanterweise kommen nach den Filmen viele Leute zu uns, die sich tiefgreifende Gedanken darüber gemacht haben, was es eigentlich wirklich ausmacht: Gewinnen und Scheitern.
Eure Fußballfilme sind nebenbei auch Lehrstücke über moderne Ökonomie. Bei Claudio Chiavarra erlebt man, wie er die Erwartungen des Vereins nicht erfüllt und schließlich aus der hiesigen Fußballwelt ganz und gar rausfällt. Wie sind eure Erfahrungen: machen die jungen Spieler sich Illusionen über die Fußballwelt oder agieren sie schon früh als Geschäftsleute? Und fallen sie nach einem Scheitern weich oder gibt es zuweilen wirkliche Existenzprobleme?
CH: Sie kennen den Fußball als Auslesesystem gut. Schon in der B-Jugend, auch schon früher, ist man damit konfrontiert, dass der eine in die Mannschaft übernommen wird, ein anderer hingegen nicht. Und es wird ihnen immer wieder gesagt, Fußball sei ein hartes Geschäft. Trotzdem sagt Mohamed Abdulai an einigen Stellen des neuen Films: so hart habe ich es mir nicht vorgestellt. Die Fallhöhe hängt eben sehr von den Träumen ab. Hat jemand sich schon ganz oben gesehen, dann fällt er, wenn er nur in der dritten Liga spielt, sehr tief. Er kann aber, wie Mohamed Abdulai, mit einer solchen Existenz auch zufrieden sein. Für ihn z. B. sind kontinuierliche Verträge wichtig, weil sie ihm ermöglichen, Geld nach Hause zu schicken, nach Ghana.
Sehr spannend finde ich, dass man über eine so lange Zeit verfolgen kann, was es eigentlich für Persönlichkeitsvoraussetzungen sind, die helfen, sich in diesem System durchzusetzen, überhaupt mit sich zurecht zu kommen. Das ist ein Subtext des Films.
Vor nunmehr zwei Jahrzehnten habt ihr „Menschen im Ruhrgebiet“ gedreht, eine Reihe von Portraits. Darunter eines des Bottroper Jazzmusikers Theo Jörgensmann oder der Gelsenkirchener Dichterin Ilse Kibgis. Christoph sagte einmal, diese Porträts hätten einiges mit den Fußballfilmen gemein. Wie genau war das gemeint?
CH: Es geht um Menschen, um dokumentarische Portraits von Menschen. Menschen in ihrem Alltag und an ihren Orten. Das sind die Stichworte unserer Arbeit: Menschen, Orte, Alltag. Vielleicht kann man die Kunst, die Künste noch hinzunehmen. Das ist immer wieder ein Korrektiv, wenn der Realismus, die Realität uns zu stark aufsaugt. Das ist auch das Thema der Reihe „Menschen im Ruhrgebiet“: dem Alltag die Kunst abtrotzen. Das sind allesamt Menschen, denen ihre Kunst, als Musiker, Maler, Dichterin, Instrumentenbauer, nicht in die Wiege gelegt wurde. Sie kommen alle aus einem Arbeiterhintergrund und haben ihre Passion für sich selbst gesucht und gefunden. Eigen-Art. Darin sind sie auch wieder typisch für das Ruhrgebiet. Individuelle, selbstgesuchte Lebenswege. Das interessiert mich mehr als die glatten, vorbestimmten Karrieren.
Beginnen diejenigen, die gefilmt werden auch die Kamera zu benutzen, den Film selber zu inszenieren?
CH: Heiko Hesse, einer der Protagonisten von „Die Champions“, hat mir mal erzählt, das Schöne an dem Projekt wäre, dass er sich dadurch selbst kennenlerne. Der Film sei für ihn wie ein extern geführtes Tagebuch. Wenn man sich für so etwas öffnet, dann ist ein Film ja ein Geschenk, ein Dokument, das davon kündet, wie man vor zwanzig oder vor fünf Jahren war, was man gemacht hat, wie man sich entwickelt. Von den Fußballern ist Heiko Hesse wohl derjenige, auf den am ehesten zutrifft, dass er es ganz bewusst auch für sich selbst nutzt.
Für den Zuschauer ist zumeist klar, was Thema eines Films ist, er setzt auch voraus, dass es den Machern immer klar gewesen ist, sie den Film in diesem Sinne geplant hätten. Ist das aber wirklich so? Ist das Thema bei einem Dokumentarfilm etwas, das von Anfang an da ist, oder ist es etwas, das sich beim Machen erst herausschält?
GV: Im Material stecken meistens mehrere Themen. Und die Art wie sich etwas herauskristallisiert, ist weitaus umfassender als es dann das sogenannte Thema ist. Das Schneiden ist der Vorgang, etwas herauszuarbeiten, aber das geschieht überhaupt nicht derart, dass ich aus fünf potentiellen Themen nun eines machen muss. Vielmehr bringt man etwas, das in Szenen mitschwingt zusammen mit dem Gefühl, mit dem man einen Film beginnt. Bei „Die Champions“ stand am Anfang die Frage nach den Träumen und deren Verwirklichung.
CH: Wir gehen ganz selten mit einem eng umgrenzten Thema an einen Film. Wie werden Jugendliche Profis, das ist es nicht. Der Dokumentarfilm, wie wir ihn verstehen, ist eher eine Art Versuchsanordnung. Wir haben bestimmte Szenerien, ein Interesse an bestimmten Menschen, was dann in einem Exposé beschrieben wird. Aber eigentlich sind es alles Fragmente, Einzelteile. Das Weitere ergibt sich: manches reagiert miteinander, manches zeigt auch keine Reaktion. Im Laufe der Arbeit entsteht dann eine Art Rhythmus, ähnlich wie in einem Musikstück. Schwer zu beschreiben, ein eher formales Gefühl. Wobei das Eigenartige ist: die Filme kehren, selbst wenn sie wirklich ausufern, zum Ursprung zurück. Sie sind dann gut, wenn sie dem entsprechen, was als Anfangsimpuls dagewesen ist.
Ihr habt noch nicht den Punkt der Wiederholung erreicht, an dem man sich bewusst wird, dass man eine Sache nun wer weiß wie oft gemacht hat und Überdruss sich einstellt?
CH: Nicht beim Drehen! Und nicht beim Schneiden! Allenfalls auf der geschäftlichen Seite des Ganzen. Um eine Finanzierung muss man ja jedes Mal aufs Neue kämpfen, sich in die Schlange der Markt-Verkäufer einreihen, wie Bert Brecht es nennt. Wobei man verdammt dazu ist, immer wieder mit Einzelwerken anzutreten. Das ermüdet zuweilen, so auch uns, die wir häufig an größeren Zyklen oder Langzeitbeobachtungen arbeiten. Es gibt ein sich entwickelndes Werk oder auch ein künstlerisches Bedürfnis nach Kontinuität und Zusammenhang. Das wird in unserem Finanzierungs- und Fördersystem kaum mehr wahrgenommen und das ist eine große strukturelle Schwäche unserer Filmkultur.
Ein Gespräch zwischen Michael Girke und Klaus Wildenhahn
Michael Girke: Als ich neulich Fotos aus meiner Kindheit betrachtete, fiel mir auf, wie anders vor nur dreißig Jahren alles noch ausgesehen hatte: Kleidung, Farben, Geschäfte. Ich stelle mir vor, während Ihrer frühen Jahre muss Deutschland wiederum ganz anders ausgesehen haben als heute. Gibt es bei Ihnen ein Bewusstsein für solche Veränderungen?
Klaus Wildenhahn: Ich erinnere mich noch etwas an das Gymnasium, das in einem kleinen Ort in der Lausitz war, an den Platz, welcher vor den Fenstern der Stuben lag. Und an Potsdam, wo wir eine Behelfswohnung hatten. Die Veränderungen sind mir aber nicht deutlich bewusst. Vielleicht habe ich einfach zuviel vergessen. Es kann aber auch mit dem Schmerzlichen des Erinnerns [zu tun haben], das mir deswegen schwer fällt. Es ist damals zuviel auf einmal passiert.
Befreiung von den Nazis bedeutete für einen Jungen eine Art Aufatmen?
Unbedingt. Als die Russen in Potsdam einmarschierten, saßen wir mit einigen wenigen älteren Menschen im Keller. Es kam dann zu dem, was als schlimmster aller Schrecken angekündigt war: ein russischer Soldat drang mit seiner MP in diesen Keller. Wir dachten, er vergewaltigt all die Frauen. Er kam dann aber rein, sagte bloß das übliche 'Uri, Uri', nahm meine Konfirmationsuhr, band sie um sein Handgelenk, wo bereits fünf andere Uhren waren und ging wieder raus. Damit war’s gut. Das war für mich unheimlich schön.
Es gab auch Gefechte in unserer Straße, natürlich sah man Leichen da liegen, betrachtete seine Toten in dieser Situation aber wie eine Normalität. Hinterher traf ich meinen besten Kumpel wieder und uns war irgendwie klar, dass nun etwas Neues begann. Ich habe überhaupt kein Gefühl des Schreckens in Erinnerung. Auch keine Vergewaltigungen, ich will aber überhaupt nicht ableugnen, dass so etwas passierte.
War das Gefühl der Befreiung allgemein verbreitet?
