Dokumentation

Umgang mit Protagonisten

Köln 10. Juni 2005

von Silvia Hallensleben

pdf Dokumentation Workshop

Für viele Dokumentarfilmer ist der Umgang mit den sogenannten ‚Protagonisten‘ ein zentrales Problemfeld der alltäglichen Arbeit. Im wachsenden Markt für dokumentarische Filme haben die mit menschlichen Helden – neben den Tierfilmen – den größten Anteil. Außerdem scheint sich in den letzten Jahren das über Jahrzehnte eingespielte Kräfteverhältnis zwischen Filmregisseuren/Produzenten und ihren Protagonisten zunehmend zu problematisieren, wie vor zwei Jahren prominent der Fall des französischen Dokumentaristen Nicolas Philibert zeigte, der – mitsamt seinem Team - von dem Lehrer George Lopez, dem „Hauptdarsteller“ des Films „Sein und Haben“ auf insgesamt über 300.000 € Schadensersatz wegen „Diebstahl geistigen Eigentums“ und „Verletzung des Rechts am eigenen Bild“ verklagt wurde.

Konsequent also, dass die Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW (dfi) einen im wesentlichen an die Filmemacher und Filmemacherinnen selbst gerichteten Workshop zum Thema „Umgang mit Protagonisten“ anbot, der sich allerdings hauptsächlich den vordringlichen juristischen Fragen des angesprochenen Verhältnisses widmete. (vgl. beiliegendes Material) Virulent sind dabei im Wesentlichen die Bestimmungen des „Rechts am eigenen Bild“ und „am gesprochenen Wort“, aber auch einige andere Rechte, besonders das Urheberrecht und Verwertungsrechte für Musik etc. haben zunehmende Bedeutung.

Anhand von vier Fallbeispielen wurden bei der Kölner Veranstaltung gemeinsam mit den Regisseuren und Regisseurinnen der Filme und dem Rechtsanwalt Christian Füllgraf Fragen durchgespielt, die in der alltäglichen praktischen Arbeit für Film und Fernsehen immer wieder auftauchen.

Die Fallbeispiele

„Golden Lemons“, D 2003, Regie: Jörg Siepmann, Köln
Sujet des Films ist die Beobachtung einer Tourneereise der deutschen Punkband „Die goldenen Zitronen“ als Vorprogramm für zwei andere Acts durch die USA. Dabei wollte der Filmemacher nach eigener Aussage ausdrücklichen keinen Konzertfilm drehen, sondern aus durchaus sympathetischer Perspektive die Ups and Downs des taffen Touralltags festhalten. Die Auswahl speziell dieser Band war dabei mehr dem Zufall geschuldet als speziellen Vorlieben des Regisseurs.

Ausgangssituation nach den Vorgesprächen vor Drehstart war freundliches – vertraglich aber nicht festgehaltenes – Einverständnis zwischen Filmemacher und Bandmitgliedern. Doch der fertig gestellte Film wurde von den “Goldenen Zitronen” abgelehnt. Die wenigen Kinoaufführungen waren begleitet von Auftritten der Bandmitglieder, die mit einer „Verlautbarung der Goldenen Zitronen zum unerfreulichen Kinostart von ‚Golden Lemons‘“ ein eigenes Statement zur Interpretation von Film und Ereignissen ablieferten.

Der Stand der Auseinandersetzungen ist noch offen, jedoch wird derzeit an einer geänderten Schnittfassung des Films gearbeitet. Jenseits des Rechtlichen ist dieser Fall vor allem deswegen interessant, weil in angesprochener „Verlautbarung“ (nachzulesen auf der Webseite www.goldenlemons.de) — medienhistorisch wohl bisher einmalig — die Arbeit eines Regisseurs und seines Filmteams von den im Film Dargestellten nicht nur moralischer, sondern auch dezidiert ästhetischer Kritik unterzogen wurde: Ein substantieller Angriff auf die künstlerische Autonomie der Produzenten.

„Was lebst du?“, D 2003, Regie: Bettina Braun, Köln
Ganz anders ist die Problemlage — und auch Reflektionsebene — bei Bettina Brauns Porträtstudie von vier (männlichen) Kölner Jugendlichen aus Migrantenfamilien.

Die Regisseurin hatte ihr Projekt mit langer Hand vorbereitet, erst ein halbes Jahr ohne Kamera immer wieder mit den Jugendlichen verbracht. Beim Dreh dann gab es verbindliche Abmachungen mit den Jugendlichen, gegenseitiges Vertrauen war zentraler Bestandteil der Arbeit. Dabei betrafen die Verabredungen teilweise Selbstverständliches, wie die Tatsache, dass illegale Aktivitäten der Jugendlichen im Film nicht auftauchen, teilweise aber auch spezifische Wünsche, die für andere kein Problem sind, wie nicht mit Zigarette dargestellt zu werden. Knackpunkt waren dabei immer wieder die Familien der Jungs.

