dfi Symposium DOING TIME. Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit
Tagungsbericht mit Tonaufnahmen
Text: Maxi Braun
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Im Mittelpunkt des Symposiums der Dokumentarfilminitiative (dfi) im Filmbüro NW am 9./10. Januar 2025 in Köln stand in diesem Jahr die Vielfalt von Zeitlichkeit im Dokumentarfilm. Unter dem Titel „Doing Time. Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit“ wurden zwei Tage lang Bedeutung, Formen und filmische Praxen von Zeitlichkeit mit Filmschaffenden, Wissenschaftler:innen und Studierenden diskutiert. Dokumentarische Genres wie Slow Cinema oder Langzeitbeobachtungen, queere und non-lineare Zeitlichkeit sowie u.a. die Bedeutung des Archivs wurden thematisiert. Auch darüber hinausgehende, philosophische Überlegungen rund um den Begriff und die Wahrnehmung von Zeit spielten eine Rolle. Birgit Kohler, Leiterin des Kinoprogrammbereichs des Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Berlin, und Filmjournalist Sven von Reden moderierten im Wechsel die Filmgespräche und Panels.
1. Beschleunigen, raffen, schichten, wiederholen, dehnen … Mit der Zeit verändert sich der Blick auf die Dinge – Impulsvortrag mit experimentellem Kurzfilmprogramm von Kuratorin Michelle Koch
Der einleitende Impulsvortrag mit dem Titel „Beschleunigen, raffen, schichten, wiederholen, dehnen … Mit der Zeit verändert sich der Blick auf die Dinge“ von Kuratorin Michelle Koch bereitete umfassend auf die unterschiedlichen Schwerpunkte des Programms vor. Koch spannte den Bogen von der frühen Filmgeschichte – in der filmische und reale Zeitlichkeit aufgrund der begrenzten Aufnahmedauer noch kongruent waren – über André Bazin hin zu den Thesen des US-amerikanischen Filmwissenschaftlers Gilberto Perez. Mit Letzterem ergänzte Koch auch die Vorstellung von filmischer Zeit um die Zeit des Erlebens der ästhetischen Erfahrung.
Koch reicherte ihre filmtheoretischen Überlegungen noch um eine Reflexion über die Wahrnehmung von Zeit und deren Einfluss auf unsere Weltanschauung an. Dadurch rief sie in Erinnerung, dass sich in 130 Jahren Filmhistorie nicht nur Technik, Dispositive und Plattformen verändert haben, sondern auch das menschliche Zeitempfinden stets im geschichtlichen Kontext zu sehen ist. Ergänzend stellte sie einige Leitfragen in den Raum, die im Verlauf des Symposiums wiederkehrten: Wie denkt der Dokumentarfilm über Zeit nach? Wie geht er mit ihr um? Wie modifiziert der Film die Wahrnehmung der Realität, und wie stellt er die Verbindung zur realen Welt her? Und was bedeutet es für die Darstellung und Wahrnehmung der „Wirklichkeit“, wenn filmische Zeit als formender Faktor gesehen wird? Sie schloss ihren Vortrag, indem sie zum experimentellen Kurzfilmprogramm überleitete, das direkt zum Auftakt mit linearen Zeitvorstellungen brach und dessen Filme durch Montage, Kamerabewegung, Umkehrung von Zeit oder andere filmische Mittel exemplarisch und zugespitzt demonstrierten, wie manipulierbar Zeit und deren Wahrnehmung ist.
Lange vor der HEIMAT-Chronik drehte Edgar Reitz zum Beispiel GESCHWINDIGKEIT. KINO EINS (1963), der ähnlich wie GO GO GO (1964) von Marie Menken das an Tempo zunehmende Großstadtleben der 1960er-Jahre dokumentiert. CEREAL / SOY CLAUDIA, SOY ESTHER Y SOY TERESA. SOY INGRID, SOY FABIOLA Y SOY VALERIA (2022), eine rauschhaft und fragmentarisch montierte Smartphone-Archiv-Collage der österreichischen Künstlerin Anna Spanlang, demonstrierte neben der technischen Entwicklung auch die Intermedialität und Überlappung von Zeitebenen, indem die Regisseurin durch die von ihr selbst über zehn Jahre lang gesammelten Clips wie durch eine Videogalerie skippt. Viktoria Schmid kehrt in W O W KODAK (2018) mit rückwärts abgespieltem Found Footage der Sprengung der Kodak-Zentrale schließlich die Zeit um. Die direkt darauffolgende Analogarbeit NYC RGB (2023, R: Viktoria Schmid) beschäftigt sich mit historischen Farbfilmverfahren und erkundet die Effekte der Dreifachbelichtung, durch die sich nicht nur drei Farben, sondern auch drei Zeitlichkeiten auf das Filmmaterial und die Leinwand schichten. Larry Gottheims abschließender FOG LINE (1970), bestehend aus einer einzigen 11-minütigen Einstellung einer Landschaft im Nebel, bremste diesen einführenden Block angenehm aus und schulte Geduld und Blick durch diese ungewöhnliche Seherfahrung.
Das Kurzfilmprogramm unterstrich so die Fähigkeit des zeitbasierten Mediums Film, Zeit in Einzelbilder zu unterteilen, als Einheit oder Fluss zu präsentieren und dokumentierte mediengeschichtlich den Wechsel von 16mm-Analogfilm und Aufzieh-Bolex hin zu digitalen Bildern. In der experimentellen Bildsprache und Montage veranschaulichten sich so die filmischen Mittel, mit denen Zeit beschleunigt, gerafft, geschichtet, wiederholt und gedehnt werden kann, womit sich der Kreis zum Titel von Kochs Vortrag schloss.