Das kann ich hauptsächlich an meiner Mutter festmachen. Bei ihr war es auf jeden Fall so. Es tut mir leid. Jeder Nazi behauptet ja, er wäre eigentlich Anti-Faschist gewesen. Aber bei meiner alten Dame stimmt es wirklich, sie war im Ersten Weltkrieg zu einer entschiedenen Pazifistin geworden. Die vielen Geschichten, die sie mir über diesen Krieg erzählte, in dem sie als Krankenschwester an der belgischen Front gearbeitet hatte, waren der Grund, weswegen ich dann später einen Film über den Ort Ostende gedreht habe. Im Großen und Ganzen verstand ich mich mit meiner Mutter nicht sehr gut, aber an diesem Punkt verdanke ich ihr sehr viel.
Haben Sie als Junge die von Amerikanern, Russen, Engländern mitgebrachte Kultur wahrgenommen?
Wahrscheinlich sahen wir ein paar russische Filme. Aber in Potsdam war alles zerschossen, Berlin war kaputt und zerstört. Das ist mein dominanter Eindruck. Das mit der Kultur setzte erst später ein. In Schmargendorf lebten wir im Britischen Sektor. Im Amerikanischen Sektor, am Breitenbachplatz, gab es ein Kino, das Lido. Man musste eine halbe Stunde hinlaufen, konnte dort aber amerikanische Filme sehen. Das war, wenn man so will, mein kulturelles Aha-Erlebnis.
Welche Filme konkret?
Konkret weiß ich sie nicht mehr zu nennen. Ich erinnere mich mehr an Gestalten mit bestimmten Haltungen. Beispielsweise an Humphrey Bogart. Wahrscheinlich wohl im „Malteser Falken“. Die für mich bis heute schwer definierbare Haltung schauspielernder, amerikanischer Männer - etwas unterkühlt, aber humorvoll – hat mich schwer beeindruckt.
Klaus Theweleit hat einmal die Art beschrieben, wie amerikanische Schauspieler sich bewegen. Er stellt ihre betonte Körperlichkeit heraus. In deutschen Filmen der 1930er- bis 60er-Jahre hingegen werde jegliche Körperlichkeit verdrängt; diese seien vergleichsweise steif, verkrampft, asexuell.
Das stimmt. Man kann über die Amerikaner lästern, ihren Imperialismus beklagen, tausend andere Gründe finden, warum man sie nicht toll findet, aber für uns war da sehr viel zu finden. Sie dürfen nicht vergessen: unsereiner war mit deutschen Soldaten in Uniform aufgewachsen, die immer zackig zu sein hatten. Und auf einmal kamen diese so ganz anderen Amis in unseren Blick.
Vielleicht spielte irgendetwas in der damaligen amerikanischen Erziehung die entscheidende Rolle; dass den Kindern dort immer ein Stück Eigenverantwortung mitgegeben wurde. Was bei uns ja überhaupt nicht der Fall war. Hier mussten die Kinder parieren, wie es der in dieser Hinsicht sehr eindrückliche Film „Das weiße Band“ ja gut zeigt. Vielleicht etwas zugespitzt, aber dieses 'Herr Vater, Herr Lehrer', dieses unbedingt Autoritätshörige, was dann tückische Auflehnungsformen nach sich zieht, das gab es durchaus. Heute hat sich das sicherlich geändert, auch Dank der Achtundsechziger, aber da wirkt auch noch etwas nach, das ist sehr schwer fassbar.
Sie erwähnten Humphrey Bogart. Für einen Bewunderer Bogarts läge es nahe, Spielfilme machen zu wollen.
Das war bei mir nie der Fall! Wahrscheinlich fehlt mir da irgendwas, was ich Gott sei Dank rechzeitig erkannt habe. Aber noch mal zurück zu dieser anderen Seinsweise der Amerikaner. Die zeigt sich ja auch in der amerikanischen Spielart des Dokumentarfilms, dem Direct Cinema, das nach dem Kriege plötzlich aufbrach. Wobei einer der Protagonisten ein Engländer von den Kanarischen Inseln war: Richard Leacock. Der lebte aber in Amerika und arbeitete als Kameramann von Robert Flaherty. Jedenfalls verkörpert das Direct Cinema diese amerikanische Haltung, anders, freier mit Film umzugehen. Man missachtete die gezielte Einstellung und Kadrierung völlig, legte auf andere Dinge Wert, nämlich darauf, den Zufall gelten zu lassen, ließ sich ohne vorgefassten Plan auf etwas ein.
Im Italien der 1940er passierte etwas Ähnliches. Die faschistische Kultur Mussolinis war eine monumentale und kitschige Kulissenwelt zur Verdeckung gesellschaftlicher Realitäten. In dieser Zeit übersetzten die Schriftsteller Pavese und Vittorini amerikanische Literatur: Melville, Whitman, Dos Passos und sahen das als ästhetischen Widerstand an. Denn die Amerikaner hatten eine realistische Sprache. Regisseure wie Fellini, Antonioni lasen diese Literatur, was dann den Neorealismus stark prägte. Das ist eine interessante Parallele zu Ihrer persönlichen Entwicklung.
Wobei die diesen Einfluss allerdings in Spielfilme umsetzten, die aber tatsächlich nicht mehr in Kulissen, sondern auf der Straße gedreht wurden. Jedenfalls hat der direktere Umgang des amerikanischen Direct Cinema mit der Wirklichkeit auf mich solch einen Eindruck gemacht, dass es dem gleichkam, was man eine Epiphanie nennt. Ich war auch Austauschstudent in Amerika, habe das Land besser kennen gelernt, dort auch bis heute bestehende Freundschaften entwickelt.
Springen wir in die 1950er-Jahre, in die Adenauerzeit.
Das ist meine verkrachte Zeit. 1949 machte ich Abitur, 1950 begann ich an der Freien Universität Publizistik zu studieren, wechselte dann später auf Jura. Eigentlich jedoch wusste ich überhaupt nicht wohin, war mit mir selbst im Unreinen und wurde zu einem dieser typischen deutschen Langzeitstudenten. Das einzige Sinnvolle war, dass ich in dieser Zeit, angeregt von den Lektüren der Amerikaner, Kurzgeschichten schrieb, auch erste Gedichte. Irgendwann meinte meine amerikanische Freundin, es sei wichtig, dass ich hier raus komme. Sie half mir, nach London zu gehen, wo ich mich plötzlich in der harten Realität zu bewähren hatte. Damals brauchte man als Ausländer noch eine Arbeitsgenehmigung. Ich wandte mich dem für Ausländer einzig erreichbaren Beruf zu, ging als Krankenpflegerlehrling in ein Mental Hospital, also praktisch in eine Irrenanstalt. Aber in England fand ein entscheidender Teil meiner Selbstfindung statt.
Das wäre in Deutschland nicht möglich gewesen?
Vielleicht. Wenn ich energischer auf irgendetwas hingearbeitet hätte. Vielleicht hätte ich dann einen ebensolchen Realitätsbezug herstellen können, was mir aber einfach nicht gelang. Zuviel hing nach in diesem Land. Es brauchte dazu wohl eine befreundete amerikanische Seele, die mir zu dem Sprung in ein Englisch sprechendes Land verhalf.
Das Kino war weit weg.
Sehr weit weg! Damit hatte ich nichts zu tun. Bloß dass ich ab und zu schrieb. Was mich dabei inspirierte, war die wöchentlich erscheinende Radiozeitung der BBC „The Listener“, die Gedichte abdruckte. Diese englischen Gedichte fand ich außerordentlich interessant, weil sie eigentlich kleine Reportagen waren.
Wegen all der Ereignisse zwischen 1933-45 war die deutsche Kultur für Sie gleichsam kontaminiert?
Das scheint tatsächlich so gewesen zu sein. Ich hatte überhaupt kein Interesse an der großen deutschen Literatur, auch kein Verständnis für deutsche Dichter, welche wir ja in der Schule durchgenommen haben. Als junger Mensch war ich durch den Krieg und all das verletzt worden und die Begegnung mit den englisch-amerikanischen Autoren und ihrer Realitätsannäherung bedeutete offenbar so etwas wie eine Heilung.
In den 1960er-Jahren arbeiten Sie dann fürs deutsche Fernsehen und machen erste Dokumentarfilme. Und es findet in jenem Jahrzehnt eine starke Politisierung statt.
Es liegt noch einiges dazwischen. In London dachte ich, als Ausgleich zu meinem Job sollte ich mich mit etwas Phantasievollem beschäftigen. Woraufhin ich bei der Londoner Universität anrief und mir ein Privatlehrer für Japanisch vermittelt wurde. Das war ein ehemaliger Besatzungsoffizier, der Japanisch gelernt hatte, um Gefangene zu vernehmen. Sehr abenteuerlich. Der unterrichtete mich für wenig Geld. Diese Geschichte erzähle ich, weil ich so zu einer japanischen Freundin gekommen bin, mit der ich dann ein Kind bekam. Wir heirateten. Und so stand ich vor dem Problem, mehr Geld verdienen zu müssen. Und das ging leider nur in meinem Heimatland. Eigentlich gefiel es mir in London viel besser.
