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Bericht

Netzwerke und Kollektive
Teil 1 des Jahressymposiums der Dokumentarfilminitiative vom 19.4.2018

Was bedeutet ‚Kollektiv‘ heute? Ist es eine Organisationsform, mit der den schwierigen Rahmenbedingungen der Filmproduktion begegnet werden kann?

Macht die Selbstorganisation in Kollektiven unabhängiger? Die Diskussion zeigte, dass Filmemacher und Verleiher heute an einem inhaltlichen Thema interessiert sind und sich darüber zusammen finden. Ihnen fehlt allerdings ein gesellschaftlicher Untergrund, eine Bewegung, die sie trägt. Dies war in den 70er Jahren der Fall. Neben den generationellen Unterschieden im Verständnis und in der Praxis des Kollektivs fiel der Aspekt ‚Konkurrenz im Kollektiv‘ ins Gewicht. Es sei nötig, Filmemachen und Politik neu zu denken, so ein weiteres Fazit  …

Der Beginn der Suche nach einer Dokumentarfilmkultur galt der Vorstellung von Kollektiven und Kooperativen. Was ist mit ihnen möglich? Beide Begriffe entstammen dem politischen oder sozialen Feld. Kooperativen hießen in Deutschland anfangs Genossenschaften. Verbunden werden damit die Namen Schulze-Delitzsch und Raiffeisen, zwei liberale Politiker aus den Zeiten des Vormärz. Genossenschaften waren vor allem im ländlichen Bereich Zusammenschlüsse innerhalb gleicher Berufsgruppen zur Abwehr von Risiken der je einzelnen Mitglieder – Schutz vor Missernten und den Auswirkungen von Krankheiten. Der Begriff Kollektiv hat in der Räterepublik einen engeren politischen Sinn gehabt und war gedacht als eine basisdemokratische Organisationsform der gesamten Gesellschaft. Kennzeichnend für das Kollektiv war die Idee des Konsenses innerhalb der Kollektivs, der Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe und zur ökonomischen Gleichstellung der Mitglieder.

Erfahren haben wir, dass besonders im Kollektiv bei allem Konsens leidenschaftlich um die Sache gestritten wird und dass die ökonomische Gleichstellung auch bedeuten kann, das niemand etwas bekommt, weil die Kreativen im Film am Ende einer Auswertung so gut wie nie einen Gewinn haben. Das allerdings waren nicht die einzigen Punkte, an denen man feststellen konnte, wie offen der Kollektivbegriff in der gegenwärtigen Debatte verwendet wird. Das neopankollektiv etwa versteht ihn sogar absichtlich als eine Art „Versuchsanordnung“, als ein auszuprobierendes Modell. Die Motive für den Zusammenschluss im Kollektiv sind so verschieden, wie die Verständnisse des Begriffs. Fast alle Kollektive sind als Zusammenschluss von Filmschaffenden der gleichen Hochschule und naher Jahrgänge entstanden. Das war, wie die Wendländische Filmkooperative zeigt, auch 1976 nicht anders. Die Sehnsucht nach flachen Hierarchien gehört sicher bei allen Kollektiven zu den Leitideen, bis hin zum Verschwinden des Einzelnen hinter dem Begriff des Kollektivs, der Gleichbewertung aller Arbeiten. Auch das Erleben von „Loyalität und Verbindlichkeit“ wurde als ein Motiv genannt (Wendländische Filmkooperative).

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Gesucht wird im Kollektiv weiterhin die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in der künstlerischen Arbeit und bei den Ressourcen die Möglichkeit, die eigene Arbeit im Zusammenschluss zu verstetigen, die inhaltliche Freiheit der Autoren gegenüber externen Produzenten und das Einbehalten möglichst aller Rechte (so die Petrolio Filmkooperative). Die Dokomotive-Vertreter sprachen von einem „Schutzraum“ und einer über das Studium hinwegleitenden „Dokuklasse“. Manchen ist der Kollektiv-Begriff auch ein Synonym für Netzwerke und ihre Netzwerk-Familie, manche Kollektive sind inzwischen Familiennetzwerke.