2. Aus einem Jahr der Nichtereignisse & Filmgespräch mit Ann Carolin Renninger
Ein Film wie eine Meditation ist AUS EINEM JAHR DER NICHTEREIGNISSE (2017) von Ann Carolin Renninger und René Frölke. Wir begleiten darin den knapp neunzigjährigen Bauern Willi durch den Lauf eines Jahres auf seinem Hof in Norddeutschland und passen uns seinem Rhythmus an: Tiere füttern, mit Nachbar:innen plaudern, ein Rundgang über den Hof mit dem Rollator, Abendessen, bei der „Tagesschau“ eindösen. Kurz: Wir sehen der Zeit sichtbar beim Verstreichen zu.
Im „Nichts passiert, aber die Zeit vergeht unaufhaltsam“ betitelten Filmgespräch berichtete die Regisseurin zunächst von ihrem persönlichen Bezug zu Willi: Sie sei in der Gegend aufgewachsen und oft an diesem schon damals charmant chaotisch wirkenden Haus und Hof vorbeigelaufen. Näheren Kontakt habe sie zu Willi aber als Kind und Jugendliche nicht gehabt. Irgendwann erfuhr sie, schon längst nicht mehr dort wohnhaft, dass Willi aufgrund einer Operation mehrere Monate seinen Hof verlassen musste. Diese Vorstellung – Willi ohne seinen Hof – schien ihr so absurd, dass sie mehr darüber wissen wollte. Hinzu kamen eigene Kindheitserinnerung und der Wunsch, diesen Menschen und seine Lebensumstände kennenzulernen und zu konservieren.
Birgit Kohler versuchte den Mitteln nachzuspüren, die das spezielle Zeiterleben im Film für Zuschauende bewirke. Schon die Grundkonstellation eines Menschen in seinem letzten Lebensabschnitt erzeuge ein Gefühl der Vergänglichkeit. Auch in der Verwitterung von Hof und Wohnung sowie in Vanitas-Motiven wie kaputten Uhren und überreifen Äpfeln erkannte Kohler diese Vergänglichkeit. Auch die Montage, die chronologisch dem Rhythmus der Jahreszeiten folgt, veranschauliche ihrer Meinung nach das Vergehen von Zeit. Wie so oft in der Filmkunst entpuppte sich einiges davon als Folge pragmatischer Überlegungen, anderes als purer, wenn auch glücklicher Zufall. Renninger berichtete, dass sie den Film in einer Sabbat-Phase ohne jegliche Förderung gedreht und somit auch keinerlei Zeitdruck verspürt habe. Sie habe den Luxus genossen, einfach Zeit mit Willi verbringen zu können und abzuwarten, was passiert. Sie habe viel beobachtet und bestimmte wiederkehrende Handlungen erst später gefilmt, denn stagen ließ Willi sich nicht. Überhaupt habe er sich für den Dreh, die Technik und den fertigen Film herzlich wenig interessiert. „Als der Film zur Berlinale eingeladen wurde, fand er das seltsam“, berichtete Renninger. Ein Zuschauer merkte an, dass zu dieser Lebenseinstellung auch die einzige Szene passe, in der – konträr zum Filmtitel – ein Ereignis (Willis Geburtstag, inklusive Feier und Verzehr einer Marzipantorte) stattfindet: Die Kamera dokumentiert fragmentarisch die Gespräche am Kaffeetisch, die nur gedämpft zu hören sind, Willi sitzt unbeteiligt, aber durchaus zufrieden mittendrin, ohne wirklich aktiv teilzunehmen.
Die vermeintliche Fragilität des verwendeten Super8- und 16mm-Materilals empfand Renninger als überdauernder, weil greifbarer und weniger flüchtig als digitale Formate. Auch die Schwarzblenden, überlagert vom fortlaufenden Ton, waren eher der Technik als einer bewusst ausgestellten Dehnung der Zeitlichkeit geschuldet, da „die Bolex nunmal nicht immer so lange durchhält, wie ein Gespräch dauert“, gab Renninger offen zu.
Das Publikum interessierte sich mehr für Willis biografische Details und wollte unter anderem wissen, warum die Außenwelt nur einmal in Form der „Tagesschau“ thematisiert wird. Hier breche Zeitgeschichte in Willis Universum hinein und helfe uns dabei, sich in der Erzählzeit zu verorten (Russlands Annexion der Krim 2014). Renninger argumentierte weiter, dass das Ansehen der „Tagesschau“ Teil von Willis Routine gewesen sei, er diese meist aber halb dösend verfolgte und sich darin vielleicht auch sein Gleichmut gegenüber der Weltpolitik ausdrücke.
Alejandro Bachmann wollte an dieser Stelle noch genauer auf Willis Zeit als Wehrmachtsoldat hinaus. Willis Erinnerung an die Kriegszeit blitzte laut Renninger nur selten in Gesprächen auf. Seine Flucht vor feindlichen Soldaten, bei der er in Italien schwimmend durch den Fluss Po entkam, sei für Willi aber dennoch prägend gewesen, auch weil es der einzige Auslandsaufenthalt seines Lebens gewesen sei. Nach seiner Zeit im Krieg, der Vergangenheit insgesamt oder seiner Biografie habe sie ihn bewusst nicht gefragt. Er selbst habe auch nicht darüber reden wollen. Eine wichtigere Rolle spielten laut Renninger Willis Tiere: Zwar sind die Hühner und Enten von Willis Versorgung abhängig, sie geben seinen Tagen aber auch eine Struktur und halten ihn in Bewegung und somit fit.