Ich ging dann nach Hamburg zurück, wo mein Vater lebte, dazu noch eine sehr freundliche Tante. Und nun kommt der Zufall ins Spiel. Ein Freund von mir kannte ein Mädchen in Berlin, welche die Geliebte eines Produzenten der Fernsehlotterie war. Mein Freund meinte, sie könnte vielleicht ein Wort für mich einlegen, was sie dann tatsächlich gemacht hat. Zur Vorstellung nahm ich zwei meiner merkwürdigen Gedichte mit, die waren ja alles, was ich vorzuweisen hatte. Und ich erzählte, dass ich eigentlich nichts konnte. Trotzdem sagte der: 'wir werden es versuchen'. Das war mein Anfang beim Fernsehen. Ich wurde Assistent bei der Herstellung der Fernsehlotterie, erlebte Dreharbeiten von Werbespots mit, kleinen, an die Tagesschau angehängten Storys, die stets mit dem Slogan „Mit fünf Mark sind Sie dabei“ endeten. In der Tat waren die Macher dieser Spots meine Lehrer für Film.
Mit meiner Fähigkeit, Werbespots herstellen zu können, kam ich dann in die ganz neu konzipierte Sendung „Panorama“, in den Journalismus also. Der Chef war Gert von Paczensky, die Redaktion voller hochkarätiger Journalisten, die eigentlich zum „Spiegel“ sollten, der damals beabsichtigte, eine Tageszeitung auf den Markt zu bringen. Das zerschlug sich aber und der NDR kaufte die ganze Mannschaft dann für „Panorama“ ein. Meine Aufgabe war es, die Storys der Journalisten in Film zu übersetzten. Und schließlich kam es dazu, dass ich regelmäßig zu den Festivals nach Oberhausen und Mannheim fuhr und so mir Filmbildung aneignete. In Oberhausen hatten es mir besonders die Polen angetan, zum Beispiel Karabasz. In Mannheim lernte ich die Regisseure Leacock, Maysles und Pennebaker persönlich kennen und mit ihnen das Direct Cinema. Das war’s dann.
Aber Sie hatten noch keine Identität als Filmemacher.
Nein, Filmemachen war ein Job. Ich war froh ihn zu haben, um meine Familie ernähren zu können.
All das heißt, die Form des Direct Cinema gab es in Deutschland noch gar nicht?
Wie ich jetzt in Stuttgart erfuhr, nahmen einige Mitarbeiter vom SDR das damals für sich in Anspruch. Stuttgart lag ja in der Amerikanischen Besatzungszone, und Leute wie Elmar Hügler und Bittdorf haben sicher mit solchen Formen gearbeitet. Ich glaube auch, dass der deutsche Journalismus manchmal derlei Methoden benutzte, sie aber letztendlich immer wieder nur in ein sehr deutsches journalistisches Format eingliederte, statt sie als freiere Form anzusehen und anzuwenden.
Gab es jemals Konflikte mit den Journalisten, weil die möglicherweise andere Vorstellungen von dieser Arbeit hatten?
Nein, ich versuchte denen im Sinne eines guten Handwerkers gerecht zu werden.
Wann war der Moment, wo Sie erstmals sagten: dies ist ein Klaus Wildenhahn Film?
Für „Panorama“ versuchte ich häufig etwas zu realisieren, was durch das Direct Cinema angeregt war. Aber der erste gezielte Versuch Direct Cinema zu machen, waren dann Reportagen über Parteitage der CDU, der CSU und der SPD.
Sie waren Ihr ganzes Filmemacherleben lang Angestellter des Fernsehens, haben also in fest gefügten Produktionsverhältnissen gearbeitet. Liest man Ihre Äußerungen, wirkt es, als hätten Sie starke Vorbehalte, den Autorenbegriff auf sich anzuwenden.
Das ist ja in jeder Hinsicht schwierig. Buch und Regie, so hießen die Bezeichnungen, die ich zunächst für mich anwendete, weil es beim Fernsehspiel halt so üblich war. Auf das Direct Cinema treffen diese Bezeichnungen in der Form aber gar nicht zu. Hierbei liegt die Autorschaft ja in etwas ganz anderem, nämlich darin, einem Geschehen zu folgen, vorauszuahnen, ob ein Moment etwas hergeben mag oder nicht, dem Kameramann Einsätze zu geben. Zuletzt sagte ich, ich sei zuständig für Filmerzählung und Ton.
Gibt es beim Filmemachen so etwas wie einen Reifungsprozess, Dinge also, die einem im Laufe der Arbeit zuwachsen?
Dazu kann ich allenfalls etwas sagen, was vielleicht damit zu tun hat. Als ich meinen letzten Film in Mostar machte, stellte ich fest, dass ich nicht mehr konnte, rein körperlich an Stamina verloren hatte, an Kraft und Durchhaltevermögen, geduldig, gespannt und aufmerksam zu bleiben. Da habe ich zu mir selbst gesagt, ich muss aufhören, sonst versaue ich mir die Filme. Ich habe von da an lieber geschrieben. Zum Beispiel das Buch „Der Körper des Autoren“. Es zu schreiben, war in gewisser Weise wie einen Film zu drehen, hat genau dieselbe Befriedigung gegeben.
Was das Schöne an Ihren Filmen ist, diese enorme Aufmerksamkeit für Nuancen, für Kleinigkeiten, ist zugleich enorm zehrend.
Ja, Körper und Seele müssen Hand in Hand gehen. Man muss ja stundenlang in realen Situationen stehen und warten, dabei permanent aufnahmebereit bleiben und zugleich freundlich mit den all sehr verschiedenen Menschen umgehen. Damals konnte man ja nicht unaufhörlich drehen, sondern musste sparsam mit dem vorhandenen Filmmaterial umzugehen.
Wie war Ihr Verhältnis zu den Achtundsechzigern, zu dem damaligen gesellschaftlichen Aufbruch?
Das ist vielschichtig. Im Vergleich zu den meisten Protagonisten jener Zeit, war ich viel älter. Und mit deren Sprache, die mich stark beschäftigte, war ich überhaupt nicht einverstanden. Als ich dann an die Berliner Filmhochschule berufen wurde, versuchte ich die Studenten in erster Linie zum Filmemachen zu motivieren. Denn damals war die DFFB in ständigem Aufruhr, regelmäßig kam es zu Vollversammlungen, welche stark von bestimmten Politsprechern dominiert wurden. Ich erinnere mich an Thomas Mitscherlich, den Sohn des berühmten Psychoanalytikers. Er wirkte in dominierender Weise an den internen Diskussionen der DFFB mit, konnte nahezu endlos parlieren, war aber dennoch ein anderes intellektuelles Kaliber als diese, wie ich finde, in ihren marxistischen Theorien sich verlierenden, dazu oft auch noch opportunistischen Politsprecher. Weil ich die Studenten wieder zum Filmemachen bringen wollte, ging ich daran, eine Wochenschaugruppe zu gründen. Dabei verfuhr ich sozusagen zweigleisig, schlug einerseits vor, dass die Studenten ihre Auseinandersetzungen drehen, gleichzeitig aber auch immer ein äußeres Ereignis, irgendein Berliner Geschehen mit hinein nehmen sollten. Es war ein Versuch, deren Ansichten irgendwie mit äußerer Realität anzufüllen, was aber nur ein paar Mal annähernd gelang.
Es gab ja diese Versuche der Studenten, mit Arbeitern in Verbindung zu kommen. Man ging in die Fabriken. Kann man sagen, in den 1970er Jahren machen Sie so etwas mit der Kamera?
Bei den politisch engagierten Studenten waren das meistens rauschhaft kurze Momente, denn die Wirklichkeit sah natürlich sehr spröde und langweilig aus. Dieser langen Weile haben wir uns dann intensiv ausgesetzt. Der linke Aufruhr der Achtundsechziger war für mich ein Hinweis, mich stärker auf die innenpolitische Situation der Bundesrepublik zu konzentrieren. Zunächst machte ich, das war der Anfang meiner Beziehung mit Gisela Tuchtenhagen, den Film „Der Hamburger Aufstand“, der die Geschichte des Hamburger Arbeiteraufstandes von 1923 erzählt. Ich bin Jahrgang 1930 und dachte, von den Aufständischen müssten einige noch leben. Und weil Hamburg meine Heimatstadt geworden war, suchte ich dort sehr gern nach den alten Frauen und Männern der Kommunistischen Partei, die diesen Aufstand überlebt und einen großen Teil ihres Lebens in Gefängnissen und Konzentrationslagern gesessen hatten. Diesen Film zu machen, hat mich richtiggehend getragen, das antifaschistische Engagement dieser Leute zu vermitteln, vielleicht weiterzuentwickeln, war für mich wichtiger als alle Versuche der damaligen linken Szene. Der Sender wollte dem Film dann einen ganz anderen Schluss anhängen, was wir aber abzuwehren vermochten. Er wurde dann nicht gesendet, erst Jahrzehnte später ein Drittel davon.
Danach wandte ich mich mit „Emden geht nach USA“ den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen zu. Denn ich wollte mich keiner Partei annähern, auch nicht den neu gegründeten linken Parteien, sondern dachte, die Gewerkschaft ist die geeignete gesellschaftliche Formation, um Arbeiterinteressen vernehmbar zu artikulieren und politisch durchzusetzen. Und so lernte ich einen Lehrer aus Sprockhövel kennen, einen IG-Metaller, Emil Plump, der mir entscheidende Hinweise gab.
Die älteren Menschen aus der DKP und die Gewerkschafter – die haben mir immer wieder den größten Respekt abgefordert, wurden aber von den Maoisten und anderen Achtundsechzigern als Pest empfunden. Und so ging ich auf meinen angepassten, revisionistischen Polittrip, wie es im damaligen Jargon hieß.