Über der Frage, wo heute die Utopien der Kollektive zu finden sind, entspann sich ein Streit, der auch zeigt, dass die Auslegung des politischen Begriffs von verschiedenen Generationen anders verstanden wird und auch zu anderen Konsequenzen führt. Roswitha Ziegler erinnerte daran, dass die Wendländische Filmkooperative seinerzeit mit dem Credo von Joris Ivens, aus der Kamera eine Waffe machen, angetreten sei und Agitation im Sinne einer Gegenöffentlichkeit aktiv betrieben hat. Heute muss man allerdings nicht mehr mit einem 16mm-Projektor über die Dörfer tingeln, um seine Filme sichtbar zu machen und mit ihnen politische Veränderung anzustoßen, sondern im Dickicht der filmischen Reizüberflutung Mittel finden, auf sich aufmerksam zu machen. Auch der damalige Versuch, jedem Menschen eine Kamera in die Hand zu drücken, damit er sich in diesem Medium äußern kann – Impuls der ersten Videokollektive – ist von der technischen Entwicklung eingeholt worden: Astrucs Diktum von der „Caméra-Stylo“, der Kamera als aufzeichnendem Stift hat durch die Entwicklung der Produktionsmittel, insbesondere die Smartphones eine ziemlich wörtliche Umsetzung erfahren. Jeder kann heute theoretisch Filme machen, alleine schneiden und vertonen, jeder kann sie online sichtbar machen. Hier deutet sich eine neue „Graswurzelrevolution“ an, der allerdings noch keine Finanzierungsmöglichkeiten gegenüberstehen, außer der Feststellung, dass Filmemachen heute nichts mehr kostet, solange man nicht durch die Welt reisen muss. Und auch hier gibt es neuere Mittel wie Crowdfunding (neopan).

Die Älteren auf den Panels und im Publikum konstatieren eine Lähmung und Kleinmütigkeit der jüngeren Kollektive, eine „Resignation“, die gefährlich sei. Sie fordern, dass man sich zusammentut in Metakollektiven und aufsteht gegen die für den Dokumentarfilm zunehmend repressiver werdenden Verhältnisse (Beispiel: aus 56 Sendeplätzen WDR/arte sind 11 geworden), weil man nur gemeinsam, also im Zusammenschluss der Produktionskollektive stark sei.

Die Jüngeren auf dem Podium und im Plenum setzen dem eine Ausweichstrategie entgegen, die Christoph Hübner als „Unsicherheit“ oder eine Weigerung sich festzulegen beschrieb, die vielleicht einfach die angemessene Reaktion auf die aktuellen Verhältnisse sei. In der Pause konnte man auch Kommentare der Jüngeren hören, dass hier Ältere zu einer Rebellion gegen Verhältnisse aufrufen, für die sie mitverantwortlich seien und von denen sie lange profitiert haben.

Als Fazit aus diesem Generationskonflikt kann man auf jeden Fall mitnehmen, was Saskia Walker von Revolver so formulierte: Man muss politisch neu denken. Und das betrifft auch die Mittel der politischen Einwirkung. Das betrifft aber vorab die Analyse der Situation und ihrer Risiken und Möglichkeiten, wie sie derzeit ja allenthalben, zum Beispiel von Edgar Reitz bereits angedacht wird.

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Die prekäre Situation des Dokumentarfilms führte mehrfach zu einer Art „Hobbyverdacht“. Wenn Filmemacher nur noch überleben, indem sie Dokumentarfilmproduktion als Projekte neben ihren Brotjobs verstehen müssen, dann ist das empörend und nicht hinzunehmen. Aber hier sollte man zwischen den verschiedenen Kunstsparten differenzieren. Sparten wie Visual Music, die von den anwesenden KünstlerInnen vom kollektiven Netzwerk Strippenzieherei vertreten wurden, werden nicht mit Fördergeldern unterstützt und müssen von der Parallelität von künstlerischer Produktion (bei der das Netzwerk hilft) und dem Brotberuf zunächst einmal ausgehen. Was Katharina Blanken hier nicht erwähnte: Im Kunstkontext sind Filme auf Ausstellungen angewiesen, in denen sie gezeigt werden. Dann erst ist eine Refinanzierung eventuell auch möglich.