Ein abschließender Gedanke Renningers inspirierte weitere Überlegungen: Kinder empfänden Zeit ganz anders als Erwachsene, da sie noch kein lineares Verständnis von Zeit verinnerlicht hätten. Zeit stelle sich für sie nicht als Gerade, sondern mal als Kreis oder einander überlappende Blasen dar. Dieses (noch) flexible Zeitempfinden zu veranschaulichen, Zeit in Schleifen, Blasen oder Spiralen zu denken und darzustellen, vermag auch der Film.
3. Glossar
Mit Renningers Gedanken für ein kindliches Zeitempfinden jenseits konformer Vorstellungen ging es für die Teilnehmenden des Symposiums in den interaktiven Programmpunkt „Glossar“. Wie bei einem Speed-Dating diskutierten die Teilnehmenden hier mit wechselnden Gesprächspartner:innen Schlüsselbegriffe zum Symposiums-Thema. Alejandro Bachmann, Mirjam Baumert, Helan Darwish, Franca Pape, Elena Ubrig und Marja Vormann hatten dafür anhand einer Reihe gesichteter Filme, die nicht Teil des Symposium-Programms waren, vorab Begriffe wie „Melancholie“, „Rad“, „Zeitbild“ oder „Timecode“ zusammengestellt. Die Zusammenhänge stellten sich – zumindest in den Zweiergesprächen, die ich führte – mal mehr, mal weniger offensichtlich her. Wer mit einem Begriff nichts anfangen konnte, traf dabei hoffentlich auf ein Match mit jemandem, der oder die passende Assoziationen parat hatte. Die links und rechts aufgeschnappten Gesprächsfetzen verrieten, dass die Unterhaltungen auch abschweiften, dann aber, manchmal über wundersame Wege, doch zurück zum Thema führten: Die Plauderei über einen Fahrradunfall führte beispielsweise zu der Diskussion darüber, ob man ein gefährliches Erlebnis wie einen Unfall wirklich im Moment selbst in Zeitlupe ablaufen sieht oder ob die Erinnerung das subjektive Erleben in diese Vorstellung umformt und welche Rolle dabei die im Kino erworbene (stereotype) Vorstellung eines solchen Zeiterlebens spielt. Teilweise führten die Erkenntnisse auch darüber hinaus und mündeten in die Frage, wie der zeitliche Abstand zwischen Filmsichtung und der Erinnerung daran auch die aktuelle Filmkritik verändert habe. Denn während Filmkritiker:innen oder Theoretiker:innen wie Kracauer zu ihrer Zeit teilweise mit jahrelangem Abstand und aus dem Gedächtnis über Filme schreiben mussten, hat die Kritik heute die Möglichkeit, Szenen wiederholt anzusehen und genau zu analysieren. Das erhöht jedoch den Druck, keine Fehler zu machen, da alles direkt am Film selbst überprüft werden kann. Daraus ergab sich die spannende Frage, ob darin eine Ursache für die Konformität der Filmkritik liegen könnte, weil niemand einen Fehler machen will oder der unmittelbare Eindruck ein individuelleres Filmerlebnis hervorrufe.
Insgesamt hinterließ das Glossar den Eindruck, dass das Nachdenken über eine nur vermeintlich physikalisch klar definierte Einheit wie Zeit durchaus lohnt und schnell philosophische Dimensionen annehmen kann.
4. Hotel Monterey
Wie wichtig die erlebte Zeit ist, in der Zuschauer:innen Kino als kollektive Erfahrung teilen und sich ihr aussetzen, verdeutlichte die Vorführung von Chantal Akermans HOTEL MONTEREY. Der in einer Nacht 1972 in einem New Yorker Hotel gedrehte Stummfilm porträtiert ein Hotel von der Lobby bis zum Dach und besteht aus sehr langen Einstellungen, minimalen Kamerabewegungen in Form knapp dosierter Fahrten und Schwenks und kommt nahezu ohne Menschen und Handlung aus. Birgit Kohler erkannte in Akermans „minimalistischer Ortserkundung“ bereits die später typischen formalen Parameter und Kompositionen der damals erst 21-jährigen Autodidaktin. Das Filmen in Echtzeit und die Experimente in Dauer und Form führten hier gerade nicht dazu, dass die Zeit sprichwörtlich wie im Flug vergehe, sondern ihr Vergehen bewusst erlebt werde. Während des gesamten Screenings herrschte konzentrierte Stille im Saal, nur gebrochen durch den ein oder anderen verräterischen Atem, der ein Nickerchen des Sitznachbarn oder der Sitznachbarin andeutete.
5. Publikumsdiskussion
Birgit Kohler und Sven von Reden leiteten danach in die abschließende Diskussion des ersten Tages über, verbanden diese aber mit dem unmittelbaren Filmerleben. Von Reden erkannte in der Art, wie Akerman uns das Vergehen von Zeit veranschaulicht, die „vielleicht radikalste Form von Zeitlichkeit“. Die Reaktionen des Publikums waren gemischt: Ein jüngerer Zuschauer äußerte das Bedürfnis, über das Gesehene sprechen zu wollen, aber keine Worte dafür zu finden. Eine Zuschauerin lobte die „fantastische Stille im Kino“, während ein anderer Mann zugab, es „erschreckend langweilig“ gefunden zu haben. Michelle Koch ergänzte, dass das Motto des Symposiums „Doing Time“ im englischen Sprachgebrauch auch „Zeit absitzen“ bedeute, also auch in Bezug auf eine Haftstrafe gebraucht werde und hier für manche Zuschauer:innen vielleicht eine buchstäbliche Bedeutung bekäme, dass diese Erfahrung, wie sie nur im Kino und nicht vor dem heimischen Desktop möglich sei, sich aber lohne, weil sie etwas mit den Zusehenden mache, etwas in Bewegung setze.