Kann man auch Ihr Buch „Über synthetischen und dokumentarischen Film“ - als Versuch ansehen, diesen extrem politisierten Menschen das Kino nahe zu bringen?
Es war in gewisser Weise die Fortsetzung meiner Arbeit an der DFFB. Es war ein großes Privileg gewesen, dass ich in Berlin ungeheuer viele Filme sehen und kennenlernen konnte. Und es gab den Dozenten Ulrich Gregor, der immer weiter seine Filmvorführungen machte. Im Archiv der DFFB befanden sich beispielsweise die Filme von Dziga Vertov, die einen großen Einfluss auf mich hatten. Dazu mochte ich die englischen Dokumentarfilme nach wie vor sehr. Und so konnte ich mich in dem Buch auf all diese Dokumentarfilme beziehen, die kaum jemand kannte, und diese dabei auch vorstellen.
Es wurde mir oft unterstellt, dass ich den Dokumentarfilm über alles stellen würde. Das ist Unsinn. Mit meinem Filmbuch versuche ich auszudrücken, dass das Dokumentarische und das Fiktive sich gegenseitig respektieren, dass es zusammenhängt und zusammengeht. Da ist also keine Feindschaft, dazu waren Spielfilme in meiner persönlichen Entwicklung viel zu wichtig.
Sie sind Mitbegründer der Duisburger Filmwoche als eines Festivals des Dokumentarfilms. Dort fand zu Beginn der 1980er eine heftige und folgenreiche Debatte zwischen Ihnen und Klaus Kreimeier statt. Es ging darum, was einen Dokumentarfilm eigentlich substanziell ausmacht. Ist dieser Streit noch ein Nachklang der 1968er-Zeit?
Das kann man wohl so sagen. In den 1960ern war Klaus Kreimeier, ganz im Gegensatz zu mir, ein Sympathisant der maoistischen Linie gewesen, dazu war er hoch gebildet, ein ungeheuer kluger Kopf. Eine Zeit lang lehrte auch er an der DFFB. Auf der einen Seite habe ich ihn immer respektiert, auf der anderen Seite gab es gewisse Dinge an seinen Positionen, die mir nicht passten. Und so schrieb ich zu Beginn eines damaligen Aufsatzes, dass etwas lange Angestautes einmal geäußert werden sollte. Allerdings war das, worauf ich konkret reagierte, nur eine kleine Kritik von ihm gewesen, auf die ich nun mit wer weiß wie vielen Seiten antwortete. Das war einfach unverhältnismäßig. Und dazu war es für ihn ein Leichtes, meine Positionen auseinander zu pflücken, denn dummerweise zitiere ich an einer wichtigen Stelle einen Begriff aus irgendeinem DDR-Lexikon. Jedenfalls geht diese ganze Auseinandersetzung von 1980 auf die Zeit an der DFFB zurück, wo ich gegen die sich oftmals sehr laut äußernden radikalen Studenten zu argumentieren hatte.
Auf welche Themen würde Klaus Wildenhahn heute mit Filmen reagieren?
Gerade ist dieses Buch mit dem Titel „Die Vier“ erschienen. Es geht darin um diese vier Abgeordneten in Hessen, die von der Parteilinie abwichen, wodurch die SPD nicht mit der LINKEN koalieren, Andrea Ypsilanti nicht Ministerpräsidentin werden konnte. Das sind sehr bezeichnende Vorgänge, die mich interessieren. Wie genau funktioniert Macht? In unserem System hat es ja eine enorme Relevanz, wie die Bindungen der Politiker untereinander und die Bindung an ihre Posten sich gestalten. Das Funktionieren von Organisationen wie den Gewerkschaften darzustellen - das war es ja, was ich mit meinen Gewerkschaftsfilmen versucht habe. Und heute würde es mich interessieren, einen genauen Blick in unsere Parteien hineinzuwerfen, zu sehen, wie es dort eigentlich wirklich zugeht.
In Ihrem Film über das Tanztheater der Pina Bausch spielt der Schriftsteller Peter Weiß eine gewisse Rolle. Dessen bekanntestes Buch ist „Die Ästhetik des Widerstands“. In Ihrem Buch „Der Körper des Autoren“ heißt es einmal, Sie hätten Ihre Filme auch immer als eine Ästhetik des Widerstands verstanden.
Es widerstrebt mir, das allzu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Auf der anderen Seite scheint es aber auch offensichtlich zu sein. In ihrer Zeit wurden meine Filme stets als etwas recht Sperriges angesehen. Kurz vor Ablauf meiner Zeit beim NDR habe ich eine Reihe ganz kurzer Filme gemacht: „Reeperbahn nebenan“. Damals wurde ein Magazinformat entwickelt, es gab aber immense Schwierigkeiten, Leute dafür zu finden, denn die Mitarbeiter des NDR hatten die Schnauze voll von all diesen Magazinformaten. Ich ahnte, dass es dort wohl einem Spielraum geben könnte, um einiges auszuprobieren. Und so machte ich lauter kurze Filme mit Bewohnern St. Paulis, wo ich selbst lange gewohnt hatte. Und diese Filme, darauf will ich hinaus, haben ein bisschen etwas mit einer solchen Ästhetik zu tun. Die Fernsehansager strengten sich ungeheuer an, meine Beiträge auch ja fernsehgerecht zu präsentieren. Was aber oft danebenging, weil diese kleinen Filme dem normalen Magazincharakter offenbar wenig entsprachen.
Man denkt immer, mit einer Ästhetik des Widerstands sei eine dezidiert politische Form gemeint. Es hat bei Ihnen aber viel eher etwas mit einer Moral des Blicks zu tun und einer ausgeprägten Empfindsamkeit für das Alltagsleben der Menschen…
…an dieser Stelle habe ich mich nicht so sehr als politischen Aufklärer betrachtet, sondern versucht, etwas von der von mir entwickelten Ausdrucksform festzuhalten. Die Form, in der ich mich ausdrücke, war für mich wirklich eine Art Glaubenssache: kleine Entdeckungen im Alltag, vor, neben, nach dem so genannten Eigentlichen – dazu, synchron aufgenommen: Bild und O-Ton. Ich hatte das Privileg bei einem Fernsehsender angekommen zu sein. Aber auch an einem solchen Ort, das war mir ohne tiefgründiges Nachdenken klar, wollte ich nicht von meiner Ausdrucksform abrücken.
Das, was Sie eben Sperrigkeit nannten, entsteht, weil Leute an bestimmte Formate gewöhnt werden. Ihre Filme sind nicht sperrig, bloß anders. Wenn man sich darauf einlässt, zeigt sich, dass sie zuweilen bezaubernd einfach sind. Man stellt so etwas zu mit der Erwartung, es käme hier ein entschieden politischer Regisseur.
Um Himmels Willen, bitte nicht. Instinktiv war ich immer auf Seiten der Achtundsechziger gewesen, aber das war auch mit Ablehnung durchsetzt, mit fortwährender Abwägung. Ich bin ja durch die Nazizeit geprägt. Das heißt, ich reagiere auf bestimmte Formen sehr stark, auf auftrumpfende Redeweisen etwa, die möglicherweise ganz anders gemeint sind, aber doch etwas an sich haben, was etwas von der Zeit damals wachruft.
Was ist bei der sehr speziellen Art Ihrer dokumentarischen Arbeit ein Kameramann? So etwas wie ein äußerer Teil des eigenen filmenden Ichs?
Ich habe mich darum eigentlich immer nur insoweit gekümmert, dass der Kameramann von mir seine Einsätze angezeigt bekommt. Damals ging es beim Film noch anders zu. Man hatte immer eine festgelegte Anzahl Filmrollen und die waren nicht länger als zehn Minuten. Danach musste neu eingelegt werden. Das heißt: Man hatte immer die Buchhaltung im Kopf: wann geht die Rolle zu Ende, wie viele hast Du noch in Reserve, reicht das Material? Für einen Film hatten wir nie mehr als 15 bis 18 Stunden Material, was als sehr viel galt.
Also: Was ist der Kameramann? Einen Film macht man zu zweit, dann zu dritt, weil die Cutterin eine sehr große Rolle spielt. Ich verstehe mich so, dass ich Anregungen gebe, den Schnitt mitbestimme. Heute würde ich wohl laut aufschreien, wenn ich, wie so viele, einen Film nahezu allein machen müsste. Das ist natürlich durch ökonomische Umstände bestimmt, die viele Filmemacher zwingen, alles allein zu drehen, mit der großen Wahrscheinlichkeit, dass vieles nicht gut läuft und dann nachher auch noch alles selbst im Computer zu schneiden, weil für etwas anderes kein Geld da ist.
Filmemachen ist für mich ein kooperatives Verhältnis, mit dem ich mich wiederum auch als solches beschäftigen muss. Das Filmauge liegt also auch in den Händen eines Nebenmannes, dem ich nach einer gewissen Zeit total vertraue, in dessen Bildarbeit ich mich deswegen gar nicht einmische, der aber wiederum ahnen muss, wo meine Aufmerksamkeit gerade hingeht. Gott sei Dank konnte ich immer mit mindestens zwei Menschen zusammenarbeiten. Mein Glück. Schreiben kann man alleine.