Die ökonomischen Bedingungen, unter denen Dokumentarfilm entsteht, waren in der gesamten Diskussion sehr präsent. Und es drängte sich der Eindruck auf, dass gerade die Jüngeren sich in Kollektiven zusammentun und sich auf Querfinanzierung einlassen, weil sie anderenfalls gar keine Filme mehr machen könnten. Sabine Rollbergs Einwurf, keiner der auf dem Podium Anwesenden hätte auch nur den Hauch einer Chance auf einen der 11 verbliebenen Sendeplätze bei arte war da nicht mal eine Drohung, sondern schlicht ein sachlicher Kommentar.

Auch wenn die öffentlich-rechtlichen Sender, die in erheblichem Maße für die Produktion von Dokumentarfilmen zumindest verantwortlich waren und es eventuell wieder werden könnten, wenn sie wollten, noch nicht dazu übergegangen sind, sich vollends selbst abzuschaffen, so hat doch das absehbare technische Ende des linearen Fernsehens zu drastischen Sparmaßnahmen in den Produktionsetats geführt. Und deshalb scheitert der Zusammenschluss in ein Kollektiv der Kollektive, in ein großes gemeinsames Ganzes, wie es einmal „die Bewegung“ war, in die ein filmisches Kollektiv eingebettet war, heute möglicherweise an etwas, das in der Soziologie als „Allmendeproblem“ beschrieben wird. In Zeiten knapper allgemein verfügbarer Ressourcen entwickelt sich zu ungunsten der Gemeinschaftsidee ein verschärfter Verteilungskampf. Die Kollektive und ihre Mitglieder – so die Feststellung – befinden sich trotz bewusst gewollter Kooperation auch in Konkurrenz zueinander. Aus den sich vorstellenden Kollektiven wurde dieses Konkurrenzverhalten nicht als Binnenerfahrung berichtet. Die Aufstellung als flexibles, vielleicht nicht einfach greifbares und in alle Richtungen offenes Gebilde zeigt, dass die Reaktionsmuster auf die beschworene „digitale Krise“ nicht zwangsläufig in eine offene Solidarisierung unter einem Banner münden muss.

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Der sich abzeichnende Umbruch scheint in eine Richtung zu laufen, die die Musikbranche, wie Till Kniola vom Kulturamt der Stadt Köln am Anfang referierte, längst hinter sich hat, wo Musiker ihre eigenen „Bedroomproducers“ geworden sind, die neben der Musik noch T-Shirts, Konzerte in Tiefgaragen etc. organisieren. Alternative Verwertungswege werden derzeit auch von den Kollektiven ausprobiert: Die Dokomotive erprobte neue Formen der Streaming-Bereitstellung und ist mit der Idee eines „Immersiven Dokumentarfilms“, der in seine Entstehungs-Umgebung eingebettet wird, nicht allein. Der von Till Kniola als Analogie beschriebenen „fanbasierten Musikrezeption“ mit immerhin fließenden Einnahmen steht allerdings noch keine quantitativ ins Gewicht fallende fanbasierte Filmrezeption gegenüber, deren Streaming- oder Download-Gebühren Filme finanzieren. Im Internet soll tendenziell alles umsonst erlebbar sein. Open Source und Stallmans „to share copies“ sehen das Netz als freien und kostenfreien Raum, was für Filmemacher auf Selbstausbeutung hinausläuft. Am Ende muss man vielleicht doch auf Saskia Walkers Vorschlag zurückkommen, der Helmut Herbsts neulich öffentlich geäußerte Idee aufnimmt und für Dokumentarfilmer in Zukunft ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern.

Was auf jeden Fall fehlt, ist eine gebündelte „Strategie des Dokumentarischen im Netz“, wie es Constanze Wolpers von der Filmarche Berlin als Seminarthema der freien Filmschule benannte. Und auch wenn der Eindruck der Fragmentierung der Filmschaffenden sicher dominierte, so scheint doch ein gelungener Anfangspunkt für die in Zukunft nötige Vernetzung der Netzwerker ein irgendwie herzustellendes Kollektiv der Kollektive zu sein.

Marcus Seibert, 20.4.2018