In einem Punkt hat sich Bettina Braun nach langem zähen Ringen durchgesetzt: Ihrem Wunsch, mit den Jugendlichen nach Hause zu gehen und auch dort zu drehen. In einem anderen Punkt, wo sie sich nicht durchsetzen konnte, war auch die Dramaturgie und der „Wahrhaftigkeitsanspruch“ des Films als Ganzes betroffen. So kommen Mädchen – aus eben den familiären Gründen - in dem Film praktisch überhaupt nicht vor, im Leben einiger der Jugendlichen spielen sie schon eine Rolle. Die Filmregisseurin versucht, diesen Mangel auszugleichen, indem sie das Problem der Nichtdarstellbarkeit in einer Szene offen thematisiert. Auch sonst erzählt der Film das prekäre Verhältnis zwischen Regisseurin und Protagonisten immer mit. Wichtiges Moment dabei ist auch die Schwangerschaft der Regisseurin, die – mit Kommentaren, Bauchanfassen etc. - es den Jugendlichen erlaubt, ihrerseits auf die Filmemacherin zuzugehen. Dazwischen gibt es auch immer wieder im Film sichtbare Momente, wo die Jungs die Regisseurin bitten, die Kamera abzuschalten und sie das selbstverständlich und ohne Tricks auch tut.

Als junge, durchaus medienkompetente Männer – alle machen Musik, zwei von ihnen beginnen während der Dreharbeiten eine Schauspielausbildung - wissen die Protagonisten durchaus, sich darzustellen - und meinen auch zu wissen, wie man Filme macht. Immer wieder nahmen sie während der Dreharbeiten auch kritisch zu ästhetischen und inhaltlichen Entscheidungen der Filmemacherin Stellung. In den Film Eingang gefunden hat das – quasi symbolisch - nur an einer Stelle.

Ins Konzept der Regisseurin von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit gehört auch, dass sie mit den Jugendlichen eine gemeinsame
Rohschnittabnahme gemacht hat, wobei kleine Änderungen bezüglich der Darstellung eines Vaters gemacht wurden.

Lebensunwert. Paul Brune – NS-Psychiatrie und ihre Folgen, D 2005, Regie: Robert Krieg und Monika Nolte
Ein Film über einen Mann, dessen Karriere als Gymnasiallehrer in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft durch eine NS-Psychiatrie-Akte aus seiner Kindheit verhindert wurde. Damals hatte er die Euthanasie- Programme überlebt und verschiedene Institutionen durchlaufen. Erst vor kurzem wurde er endlich auf eine Initiative der Grünen in NRW hin rehabilitiert.

Der Versuch der Dokumentaristen Robert Krieg und Monika Nolte Paul Brune und seine Geschichte zu porträtieren, mißlingt fast. Denn Brune ist misstrauisch geworden durch die Erfahrungen mit anderen Medien. Außerdem hat er Angst, allzu direkt mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Beim ersten Drehtermin vor einer Dortmunder Anstalt, wo er früher Schreckliches durchgemacht hatte, verweigert der Protagonist die weitere Mitarbeit an dem Projekt. Auch der Vorwurf, als „politisches Feigenblatt“ missbraucht zu werden, steht im Raum. Danach ist er für den Regisseur nicht mehr erreichbar, bis Robert Krieg einen Weg findet, Bewegung in den starren Verlauf zu bringen. Kommunikatives Hilfsmittel ist dabei die Einschaltung eines neutralen – und beiden Seiten bekannten und vertrauenswürdigen — Mediators, eines Rechtsanwalts, der zwischen dem Filmemacher und dem Protagonisten vermittelt. Am Ende war das ausschlaggebende Argument dabei vor allem die „politische Pflicht“, die Öffentlichkeit über die schier unglaublichen Zustände in der NS-Psychatrie und den politisch-moralischen Sachverhalt des „Fortlebens“ der NS-Akten in der Bundesrepublik aufzuklären.

Delphin-Kinder (Doku-Soap 5 x 26 Minuten), D 2005, Regie: Claudia Richarz. Produktion beider Serien: Carl-Ludwig Rettinger, Köln
Bei den „Delphin-Kindern“, die behinderte Kinder mit ihren Familien zu einer speziellen Therapie nach Spanien begleitet, hatte ein Elternpaar sein schriftliches Einverständnis während der Dreharbeiten zurückgezogen. Der Vertrag hätte in diesem Fall eigentlich eine 1.000 € Vertragsstrafe für Nichterfüllung auferlegt. Angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse und des sensiblen Stoffes verzichtete die Produktion aber auf die weitere Teilnahme der Protagonisten wie auch auf Regressforderungen, obwohl bereits vier Drehtage in Spanien angefallen waren.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion wurde von allen Beteiligten eine zunehmende Verrechtlichung der Situation in den letzten Jahren konstatiert, die mehr und mehr auch durch den Wunsch der Sender nach Absicherung und vorformulierte Standard-Einverständniserklärungen geprägt wird. Empfohlen wurde eine solche vertragliche Vereinbarung für alle Fälle - nicht nur aus rechtlichen Gründen, sondern auch, um bestimmte vielleicht heikle oder nebensächlich scheinende Fragen schon im Vorfeld zu klären. Aber nicht immer ist das unbedingt produktiv: Für Bettina Braun etwa war es ein Problem, dass die rechtliche Eindeutigkeit der erforderlichen Erklärung unnötiges Misstrauen bei ihren Protagonisten hervorrufen würde, die mit Behörden und Formularen nur schlechte Erfahrungen gemacht haben. Also musste sie versuchen, diese in einem möglichst günstigen Moment einzubringen, was auch gelang.