Von Reden vermutete gar, dass der Slow-Cinema-Boom vor rund 15 Jahren nicht zufällig mit dem Achtsamkeits-Trend aufgekommen sei. Die grundsätzliche Frage, was denn Film und Fotografie nun genau in ihrer Zeitlichkeit unterscheide, beantwortete von Reden mit einem Edgar-Reitz-Zitat, der in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ danach gefragt wurde, was ein Foto und eine Filmaufnahme von einem (leblosen) Stein unterscheide: „Was wir mit dem Stein teilen, ist Zeitlichkeit. Und die sieht man nur im Film“.
6. SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE Helena Třeštíková
zur Tonaufnahme: Einführung zu PRIVATE UNIVERSE ...
Das Screening von Helena Třeštíkovás PRIVATE UNIVERSE leitete am Donnerstagabend den Wechsel von eher dem Slow Cinema zuzurechnenden Filmen zur dokumentarischen Langzeitbeobachtung ein.
Filmwissenschaftlerin Marion Biet führte zuvor in Leben und Werk der von ihr als „Meisterin des Langzeitdokumentarfilms“ vorgestellten tschechischen Regisseurin ein. Die 1949 geborene Třeštíková begleitete 1974 filmisch das letzte Schwangerschaftsdrittel einer Freundin und filmte dafür auch die Geburt – der Kurzfilm MIRACLES (WUNDER) entstand. Sie beschloss, das Leben des Kindes und der Familie weiter zu begleiten, was den Ausgangspunkt ihrer ersten Langzeitbeobachtung bildete, aus der 2011 PRIVATE UNIVERSE entstand. Insgesamt umfasst ihr Werk heute mehr als 50 Dokumentarfilme.
PRIVATE UNIVERSE kondensiert 37 Jahre im Leben einer Familie, mit deren erstgeborenem Sohn im Zentrum, auf 80 Minuten Filmzeit. Als Erzähler fungiert der Vater, der sich für seine Rückblicke am selbstverfassten Tagebuch orientiert.
7. Vortrag Marion Biet
SOUKROMÝ VESMÍR / PRIVATE UNIVERSE (CZ [1974–]2012). Der Langzeitdokumentarfilm als Archivarbeit der longue durée
zur Tonaufnahme des Vortrags...
Marion Biet, die sich in ihrer Dissertation mit Darstellungsformen des Lebens im Langzeitdokumentarfilm und speziell mit dem Werk der tschechischen Regisseurin beschäftigt, behandelte in ihrem Vortrag „Der Langzeitdokumentarfilm als Archivarbeit der longue durée“, mit dem sie den zweiten Symposiums-Tag eröffnete, das soziologische Interesse der Regisseurin an den zwischenmenschlichen Beziehungen sowohl zwischen als auch mit ihren Protagonist:innen, die praktischen Herausforderungen der Produktion eines Langzeitdokumentarfilms und die Archivarbeit an PRIVATE UNIVERSE. Biet betonte, wie wichtig der enge und kontinuierliche Kontakt mit den Protagonist:innen für ein solches Projekt sei. Třeštíková stehe für ihre Filme seit mehr als 30 Jahren in regelmäßigem Austausch zu rund 20 Menschen. Dies habe wiederum zu komplexen Beziehungen jenseits der Filme und auch zu Konflikten geführt, wie der Ausschnitt aus RENÉ (2008) zeigte.
Am Beginn einer solchen Langzeitbeobachtung stehe laut Biet keine These, sondern eine „Wette“ auf eine langfristige Zusammenarbeit mit den Menschen, die die Filmemacherin begleitet. Der Begriff der Wette – der zufälliger- wie passenderweise auch schon im Rahmen des Glossar besprochen wurde – wurde im anschließenden Gespräch kontrovers diskutiert. Alejandro Bachmann gab zu bedenken, es sei sowohl von der Filmemacherin als auch vom Publikum „zynisch“, sich auf diese Wette einzulassen, die nicht nur auf eine konsistente Zusammenarbeit, sondern auch auf einen dramaturgisch möglichst spannenden, womöglich von Widrigkeiten bestimmten Lebenslauf abziele. René Frölke drehte diese Argumentation um: Vielmehr ginge doch auch Třeštíková das Risiko ein, nicht zu wissen, ob die Protagonist:innen im Projekt blieben oder ausstiegen, und mache sich dadurch selbst angreifbar und verletzlich. Für ihn sei es ein gegenseitiges Einlassen. Außerdem müsse sich die Regisseurin auch selbst fragen „Habe ich Lust, da 30 Jahre lang hinzulatschen?“, so Frölke.