Verschmilzt man bei dieser Form intuitiver Zusammenarbeit zuweilen zu einem Organismus?
Beim NDR konnte ich nur mit einer Minderheit der Kameraleute arbeiten. Denn ein Kameramann ist normalerweise so erzogen, dass er gern eine Anweisung bekommt. Daraufhin kann er seinen Aufbau machen, das Licht für diese oder jene Einstellung bestimmen. Auch im Dokumentarfilm wollen sie etwas gesagt bekommen und tun dann handwerklich ihr Bestes. Aber dieses freie Agieren beim Direct Cinema, wo man, immer mit der Kamera auf der Schulter, die Aufmerksamkeit über Stunden aufrecht erhalten muss, dafür Sorge tragend, dass die Leute Dich akzeptieren…das können und wollen nur wenige.
Entstehen bei einer solch intensiven Zusammenarbeit nachhaltige Beziehungen?
Das war mit den verschiedenen Kameraleuten sehr unterschiedlich. Mit Gisela Tuchtenhagen habe ich ja dann in der Tat viele Jahre zusammengelebt. Bei der Arbeit mit Rudi Körösi und mit Wolfgang Jost ist jeder nach einem Film wieder in seine Welt gegangen. Immer wenn etwas von uns im Kino läuft, sage ich ihnen Bescheid. Sie kommen auch, alles ist sehr herzlich, aber wir haben keine Freundschaften entwickelt. Denn ich bin ja ein eigenartiger Mensch. Vielleicht halte ich das nicht aus, Freundschaften aus solchen Dingen heraus zu entwickeln, vielleicht ist das eine zu große Anforderung. Ich bin ganz froh, wenn man eine Zeit lang in großer Nähe gewisse Probleme bearbeitet hat, wieder Abstand davon nehmen zu können. Aber mit jedem verbindet mich eine lange, unausgesprochen solidarische Kollegialität.
Gegen Ende der 1970er Jahre, nach den aufreibenden Erfahrungen mit „Emden geht nach USA“ gingen Sie nach Köln, zum WDR mit seiner großartigen Filmredaktion. Haben Sie dort versucht, Ihre Filme zu platzieren?
Mir schien, dass ich beim WDR, damals der größte Sender, nicht wirklich zurechtkommen würde. Ich war ja für ein Jahr zum Rundfunk des WDR gegangen, um Abstand zu meinem Sender NDR zu gewinnen. Ich lernte dort zwar viele nette Kollegen kennen, aber die klagten derart viel über Veränderungen beim Sender, dass es mir unmöglich schien, irgendetwas anzubringen. Zudem war ich viel zu erschöpft, um noch einmal eine Redaktionsarbeit zu machen, wie zuvor beim NDR. Nach einem Jahr war ich wieder zurück in Hamburg, um die Filmarbeit wieder aufzunehmen. Allerdings landete ich im Dritten Programm, war nicht mehr, wie zuvor, im Ersten.
Sie haben eine erkleckliche Anzahl von Filmen im und über das Ruhrgebiet gemacht. In einer Zeit als Sie einige Auseinandersetzungen mit Ihrem Sender, dem NDR, gehabt hatten. Zugleich bewegen wir uns nun in der Zeit nach dem Deutschen Herbst.
Ich hatte in meiner Berliner Zeit an der DFFB viel mitbekommen, kannte auch Ulrike Meinhof relativ gut, mochte die auch, war also einigermaßen nah dran. Aber als Thema, so schrecklich und dramatisch es natürlich war, habe ich dieses Geschehen, das man den Deutschen Herbst nennt, nicht so wichtig genommen. Nach meinen Erfahrungen mit dem Film „Der Hamburger Aufstand“ wandte ich mich dem aktuellen Arbeitsleben in der BRD zu, und dann mit „Die Liebe zum Land“ auch den Veränderungen des Landlebens. Es ging darum, das Normalleben der Leute in Industrie und in Landwirtschaft vor Augen zu führen. Wenn wir mit Landarbeitern drehten, in irgendwelchen Zimmern wohnten, setzten wir uns dem Alltag ja aus, in dem die Maschinerie der Arbeit täglich ablief. Und dadurch rückten alle mit der RAF verbundenen Fragen in eine große Distanz. Wir waren mehr davon besetzt herauszufinden, was das Alltagsleben für die Leute hier eigentlich wirklich bedeutet und mit sich bringt. Im Nachhinein glaube ich, meine praktische Arbeit hat mich sowohl vor hochfliegenden Theorien als auch vor Hysterien geschützt.
Haben Sie diese Filme den darin vorkommenden Menschen vorgeführt? Wie wurden sie von denen aufgenommen?
Bei „Die Liebe zum Land“ hat Gisela Tuchtenhagen den Schnitt gemacht. Wobei der Schneidetisch in dem Bauernhaus untergebracht war, wo wir drehten und auch wohnten. Wir haben den Leuten aber nur relativ fertige Produkte gezeigt. Bei dem Projekt „Emden geht nach USA“ waren die Leute, die wir gefilmt hatten, mit dem fertigen Produkt weitgehend einverstanden. Aber dann mussten wir erleben, wie eine von der Presse angeheizte öffentliche Stimmung sich plötzlich sehr heftig gegen diese Filme wandte. Das war ein seltsamer Kontrast zu der Stimmung vor Ort.
Haben Sie im Ruhrgebiet eine spezifische Mentalität angetroffen. Und wie würden Sie diese beschreiben?
Als erstes machte ich dort den Film über Günter Westerhoff, den Dichter. Durch seine eigenwillige Art, er war mir sehr sympathisch, hat er mich wahrscheinlich zu diesem Thema Ruhrgebiet gebracht. Vielleicht ist die damals im Ruhrgebiet verbreitete Haltung mit jener zu vergleichen, die ich in London kennengelernt habe. Eine Mentalität, die natürlich mit der schweren körperlichen Arbeit zusammen hängt, welche die Leute oft ein Leben lang leisten mussten; in Fabriken, die inzwischen wie eine ferne und völlig fremde Welt wirken.
In London, wie erwähnt, arbeitete ich in einem Mental Hospital. Und die älteren Pfleger waren alle Waliser, die in der großen Arbeitslosenzeit vor dem Zweiten Weltkrieg nach London gekommen waren und die auch heftige Streiks, sogar Märsche auf den Regierungssitz, mitgemacht hatten. Von denen waren dann viele in die Mental Hospitals gegangen, weil man damals, als noch nicht mit Chemie behandelt wurde, für die Arbeit körperlich fit zu sein hatte. Auf Stationen, wo, als ich sie kennen lernte, zwei Pfleger arbeiteten, hatten vor dem Krieg noch fünfzehn Männer gearbeitet; das waren dann oft diese Waliser, die fünfzig zum Teil wirklich tobende Wahnsinnige beruhigen mussten. Und mir scheint, der von diesen Walisern verkörperte Pragmatismus ist vergleichbar mit der Haltung des Mülheimers Günter Westerhoff. All die Härten der Geschichte, denen diese Leute im Verlaufe ihres Lebens ins Gesicht sehen und damit fertig werden mussten, diese langen Schichten, die ein Arbeitsleben ausmachten, die Kenntnis von Hunger - das hat einen gewissen Typus hervorgebracht, der von einer trockenen Hartnäckigkeit bestimmt ist, verbunden mit einem eigentümlichen Witz. Und sie alle waren natürlich sehr gut darin, an Theken herum zu stehen und Bier zu trinken. Das sind aber alles lediglich Assoziationen.
In den frühen 1960ern geht Pier Paolo Pasolini in die Vorstädte von Rom, weil er sich von den Armen, die ihm so ganz anders als die korrupten Bürgerlichen zu sein schienen, Anstöße für eine andere Politik und Kultur erhofft. Hat Ihr Gang zu den Arbeitern des Ruhrgebietes ähnliche Motive?
Nein. Natürlich waren mir die Leute im Ruhrgebiet sehr sympathisch, aber mein Einsatzpunkt war ein ganz anderer. Nachdem ich vier Jahre an der DFFB in Berlin war, wo, wie erwähnt, nur geredet und gestritten wurde, hatte ich, als ich raus kam, derart die Schnauze voll von allem revolutionären Gerede und dachte: wo und wie kriege ich wieder einen Zugang zu den alltäglichen Dingen.
In dem Film „Stilllegung“ ist Herbert Mösle häufig zu sehen, ein Arbeiter, der sehr reflektiert über die Ruhrgebietsgeschichte erzählt, auch darüber, wie die deutsche Politik nach 1945 die Chance auf einen wirklichen Neuanfang aus der Hand gibt.
Mich interessiert zunächst einmal ein Mensch oder ein gewisser Typus. Als ich in den Sechzigern vier Filme in Amerika drehte, arbeitete ich mit Christian Schwarzwald zusammen, dem Bruder von Michael Blackwood. Als Kameramann war der Christian ein expliziter Vertreter des Direct Cinema, der dann zu mir sagte, ich müsse diese Methode in Deutschland anwenden. Was bei mir ja auf fruchtbaren Boden fiel. Zu dieser Kinoform gehörte, dass ich mit Menschen Umgang suchte, deren Stimmen in der Öffentlichkeit viel zu wenig gehört werden. Denen habe ich dann vermittels des Films einen öffentlichen Raum verschafft, weswegen ich dann im Fernsehen mehr und mehr an den Rand gedrängt wurde. Zu einer solchen Vorgehensweise gehört für mich, solche Menschen nicht, wie es häufig geschieht, mit Kommentaren zuzudecken, sondern sie sich entfalten zu lassen. Und genau das zieht sich auch durch meine Arbeiter- oder Gewerkschaftsfilme hindurch.
Und der Herbert Mösle gehörte zu dieser älteren Generation, die in finsteren Zeiten viele Erfahrungen gesammelt hatten und dabei einerseits eine politische Entschiedenheit, aber auch eine gewisse Gelassenheit entwickelten. Vielleicht suchte ich auch instinktiv immer wieder ein starkes Gegenbild zum deutschen Nazi und brachte eine Figur wie den Herbert Mösle sehr gerne in einen Film hinein.
Wo stecken in Dokumentarfilmen, wie Sie welche machen, die Gefühle? „Der Nachwelt eine Botschaft“ empfinde ich als todtraurig. Aber ich weiß nicht, ob es sich um meine Trauer handelt angesichts des Lebens Günter Westerhoffs, der im Ruhrbergbau und im Zweiten Weltkrieg viel Schlimmes durchgemacht hat, oder ob es Gefühle sind, welche der Regisseur mir zeigt.
Bei einem Filmemacher muss ja ein Sensorium für den Protagonisten, für dessen Problematik oder Symptomatik vorhanden sein, für gewisse Gefühlsschwingungen, ansonsten würde er einen solchen Film gar nicht anfangen. Das gilt zumal für Günter Westerhoff. Und wenn ein Nerv getroffen ist, der Filmemacher von einer gewissen Vibration berührt ist, dann wird er das entsprechend umsetzen, wird sich zusammen mit dem Kameramann darum bemühen, diese Vibration oder Stimmung auszudrücken, Momente festzuhalten, in denen sich etwas davon äußert. Das sind aber überhaupt nicht die Momente, in denen üblicherweise Tränen vergossen werden, sondern so kleine Zwischenmomente. Beim Vorlesen eines Gedichtes zeigen sich womöglich solche Realitätsschichten.
Wie bei der Radiomeldung vom Tode des Peter Weiß, die Sie in ihren Film über Pina Bausch einmontiert haben. Am Ende des Films gibt es dann beinahe experimentelle Super 8 - Bilder von Zeitungsartikeln über Peter Weiß.
Die Empfindung des Verlustes ist sehr präsent, aber es wird kein aufdringliches Ausrufezeichen gesetzt.
Letzteres ist natürlich sehr wichtig. Wobei wir zu der Zeit viele Aufnahmen mit Super 8 gemacht haben. In irgendwelchen Pausen, Zwischenmomenten, hat Wolfgang Jost oft seine Super 8 - Kamera rausgeholt und gefilmt, Zwischen- oder vielleicht auch Amateurmomente, in denen neben dem Hauptstrom des Geschehens etwas für das private Auge aufleuchtet.
In späteren Film haben Sie das dann wieder gelassen. Warum?
Der größte Teil von „Ein kleiner Film für Bonn“, der mein letzter Dokumentarfilm war, ist ja schon mit kleinen DV-Kameras gedreht. Das war ja gewissermaßen schon alles Amateurmaterial, also konnte man solche Momente nicht mehr dazwischen schieben.
Kann man sagen, die 1980er-Jahre, in denen Sie Ihre Ruhrgebietsfilme machen, das ist die letzte große Zeit der Gewerkschaft?
Gewiss gilt das für die Sorte Kampf und Auseinandersetzung, wie den großen Streik der britischen Bergleute zu Zeiten Margaret Thatchers, über den ich zwei Filme machte. Jetzt, glaube ich, geht es um ganz andere gesellschaftliche Prozesse. Aber das war noch einmal ein Kulminationspunkt. Weil ich das Gefühl hatte, es passiert etwas Besonderes, nahm ich zwei von mir geschätzte Theoretiker, Emil Plump und Egon Netenjakob, mit zu den Dreharbeiten nach England. Bei uns allen war schnell das Gefühl übermächtig, dass die Gewerkschaften in eine schwere Niederlage gingen.
Zu diesen Filmen gibt es noch etwas Wichtiges zu sagen. Alles, was in meinem Buch »Über synthetischen und dokumentarischen Film« über das Dokumentarische gesagt wird, habe ich vorher lange mit Egon Netenjakob diskutiert und entwickelt. Für die Emdenfilme nahmen wir dann noch einen Schriftsteller mit, der über den ganzen Prozess ein Buch schreiben sollte. Der Schriftsteller war Hubert Wiedfeld, eigentlich ein Hörspielautor, und die Hoffnung war, dass es ihm womöglich gelingt, den Sprung über die dokumentarische Realität hinaus zu einer Art gedanklicher Synthese zu schaffen, konkret: ein Drehbuch für ein Fernsehspiel zu schreiben. In meinem Buch hatte ich den Übergang zwischen rein dokumentarischen Momenten und gedanklichen Synthesen ja als »poetischen Film« bezeichnet. Aber dieser ist, durch viele Schnitte und Eingriffe, ja auch bereits eine Synthese, wenn auch mit dokumentarischem Material hergestellt. Also, neben dem eigentlichen Filmemachen ging auch die Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Dokumentarfilms immer weiter.
Sie waren nicht in Versuchung, den Sprung in die Synthese selbst zu wagen, also doch noch einen Spielfilm anzugehen?
Dazu reichte es bei mir nie. Es gab da eine Grenze, einen Spielfilm hätte ich, obwohl ich das immer mit allergrößtem Respekt betrachtet habe, nie zu inszenieren vermocht. Es ist überhaupt ein sehr seltener Fall, das ein Filmemacher beides wirklich beherrscht.
Sehr auffällig und sehr besonders ist Ihre Art, Texte in Filmen zu sprechen. Wie kam es dazu?
Es gab zunächst einen Widerspruch. Im Direct Cinema wurde jeglicher Kommentar weggelassen. Aber die Journalisten des NDR, für die ich Filme herstellte, arbeiteten natürlich alle mit Text. Was ich damals beim Fernsehen herstellte, waren Bildteppiche für Texte. Irgendwie kam ich dann aber dazu, meine Sehnsucht nach Worten, meine allerfrühesten schüchternen Äußerungen in Form von Halbsätzen in das beobachtende Direct Cinema hinein zu fügen, ohne die Bilder zu stören. Mein einziger Film ohne jeden Text ist „Heiligabend auf St. Pauli“, in die anderen habe ich immer wenigstens einige dieser winzigen Hinweise eingebaut. Solche Wortformationen dienten nie dazu, eine Person oder Situation zu erklären, vielmehr waren es gleichsam schnelle Notizen, um einen Film an gewissen Stellen weiter zu führen, so geartet, dass die Sprache filmischen Charakter bekam, eben zu einem Stück des Filmischen werden konnte.
Die Sprache zeichnet eine gewisse Lakonie aus. Hat das mit amerikanischen Einflüssen zu tun, mit Ihrer Vorliebe für Lyrik? Und entstehen solche Sprachstücke allein am Schneidetisch?
Da kommt vieles zusammen. Die Satzformationen in meinem Bändchen „Filmtheorie Nr. 2“, so eine Art quasi Gedichte, sind ja dem Sprechen in meinen Filmen ähnlich. Hinzu kommt, dass meine in Amerika gedrehten Dokumentarfilme auch deutsche Übersetzungen englischer Wortbeiträge enthalten. Diese spreche ich selbst und sie sind immer so gesetzt, dass die Übersetzung vor oder nach dem originalen Ausspruch erfolgt, aber stets bloß etwas antickt. Wodurch die Leute aber dem Englischen meist gut folgen können. Aber fragen Sie mich nicht nach einer Gesetzmäßigkeit. In welchen Abständen diese Sprachstücke fallen, dafür gibt es keinerlei Regel, es hat allein mit meinem Gefühl zu tun.
An der Sprache wird sehr gefeilt?
Ja, schon. Ich muss bei jeder Äußerung erst herausfinden, inwiefern sie meiner Haltung entspricht. Das ist nicht einfach. Man kann vieles denken, sich verschlungen äußern. Die Arbeit an der Sprache ist eine des Entkernens. Dabei finde ich aber den Film ohne Sprache, das heißt, den Originalton im Direct Cinema als etwas sehr Schönes. In meiner Filmgeschichte „Der Körper des Autoren“ erzähle ich ja, dass ich manchmal den Kameramann bitten möchte, anzuhalten, weil ich irgendetwas Auffälliges höre und er das dann aufnehmen soll, was da zufällig in einem offenen Fenster zu hören ist. Solche Töne gehören zu Bildern unverbrüchlich hinzu. Das ist der Klang des gegebenen Moments, des Augenblicks, den ich erfasse. Der Umgang mit Bildern, Tönen und Worten bewegt sich bei mir auf einer Ebene.
Späterhin gibt es allerdings nicht mehr allein Direktton. In Ihren Film über Pina Bausch sind Radiotöne, Nachrichtmeldungen zeitversetzt eingefügt. Der Umgang mit Ton ist spielerischer.
Je älter ich wurde, desto mehr nahm ich mir gewisse Freiheiten. Dennoch sind es ganz seltene Momente. Am Anfang war ich ganz strikt darin, immer den O-Ton zu nehmen, dann gab es eine, allerdings ungeheuer langsame Loslösung.