Auch das Machtgefälle zwischen der Regie und „normalen“ Menschen wurde angesprochen. Biet ergänzte, dass Třeštíková all ihren Protagonist:innen ein Vetorecht einräume, manche von ihrer Mitwirkung am Film profitierten, andere nicht. Die Obdachlose Katka aus dem gleichnamigen Film wurde beispielsweise als „Tschechiens prominenteste Obdachlose“ von der Boulevardpresse verfolgt; der Kleinkriminelle René habe den Ruhm hingegen nutzen können, um seine Bücher zu vermarkten. In einem „Deutschlandfunk“-Beitrag aus der Sendung „Fazit“ 2017 erklärte Třeštíková selbst, dass sie zu Marcela, der Protagonistin ihrer gleichnamigen Langzeitbeobachtung von 2006, noch immer täglich in Kontakt stehe, was ihr nicht leichtfalle, wozu sie sich aber moralisch verpflichtet fühle.
Aufschlussreich waren Biets Ausführungen zu den praktischen Produktionsbedingungen von Langzeitdokumentarfilmen. Aufgrund der Unsicherheit der Dauer des Projekts falle meist viel Material an. Dieses müsse aber nicht nur über lange Zeitspannen gelagert, sondern auch archiviert werden, wozu eine sorgfältige Sortierung und Katalogisierung gehöre. Diese vorausschauende Planung müsse außerdem unter Berücksichtigung des technischen Wandels stattfinden. Im Falle von Třeštíková bedeutete das 1995 den Wechsel von 16mm-Analogfilm zu Video. All das müsse sich schließlich zu einem narrativ und ästhetisch stimmigen Ganzen zusammensetzen lassen.
Am Ende der Diskussion zeigte sich Eva Königshofen „extrem irritiert“ davon, wie oberflächlich, ohne historischen Kontext und heteronormativ PRIVATE UNIVERSE das vermeintlich gute Leben – ein Kreislauf aus Heirat, Ehe, Geburt der Kinder, Erziehung, Geburt der Enkel usw.– als ultima ratio darstelle. Biet bestätigte, dass das Genre der Langzeitbeobachtungen insgesamt sehr heteronormativ sei und es nur wenige Ausnahmen von dieser Regel gebe.
8. Über die Jahre – Leben, Arbeit und Wandel in Wittstock
Werkstattgespräch mit Volker Koepp entlang von Ausschnitten aus seinem siebenteiligen Wittstock-Zyklus (DDR 1975 – DE 1997)
Weniger bürgerlich fällt der insgesamt siebenteilige Wittstock-Zyklus aus, der zwischen 1975 und 1997 entstand. Ursprünglich nicht als Langzeitbeobachtung geplant, hatte der damals erst 30-jährige Regisseur Volker Koepp eher eine Momentaufnahme aus dem Leben der jungen Textil-Arbeiterinnen des VEB Obertrikotagenbetrieb „Ernst Lück“ Wittstock/Dosse nordwestlich von Berlin im Sinn, als er für MÄDCHEN AUS WITTSTOCK erstmals vor Ort filmte. Stattdessen kam er bis 1997 immer wieder, vier Kurz- und drei lange Dokumentarfilme entstanden und begleiteten nebenbei die Wendejahre im Osten.
Nachdem diverse Ausschnitte aus dem gesamten Zyklus gezeigt wurden, fragte Moderator Sven von Reden den inzwischen rund achtzig Jahre alten Koepp, ob er heute beim Anblick der Bilder eine gewisse Melancholie empfinde. Koepp reagierte lakonisch: „Man sieht dem Tod bei der Arbeit zu.“ Koepp wusste interessante Details zu ergänzen. Zum Beispiel, dass sich die späteren Protagonist:innen Elsbeth („Stupsi“), Renate und Edith erst allmählich als solche herauskristallisierten, sein Team nach dem ersten Film nicht mehr im Betrieb habe drehen dürfen und die Filme nie im DDR-Fernsehen gezeigt wurden, weil sie die sozialistische Arbeitsrealität angeblich als zu negativ darstellten. „Massenmedium ohne Massen“, kommentierte Koepp diese Tatsache. Auch mit dem Materialmangel im Sozialismus gingen er und sein Team seinerzeit pragmatisch um. Man habe solange gefilmt, bis das Filmmaterial verbraucht gewesen sei, danach sei man eben Pilze sammeln oder Schwimmen gegangen. Das habe aber auch zu einem anderen Verhältnis zum Ort und zu seinen Bewohner:innen geführt, Freundschaften hätten sich dadurch entwickelt. Man müsse die Menschen eben gernhaben, mit denen man dreht, sonst wolle man ja auch nicht immer wieder zu ihnen zurück. Filmisch plädierte Koepp aber dafür, dass eine Szene einen Anfang und ein Ende haben sollte und er mit der Materialfülle und dem Prinzip des „Laufen-Lassens“, die das digitale Filmen in Bezug auf Dokumentarfilme mit sich gebracht habe, nicht viel anfangen könne.
Insgesamt stellte sich in den Schilderungen Koepps das Projekt des Wittstock-Zyklus organischer, zufälliger und unberechenbarer dar als Třeštíkovás akribische Arbeitsweise. Während PRIVATE UNIVERSE den historischen Kontext größtenteils außen vor lässt, bricht die Zeitgeschichte 1989 über Wittstock hinein und lenkte auch die weitere Filmarbeit. Auf die Frage, warum er auch nach der Wende wiederholt nach Wittstock zurückgekehrt sei, antwortete Koepp: „Naja, ich hätte schon nach Honolulu gehen können. Aber da hatte ich ja schon die Leute in Wittstock, die ich wieder besuchen wollte, und so bin dann eben nicht dazu gekommen.“ Auf die Publikumsfrage, wie sich die Produktionsbedingungen für Dokumentarfilme seit Koepps Anfängen verändert hätten, antwortete er als Zeitzeuge und Realist: „Wenn man Dokumentarfilme machen will, muss man stur sein. Seit ich das mache, wurde der Dokumentarfilm auch mindestens schon dreimal totgesagt. Von dem, was ich von jungen Kollegen höre, scheint es heute aber noch schwerer und unübersichtlicher geworden zu sein.“
9. Dokumentarische Reflexionen normativer Zeitlichkeit
Filmgespräch zu RETTET DAS FEUER mit Jasco Viefhues und Natascha Frankenberg
Die bürgerliche, heteronormative Sichtweise aus PRIVATE UNIVERSE konterkarierte auch Jasco Viefhues‘ RETTET DAS FEUER, der die homosexuelle Community Deutschlands in den 1990er-Jahren sowie Werk und Leben des 1993 verstorbenen Fotokünstlers Jürgen Baldiga porträtiert. Der offensive und auch schwarzhumorige Umgang mit dessen eigener HIV-Infektion und späteren AIDS-Erkrankung nimmt auch das Trauma einer ganzen Generation in den Blick und lässt viele der Überlebenden dieser Zeit zu Wort kommen.
Im anschließenden Gespräch mit dem Regisseur versuchte Medienwissenschaftlerin Natascha Frankenberg bewusst nicht, eine queere Zeitlichkeit zu definieren. Sie arbeitete stattdessen in einer Einführung heraus, wo zeitliche Strukturen nicht mit heteronormativen Machtstrukturen verknüpft sind, wie sich in diese intervenieren lässt und welche bis dato unsichtbaren, queeren Erfahrungsräume sich durch diesen neuen Blick auf Zeitlichkeit möglicherweise eröffnen.
Eng damit zusammen hängt die Frage eines queeren Archivs. Der Wunsch, queere Erfahrungsräume zu bewahren, bildete vor zehn Jahren auch den Ausgangspunkt für Regisseur Viefhues. Er sammelte Audiointerviews von Zeitzeug:innen, auch um das Trauma seiner Community, das er nicht selbst miterlebt, das ihn als jungen, schwulen Mann aber bis heute geprägt hat, aufzuarbeiten und die Erfahrungen der Überlebenden für die Nachwelt festzuhalten. Er wollte so eine Leerstelle füllen. Im Rahmen dieser Arbeit traf er Menschen, die Jürgen Baldiga persönlich kannten und von ihm erzählten. Viefhues jobbte außerdem als Barkeeper in einer Berliner Bar, die auch Baldiga in den 1990ern besucht habe. Wäre er noch am Leben, hätten sich beide womöglich dort getroffen. Stattdessen kamen Freund:innen von Baldiga und so sei auch der Film zu ihm gekommen.
Viefhues berichtete auch von seiner Archivarbeit bei der Recherche zum Film im Schwulen Museum Berlin: Von den circa 15 Millionen Archivarien sei längst nicht alles katalogisiert und die Verschlagwortung heute überholt. Queere, trans- oder BPOC [Black Person of Color]-Perspektiven seien nicht auffindbar, weil es diese Begriffe zum Zeitpunkt der Katalogisierung noch nicht gegeben habe: „Obwohl es ein queeres Archiv gibt, findet man darin nichts“, stellte Viefhues resigniert fest. Das erinnert an eine Diskussion, die schon auf dem dfi-Symposium „PROZESSIEREN“ geführt wurde, in der es um die Sichtbarkeit von Frauen und nicht-weißen Menschen in Archiven ging und die essentielle Bedeutung für die Sichtbarkeit marginalisierter Menschen unterstrichen wurde.
Dies warf auch die Frage auf, wie solche Archive jenseits heteronormativer Familienstrukturen und biologischer Erben gestalten werden könnten, da queere Lebensläufe von diesen meist abgeschnitten sind. In der Diskussion wollte Marion Biet wissen, warum Baldiga im Mittelpunkt des Films stünde, in dem es eigentlich um ein Kollektiv oder eine Community ginge. Viefhues erklärte, er habe kein Biopic drehen wollen und verstehe RETTET DAS FEUER auch als Film, der sich einer chronologischen Darstellung verweigere und die Zeit eher als Kreisbewegung verstehe. Baldiga stünde deswegen im Mittelpunkt, weil er einer der wichtigsten Dokumentaristen seiner Zeit war. Er habe den eigenen körperlichen Verfall durch seine AIDS-Erkrankung fotografisch festgehalten und neben Fotos auch viele Tagebücher hinterlassen. Als weißer Cis-Mann innerhalb einer diskriminierten Community sei er trotzdem privilegiert und deswegen sichtbarer gewesen.
Außerdem war der Film für Viefhues und die daran beteiligten Gesprächspartner:innen auch eine Form der Trauerarbeit, da damals so viele Freund:innen in so kurzer Zeit starben, dass es unmöglich war, jede:n angemessen zu betrauern. Hinzu kam die gesellschaftliche Stimmung: Erkrankte wurden doppelt stigmatisiert, als schwule und als infizierte Männer. „Viele der Menschen, die wir auf den Fotos im Film sehen, sind heute tot“, konstatierte Viefhues, weshalb er seinen Film auch als ein Nebenprodukt der Erinnerungs- und Beziehungsarbeit mit Baldigas Zeitgenoss:innen verstanden wissen wollte.