Sie haben einmal geäußert, Sie hätten durch die Sprache der Literatur Zugang zu vielen Dingen gefunden. Können Sie erläutern, was genau das bedeutet?
Es fehlt einem selbst natürlich die Einsicht, wie Beeinflussungen nun genau vor sich gehen. Als der Krieg zu Ende ging, war ich vierzehn Jahre alt und mein jugendlicher Kopf, ob ich wollte oder nicht, war voll von dieser Nazi-Propaganda. Sie können sich nicht vorstellen, wie diese Zeit war: es dröhnte von allen Seiten auf einen ein. Wenn man das Radio einschaltete, wenn man bei der HJ anwesend sein musste, wurde in einer bestimmten Tonlage gebrüllt, war man diesen abgehackten Kommandosätzen ausgesetzt. Die Kurzgeschichten von Hemingway, später die Romane von John Steinbeck waren eine andere Welt. Mit der habe ich mich im Nachkrieg stark identifiziert, denn sie gaben eine andere Orientierung, waren eine Art, Dinge anders zu sehen. Dieser Umstand steht hinter dem von Ihnen erwähnten Satz.
Und er hat auch einiges damit zu tun, dass ich später, als ich beim Filmemachen die Verantwortung trug, immer auf Nebensächliches achtete, auf Dinge, die anderen nicht so wichtig waren. Denn aus vermeintlich nebensächlichen Situationen entwickelt sich manchmal etwas ganz Eigenes. Wenn sich beispielsweise zwei Leute gegenübersitzen, entsteht zuweilen eine Atmosphäre des Wartens. Vielleicht aber passiert doch etwas Unvorhersehbares, drückt sich in einer alltäglichen Beobachtung etwas Eigentümliches oder Merkwürdiges aus, wodurch das Alltägliche zu etwas Besonderem wird. Im Zusammenhang eines Filmes werden mittels solcher Momente ganz eigenartige Zusammenhänge sichtbar, obwohl er das Maß des Alltäglichen nicht übersteigt. Also sollte man als Filmemacher nicht dauernd ins Geschehen eingreifen wollen.
Einige Zeilen aus Ihrem Gedicht „Fluchweg Ostende“:
„Straßenbahnzwischenland
Knokke bis Grenze Chanson
Flaute im subventionierten Fährbetrieb
Die untergegangene Emigration
Mal fällt Nebel lichtet sich…“
In den Zeilen ist ja mehr als die in Belgien beobachtete Gegenwart präsent, nämlich auch die Vergangenheit, die Zeit des Krieges.
In Schriftform ist so etwas natürlich leichter zu handhaben, als wenn ich mit einem Kameramann versuche, Szenen zu finden. Aber das Gedicht besteht, wie ein Dokumentarfilm, aus lauter Nebensächlichkeiten, die montiert sind. Ich habe das nicht mehr zu Ende führen können, aber es interessiert mich nach wie vor und ich rede mit anderen Filmemachern darüber: wie man die lange Weile, die Dauer, mit der wir alle ja umgehen müssen, ästhetisch interessant macht. Ich fuhr ja damals nicht ins Ruhrgebiet, als die großen Streiks waren, sondern erst danach, viel später, sozusagen in der Zeit nach dem Drama. Und irgendwie versuche ich das Interesse für solche Momente weiterzureichen.
Das Besondere einer Situation ist einem bereits während des Drehens bewusst, oder fällt so etwas erst am Schneidetisch ins Auge?
Das ist einem bewusst. Eben habe ich von dem Streik in England erzählt und von diesem Arbeiter, der uns zu sich nach Hause einlud. Da gibt es eine Szene, in der er von einem Kumpel zu einer Streikaktion angeholt wird. Wir bleiben mit der Ehefrau und den Kindern zurück, die kaum etwas zu essen haben. Und dann macht die Mutter ein Sandwich, während ihr Junge, um sich irgendwie abzulenken, Fernsehen guckt. Das Sandwich ist ganz mickrig und trocken. In dieser Beobachtung steckt sehr vieles, obwohl sie auf den ersten Blick unscheinbar ist. Man kriegt auf einer emotionalen Ebene etwas davon mit, was es bedeutet, einen Streik ohne Streikgeld durchzustehen. Die englischen Gewerkschaften handhaben das ja anders als unsere.
In einem Gespräch mit Christoph Hübner sagen Sie, sowohl Spielfilme als auch Dokumentationen seien voyeuristisch, aber Dokumentarfilme wären anders voyeuristisch.
Ja. In der eben beschriebenen Szene filmten wir die Armut dieser Familie. Aber wir waren sicher nicht auf einen Kick aus. Ein Spielfilm würde da etwas dramatischer herauskehren wollen, als es die Belanglosigkeit oder Normalität ermöglicht. Viele Leute schlafen ja bei solchen dokumentarischen Momenten ein, aber für die, die sich darauf einlassen, kann es eine große Bedeutsamkeit bekommen.
Zurück zum Ruhrgebiet. Was mir durch Ihre Filme klar wurde, ist: die Ruhrgebietsarbeiter hatten noch in den 1980ern ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Gleichzeitig sind sie beinahe alle "Bild"-Leser, haben ein bisschen auch ein daher rührendes Weltbild. Sieht man das, versteht man nicht mehr, dass mancher in den Sechzigern und Siebzigern dachte, es könnte hierzulande wirklich eine Revolution geben.
Sie zwingen mich dazu etwas ganz breit auszulegen, wozu ich nicht sehr neige. Der italienische oder der französische Aufruhr jener Jahre entsprang einer anderen Mentalität, die hier einfach nicht anzutreffen war. Wir hatten so etwas früher auch einmal, nach dem Ersten Weltkrieg, etwa in Kiel 1918, aber das ist ja alles immer wieder blutig niedergeschlagen worden. Für mich persönlich, ich muss es noch einmal betonen, waren die Nazizeit und der Krieg so prägend, dass ich es schon als einen enormen Schritt empfand, da angelangt zu sein, wo wir Deutsche in den Siebzigern waren. Also: Protest anzumelden und in geordneten Gewerkschaftsbahnen etwas durchzusetzen versuchen. Diese gewerkschaftlichen Formen empfand ich als das Wirksamste, was damals für uns zu erwarten war.
Ich respektiere die von Ihnen gefilmten Ruhrarbeiter sehr, bewundere jemanden wie Herbert Mösle, auch den Günter Westerhoff. Dennoch, man sieht in Ihren Filmen oft Dinge, die es auch in meiner eigenen Familie gab: man ist Arbeiter, durchaus klassenbewusst, aber auch sehr spießig.
Sie sind jünger. Man darf wirklich nicht vergessen, was der Krieg war und was es nach dem Krieg bedeutet hat, irgendwo Arbeit zu kriegen und für die Arbeit genügend Geld, um etwas zu Essen zu kaufen, sich einzurichten. Das ist etwas sehr Existentielles. Bei mir, und ich denke auch bei anderen, sind all diese Gefühle noch da.
Was mir noch einfällt: In den Achtzigern drehte ich, wie eben schon erwähnt, einen Film in England [„Yorkshire“ D 1985]. Es ging um den großen Bergarbeiterstreik. Im zweiten Teil kommt ein Mann vor, der bei dem langen Streik mitwirkt und der deswegen kein Einkommen mehr hat. Wir sind bei ihm zuhause, und er errechnet, um die dramatische Situation seiner Frau und seiner Kinder zu verdeutlichen, den Geldverbrauch. Als wir den Film in England vorführten, monierten alle radikaleren Gewerkschaftsleute, dass die Zeitung auf die er diese Berechnungen schrieb, die "Sun" war, die englische Entsprechung von "Bild", und das durfte in deren Augen nicht sein. Aber unser Mann war ein äußerst klassenbewusster und kämpferischer Arbeiter. Als es zu den Auseinandersetzungen kam, hat er den Polizisten ihre Schilder entrissen und dafür Prügel eingesteckt. Ich würde nicht den Rückschluss ziehen, dass in einem Haushalt, in dem die "Bild"-Zeitung liegt, kein Aufstand möglich wäre. Heute weiß ich allerdings einfach zu wenig von dem, was wirtschaftlich auf uns zukommt. Vernehmbare Kapitalismuskritik gibt es ja jetzt wieder. Aber vieles verschiebt sich. Dass Leute am Computer sitzen und ausgebeutet werden, bedeutet ja nicht, dass sie noch in irgendeiner Form Gemeinsamkeiten wahrnehmen.
Mein Eindruck ist, dass Sie in Ihren Ruhrgebietsfilmen etwas distanzierter arbeiten als vorher. Sie lassen mehrere Standpunkte, mehrere Blicke auf einen Gegenstand zu.
Bis auf den Unternehmerstandpunkt. Vor allem vollziehen unsere Beobachtungen die Schwierigkeiten mit, die Menschen miteinander haben, wenn sie sich gemeinsam zu etwas durchringen wollen. Was ganz offensichtlich nur sehr selten klappt. Schon in „Emden geht nach USA“ kann man en detail verfolgen, wie schwierig es ist, das eigentlich doch recht bescheidene Ziel zu erreichen, eine Kundgebung durchzuführen und darauf aufmerksam zu machen, dass, falls das VW-Werk in Emden schließt, es zu einer massiven Arbeitslosigkeit kommen wird. Wir zeigen, wie viele Stadien ein solcher Entschluss erst durchlaufen muss, bis er dann realisiert wird. Worin gewiss auch eine Kritik steckt, aber vor allem wird wahrnehmbar, was es bedeutet, innerhalb eines Unternehmens mit all diesen typischen deutschen Denkweisen etwas zu verwirklichen.