10. „Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen.“
Birgit Kohler und Sven von Reden sprechen mit den Editoren René Frölke und Chris Wright über Zeit-(Ge)Schichten und die Zusammenarbeit mit Thomas Heise entlang von Ausschnitten aus MATERIAL (DE 2009) und HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT (DE/AT 2019)
Die Editoren René Frölke (MATERIAL) und Chris Wright (HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT) bemühten sich, die Leerstelle zu füllen, die der im Mai 2024 plötzlich verstorbene Thomas Heise hinterlassen hat. Die von ihnen montierten Filme wurden aufgrund ihrer Länge im Vorfeld des Symposiums im Filmhaus Kino gezeigt.
In der Diskussion ging es um die unterschiedlichen Zeitlichkeiten in beiden Filmen. Birgit Kohler, die das Gespräch gemeinsam mit Sven von Reden moderierte, hob vorab das „historiografische Vermögen“ von Heises Arbeiten insgesamt hervor, Zeitgeschichte mit individuell erlebter Lebenszeit zu verbinden. Frölke und Wright erzählten von der Zusammenarbeit mit Heise, zunächst ging es dabei um die Sortierung von dessen Material. Frölke erinnerte sich an die Organisation von Heises persönlichem Archiv, das sowohl aus Zeitungsartikeln als auch aus Filmbildern bestand. Private Zeitungsarchive waren in der DDR verboten, Heise archivierte dennoch alles, was ihm wichtig erschien. Seinen Film MATERIAL eröffnet er mit folgenden Worten: „Immer bleibt etwas übrig, ein Rest, der nicht aufgeht. Dann liegen die Bilder herum und warten auf Geschichte“ Frölke berichtete von den Schwierigkeiten, für die digitale Montage mittels AVID zuerst Heises VHS auf Mini-Disc überspielen zu müssen. Frölke erklärte, wenn Heise gemerkt habe, dass man im Material und Thema drin sei, habe man als Editor größtmögliche Freiheiten genossen.
Das bestätigte auch Chris Wright, der Heise als Mentor seines Regiedebüts mit Stefan Kolbe kennenlernte. Er erinnerte sich, dass Heise seinen Studierenden vor zwanzig Jahren immer geraten habe, bloß keine Filme über die eigene Familie zu drehen, weil dabei meistens Abrechnungen herauskämen. Daher war Wright überrascht, als Heise ihn als Editor für seinen eigenen „Familienfilm“ angefragt habe. Mit Selbst- und Familienzeugnissen ging Heise jedoch unsentimental um, behandelte diese schlicht als Material. Der Arbeitstitel „Verschwinden“ spiele zwar auf einige Todesfälle in Heises Familie in der Zeit an, in der das Treatment zu HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT entstanden sei, der Film stünde aber letztlich für das Gegenteil, das Label Trauerarbeit habe Heise vehement abgelehnt.
Konkret um die spezifische Zeitlichkeit in Heises Filmen ging es am Beispiel der Szene, in der wir ein „Writing in Progress“ sehen: Die Entstehung und wiederholte Korrektur eines Briefes, in dem Heises Großvater versucht, seine „Mischehe“ vor einem nationalsozialistischen Minister zu legitimieren. Der Brief wurde nie abgeschickt, aber die Zeilen sind immer wieder durchgestrichen und umformuliert worden, darüber ist ein Voiceover der Textfragmente zu hören, die einander überlappen. Ein Ringen nach den richtigen, womöglich lebenswichtigen Formulierungen. Wright attestierte Heise eine einzigartige Gabe, mit Text im Film umzugehen und durch Text allein eine kinematografische Ebene zu öffnen.
Er bezog sich dabei neben der erwähnten besonders auf die fast direkt daran anschließende, knapp 25 Minuten dauernde Sequenz, in der scheinbar nicht enden wollende Namenslisten deportierter Jüdinnen und Juden durch das Bild laufen. Aus dem Off liest Heise dazu selbst Briefe seiner Urgroßeltern Max, Elsa und seiner Urgroßtante „Peppi“ an Heises Großeltern vor, die berichten, wie sich ihre Lage zuspitzt, in ständiger Angst vor der eigenen Deportation. Bis die Namen der Verfasser:innen der Briefe schließlich selbst auf den Deportationslisten auftauchen und keine Briefe mehr kamen.
„Es ging ihm in dieser Szene darum, Geschichte am eigenen Leib erfahrbar zu machen. Ich fühle mich geehrt, diese Sequenz montiert zu haben“, so Wright.
Das Gespräch förderte auch immer wieder Anekdotisches zutage. Wright musste an offizielle DDR-Fernsehbilder der Demonstrationen 1989 denken, wo er zufällig Heise entdeckt habe, der eben nicht das große Ganze einzufangen versuchte, sondern mittendrin im Geschehen drehte: „Und er ist die ganze Zeit mitten in diesem Fernsehbild,
einfach als Störer, er stört das offizielle Bild. Und das ist Thomas' Rolle für mich.“ Kohler und Wright erinnerten sich auch lebhaft daran, dass HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT zur Berlinale eingeladen war und dann ohne Untertitel ankam. Eine englische Untertitelung lehnte Heise kategorisch mit dem Argument ab, nicht noch mehr Text im Bild haben zu wollen. Er habe darauf bestanden, dass Tilda Swinton seinen Kommentar auf Englisch für ein internationales Publikum einspreche. Allen sei klar gewesen, dass das nicht passieren wird, da Swintons Honorar 300.000 Euro betragen hätte. Am Ende stimmte Heise der Untertitelung zu, aber Frölke witzelte im Sinne Heises, falls jemand das Geld zufällig rumliegen habe, könnte man Tilda Swinton doch noch anfragen.
11. Abschlussdiskussion
Das Werkstattgespräch ging aus Zeitgründen direkt in die Abschlussdiskussion über,in der Birgit Kohler die gesehenen und besprochenen Filme des Tages mit Blick auf Geschichtsschreibung, Zeitgeschichte und das Verhältnis von individueller und großer Geschichte resümierte. Sven von Reden kam auf das im Verlauf des Symposiums so unbeliebt gewordene Konzept der Linearität zurück, um seinen Aha-Moment mit Koepp und der Langzeitbeobachtung zu fassen: „Wenn man lang genug hinguckt, dann kommt automatisch der Bruch. Man kann sich was wünschen, vorstellen, sonst was, das Leben kommt eh dazwischen und haut aus diesem Konstrukt raus.“
Die Diskussion schlug unerwartet noch den Bogen zu queren Archiven. Wright betonte, dass der meist als ostdeutsch gelabelte Heise seine Homosexualität nie in den Vordergrund gestellt habe. Aber wie die meisten schwulen Männer hinterlasse er keine Erben und es gebe daher auch keine Pläne zur Archivierung seines Werks. Die Notwendigkeit über andere Kontinuitäten als die Erbfolge der heterosexuellen Kleinfamilie nachzudenken, stellten sich hier noch mal dringlich.
Die „radikal unterschiedlichen Zeitmodelle“ in Heises Filmen (Alejandro Bachmann) wurden dann noch mehrfach gestreift und Zeitlichkeit wie Historiografie immer wieder entlang Heises Werk reflektiert, da er als Filmemacher, wie Kohler bemerkte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eher unübliche Konstellationen gebracht habe. Alexander Scholz fand, dass die in MATERIAL ausgestellte Zeitordnung sich als selbstreflexiv präsentiere und dadurch die Idee in sich trage, nicht nur der Film, sondern auch die Geschichte hätte anders verlaufen können. Dieses optimistische, sehr politische Moment verbinde alle Filme von Heise. Ein zugleich melancholischer wie tröstender Gedanke, mit dem das Symposium nach zwei dichten Tagen endete.
Pressestimmen DOING TIME
„Wie in Rom werden auch in Köln immer wieder im Untergrund Fundstücke geborgen, aus dem antiken Römerhafen bis in jüngere Zeiten. Jetzt war die Domstadt unter dem anspielungsreichen Titel „Doing Time“ Schauplatz einer Tagung, die sich „Dokumentarischen Operationen im Umgang mit Zeit“ widmet. Auf dem Seziertisch lag der Film, der als „zeitbasiertes Medium“ ja selbst der Vergänglichkeit unterliegt. Doch auch die äußere Zeit kommt in den Film. Und auch die Frage danach, wie die Zeit organisiert oder manipuliert wird.“
Silvia Hallensleben: „Vom Verschwinden und Festhalten“, in: taz, 13.01.2025
„Nicht nur „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ bietet sich an, um über das Verhältnis von Dokumentarfilm und Zeit nachzudenken; Heises gesamtes Werk widmet sich der Dokumentation von Zeitgeschichte. Und die ist, wie es in seinem Film „Material“ (2009) einmal treffend heißt, eben ein „Haufen“. Aufnahmen in Echtzeit, Raffungen und Streckungen, der Schnitt, Slow Cinema oder Langzeitdokumentationen: „Die Modulation von Zeit im Dokumentarfilm ist ein Mittel zur Erforschung der Realität“, brachte es Michelle Koch auf den Punkt, die das Symposium kuratierte und seit Anfang 2025 die neue Leiterin der Dokumentarfilminitiative (dfi) ist.“
Eva Königshofen: „Der Zeit auf der Spur“, in: Filmdienst, 28.01.2025
„Zeit ist eine physikalische Konstante, die wir mit technischen Mitteln präzise messen können. Sie ist aber auch eine zutiefst subjektive und relative Angelegenheit. Wenn Menschen über die Zeit an sich oder die Unendlichkeit als Extrem von Zeitlichkeit nachdenken, wird es erst philosophisch, bevor der Schwindel einsetzt. Dass es sich trotzdem lohnt, zwei Tage lang über Zeitlichkeiten nachzudenken, bewies am 9. und 10. Januar das Symposium der Dokumentarfilminitiative dfi im Filmbüro NW. Unter dem Titel „Doing Time. Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit“ beschäftigte es sich in Filmvorführungen, Gesprächen und Vorträgen mit der Bedeutung, mit Formen und Praxen von Zeitlichkeit rund um den Dokumentarfilm. Schwerpunkte bildeten dabei Genres wie Slow Cinema oder Langzeitbeobachtungen, Fragen zum Archiv oder zu queerer und non-linearer Zeitlichkeit.“
Maxi Braun: „Zeit-Fragen“, in: choices, 23.01.2025
„Zwei Tage lang ging es um Zeiterfahrung und Zeitwahrnehmung, die Inkorporation und Modulation von Zeit in Form und Inhalt im Dokumentarfilm und verschiedenen künstlerischen Ansätzen im Umgang mit Zeit, entlang verschiedener Kurz-, Mittellang- und Lang-(Dokumentar)filme und Werkstattgespräche. Zeit wird gedehnt, Langzeitbeobachtungen vis-à-vis ihrer Zeitlichkeit ästhetisiert, sie verändert den Blick auf Dinge und rahmt die wandelnden Geschwindigkeitsverhältnisse von sozialem Geschehen.“
Jonas Neldner: „Ein Raum für Zeit – das dfi-Symposium 2025“, auf: filmszene.koeln, 12.01.2025