Solche Vorgänge gibt es ansonsten kaum in Kino und Fernsehen zu sehen. Wahrscheinlich, weil das eine zähe und anstrengende Materie ist. Aber in Ihren Filmen bekommt man sehr genau mit, wie Politik und Öffentlichkeit funktionieren, von welchen Strategien man dort bestimmt wird…
… manchmal, wenn diese alten Filme vorgeführt werden, bescheinigt mir jemand, dass sie einerseits die Zeit in sich tragen, in der sie aufgenommen wurden, aber dazu auch, dass sie sehr modern anmuten. Denn man sieht, dass es heute immer noch dieselben Konflikte sind, mit denen man sich allerorten rumschlägt.
Ja, die Vorgänge und Konflikte gibt es heute erst recht, aber sie werden nicht mehr künstlerisch bearbeitet.
Die Methode, die man mit dem Begriff Direct Cinema zusammenfasst, wird heute, glaube ich, als eine Technik betrachtet, die man mal handhaben, aber auch schnell wieder ablegen kann. Im Grunde gilt sie als völlig veraltet, verbraucht. Was ich aber, ohne es methodisch zu Ende erklären zu können, als nach wie vor sehr experimentell daran empfinde, das ist das Improvisieren. Was ja bedeutet, dass man vorher kein Script schreiben kann, wie es die Geldgeber verlangen, sondern es ist verlangt, dass man als Aufnehmender eine geraume Zeit offen sein muss für sich plötzlich vollziehende Entwicklungen. Man kann vielleicht sagen, dass beim Direct Cinema vieles von dem, worauf der Film- und Fernsehbetrieb fixiert ist, wegfällt.
Neulich las ich ein Gespräch mit Michael Haneke. Daraus zitiere ich Ihnen etwas (liest): 'Beim Schreiben sitzt ein Kopf einem Blatt Papier gegenüber. Beim Film stehe ich hundert Leuten gegenüber, die ich dazu bringen muss, mit meinem Kopf zu denken. Also, mit ihren eigenen Köpfen, aber in meinem Sinn. Das Wichtigste ist das Drehbuch. Der kreative Prozess besteht für einen Autorenfilmer darin, die Sache zu erfinden. Danach besetzt man, sucht die Motive und bereitet die Auflösung vor. Auch das passiert am Schreibtisch, im einsamen Kämmerlein. Damit ein Dreh ordentlich funktioniert, ist genaue Planung unerlässlich.' Man kann es sicher so sehen wie Michael Haneke. Aber ich war immer auf das genaue Gegenteil aus, habe mich auf Unvorhersehbares einlassen wollen. Und ich denke, der Film hat den Moment der Improvisation auch noch gar nicht ausgereizt.
Thomas Heise hat mir erzählt, heute seien alle Leute auf Ämtern und alle Politiker von PR-Beratern geschult. Keiner würde frei reden, es ginge immer nur darum, ein öffentliches Image herzustellen.
Ich bin der Meinung, dass mit den Methoden des Direct Cinema trotzdem noch etwas gelingen könnte. Wenn man es ehrlich meint, sich einem Menschen wirklich stellt – ich will solche Leute ja nicht diffamieren –, dürfte mancher doch noch einiges preisgeben. Dazu gehört viel Geduld. Man muss Vorgänge mit großer Aufmerksamkeit begleiten, ganz lange zuhören, den Kameramann nicht ständig den Platz wechseln lassen, damit er eine interessante Perspektive findet, sondern ihm nahelegen zu registrieren.
In dem Film über Mostar ist Ihnen das mit Hans Koschnick geglückt. Er scheint ganz bei sich zu sein, wodurch man viele Dinge sieht und hört, die öffentliche Menschen sonst nicht kundtun.
Deswegen meine ich, könnte es auch heute noch gelingen über solche gewieften Politiker etwas Fundiertes zu machen. Zeit spielt eine große Rolle bei dieser Arbeit. Es kann aber sein, vielleicht sprechen da nun aber meine massiven Vorurteile, dass wir Deutschen für das Direct Cinema nicht wirklich geeignet sind. Es kommt mir jedenfalls so vor, dass auch die allermeisten Dokumentarfilmer alles immer äußerst detailliert organisieren, sich lieber nach vorgefassten Plänen richten. Alles darüber hinaus fällt dann aus dem Zeitrahmen. Bei einer dokumentarischen Arbeit, bei der man sich annähern, ein Empfinden für die Rhythmen eines Menschen, für Schnelligkeiten, Langsamkeiten, Stillstand entwickeln will, spielt Zeit aber die entscheidende Rolle. Aber vielleicht kenne ich einfach viel zu wenige aktuelle Filme.
Haben Sie je erlebt, dass die Bilder hinterher wegen ihrer zu großen Offenheit nicht freigegeben wurden?
Eigentlich nie. Manchmal, wie bei einem Mann in dem Emdenfilm, den ich heute noch ab und an sehe, ist das Verhältnis zu den Protagonisten richtiggehend von einem tiefen gegenseitigen Vertrauen geprägt. Aber ich habe keine dauerhaften Beziehungen aus der Filmarbeit heraus entwickelt. Dieses Vorgeben von Freundschaft, die eigentlich keine ist, empfände ich als einen Umschlag in Opportunismus. Das ist eine Seite des Filmgeschäftes, die mir unsympathisch ist.
Ich fragte Thomas Heise einmal, ob er nicht zuweilen das Gefühl hätte, er verpasse etwas, wenn die Kamera aus wäre. Die Antwort war ein entschiedenes 'Nein'. Sonst würde er ja arbeiten wie alle heute, die ständig bloß vermeintlich großen Ereignissen hinterher rennen. Was an Menschen und ihren Beziehungen wichtig sei, so Heise, das würde sich häufig äußern. Man könne also gar nichts verpassen
Das ist sehr schön gesagt. Gleichzeitig weiß ich nicht, ob er das nicht etwas zu idealistisch sieht. Ich glaube, man kommt als Filmemacher nicht um die Erfahrung herum, zu denken: 'Scheiße, Du hättest anwesend sein müssen'.
Kann man diejenigen, die in Ihren Filmen mitwirken Mitautoren nennen?
Natürlich wirken die ganz entschieden mit, klar. Und wenn ich mich Leuten zuwende, dann weil es bemerkenswerte Personen sind. Aber Autoren? Die Filmerzählung zusammenfügen, das ist, so sehe ich es, doch noch mal etwas anderes.
Der Filmkritiker Helmut Färber hat bemerkt, ein Problem des deutschen Kinos sei, dass es zwar eine große Ateliertradition gebe, aber kaum eine Wahrnehmung für die Landschaft oder für die Natur. Wie würden Sie das bei Ihrer Arbeit sehen?
Irgendwie stimmt das. Landschaft taucht oft bloß im Hintergrund auf. Schon möglich, dass auch ich das vernachlässigt habe. Zum Ende meines Werkes hin, in den Englandfilmen, spielt die Landschaft von Yorkshire allerdings doch eine wesentliche Rolle. Mir war grundsätzlich immer wichtiger, Menschen nahe zu kommen, ihnen und ihren Aufenthaltsorten; oft sind Wohnzimmer und Küchen ja deren Landschaften.
Welches Raumgefühl empfinden Sie gegenüber der Landschaft in Deutschland?
Eng und verwinkelt. Verordnet. So jedenfalls wirkt es, wenn man mit der Bahn durchfährt. Aber vielleicht artikuliert sich hier abermals meine Geschichte, mein emotionaler Untergrund, der hinter einer zu großen Ordnung immer etwas Böses vermutet. Wobei ich viele Deutsche als ungeheuer nett und freundlich erlebe. Meinen beim Aufwachsen in Deutschland entstandenen Neurosen und Vorurteilen muss ich immer wieder entgegensetzen, dass ich mich hier auch gut aufgehoben fühle.
Ihre Heimat?
Ich würde das Wort wohl nicht benutzen. Was mir zum Beispiel an Belgien gefällt: man kommt durch endlos lange Straßen, in denen nicht ein Haus dem anderen gleicht, wo selbst jeder Briefkasten ein bisschen anders aussieht. Was ähnlich für England gilt. Wenn Engländer so dermaßen stur sind, dann nur um ihr Eigenes zu behaupten.
Als die Hauptstadt nach Berlin verlegt wird, drehen Sie einen Abschiedsfilm. Wobei Ihr „Kleiner Film für Bonn“ nicht allein wie ein Abschied von der Hauptstadt Bonn wirkt, sondern sehr viel tiefer geht. Es kommt zum Ausdruck, wie sympathisch Ihnen das Deutschland der Bonner Republik war. Kann man sagen, Ihre Filme sind aus diesem speziellen Deutschland der Jahre 1945 bis 89 heraus entstanden und auch dafür gemacht?
Das kann ich heute entschieden mit 'Ja' beantworten. Was eben auch mit dieser Entscheidung zu tun hatte, dieses Direct Cinema auf Deutschland übertragen zu wollen, es hier anwenden. Hier heißt: In diesem Westdeutschland auf seinem Weg raus aus der Nazizeit, der für mich derartig wichtig gewesen ist.