Außerdem entbindet natürlich auch eine gegebene Einverständniserklärung nicht davon, sich um die inhaltlichen und menschlichen Aspekte des Verhältnisses zu den Protagonisten zu kümmern. Denn wie sich auch bei den hier erörterten Fallbeispielen schnell zeigt, geht die Problematik des Verhältnisses zwischen Filmregisseuren / Produzenten und ihren Darstellern weit über die juristische Dimension hinaus. Kein Wunder, schließlich geht es hier ja ganz praktisch um ein zentrale Beziehung sowohl in der Produktion wie auch für die Aussage der meisten Dokumentarfilme. Doch auch theoretisch-begrifflich werden in dem Verhältnis Produzent - Akteur bestimmende Grundlagen des dokumentarischen Selbstverständnisses virulent, die hier nur angerissen werden können: Fragen nach dem Status der abgebildeten Realität. Fragen nach der Form der Kommunikation, die stattfindet und den Macht- und Hierarchieverhältnissen, die in ihr herrschen. Fragen nach der künstlerischer Verantwortung und nach der Autorschaft.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Beziehung zu den Protagonisten viel Raum einnimmt, besonders in den Überlegungen jener Dokumentaristen, die das Filmemachen als Akt sozialer Kommunikation begreifen. Und auch in der öffentlichen kritischen Debatte stehen Fragen nach der Auswahl und Repräsentanz von Protagonisten, der Zusammenarbeit mit ihnen und ihrem eventuellen „Missbrauch“ immer wieder im Zentrum. Eine systematische Beschäftigung mit dem Thema steht aber bis jetzt erstaunlicherweise noch aus. Deshalb sollen hier einige Überlegungen formuliert werden, die vielleicht zu einer weiterführenden Beschäftigung hilfreich sein können.

Zum Konzept des Begriffs

Wie Petra Schmitz von der dfi zu Beginn des Workshops berichtete, ist sie in der Vorbereitungsphase dieser Veranstaltung mit kritischen Einwürfen und Emails bombardiert worden wie bisher noch nie. Der Grund scheint banal: Es war das Wort „Protagonist“ im Titel, das im alltäglichen sprachlichen Umgang mit Dokumentarfilmen verbreitet ist, vielen der FilmemacherInnen selbst aber als anstößiges ‚Unwort‘ oder ‚zu funktionalistisch‘ aufstieß. Manche würden lieber von den „Darstellern“, andere von den „Menschen vor der Kamera“oder „meinem Gegenüber“ sprechen.

Offensichtlich wurde hier ein Punkt getroffen, der Selbstverständnis und sprachliche Sensibilität der FilmemacherInnen in besonderer Weise reizt. Dabei ist die Kritik am Begriff des Protagonisten vermutlich erstmal als Kritik an einer um sich greifenden Haltung gemeint, die Protagonisten als beliebige personalisierte Platzhalter in Filme zu den verschiedensten Themen einsetzt. Doch auch das Wort selbst weckt mit seiner sprachlichen Herkunft Konnotationen. Es kommt aus dem Griechischen und würde übersetzt „erster Kämpfer“ lauten. In der griechischen Tragödie war der Protagonist die Hauptperson (nicht -darsteller) des Stückes, dem dann der Deuteragonist etc. folgte. In ähnlicher Bedeutung wurde der Begriff dann in die allgemeine Analyse narrativer Kunstformen und des Kinos übernommen. Bei der Übertragung auf dokumentarische Filme wurde der „Protagonist“ dann von der Hauptperson auch gleich zum Hauptdarsteller in Personalunion:

Dass ein solcher an der dramatisch-narrativen Figur des „Helden“ orientierter Begriff besonders kontraproduktiv ist bei solchen Dokumentaristen, die ihr Handwerk emphatisch als eine Form der Begegnung zwischen Filmemacher und Welt verstehen, liegt auf der Hand. So spricht Jürgen Böttcher etwa von den „Menschen in meinem Filmen“. Doch je nach dokumentarischem Konzept ist auch von Darstellern, Mitwirkenden, Menschen, Schauspielern, oder – im eher journalistischen Kontext – Informanten die Rede. Dabei sind die Differenzen zwischen den Praktikern und denen, die ihr Tun wissenschaftlich beschreiben, naturgemäß beträchtlich. Während John Grierson etwa von “Helden“ und „Originaldarstellern“ sprach und Klaus Wildenhahn mit der Rede von den „Betroffenen“, die im Dokumentarfilm „zu Wort kommen“, emphatisch Authentizität und Unmittelbarkeit propagiert, hat sich in der Filmwissenschaft der Begriff der „sozialen Akteure“ eingebürgert, um ganz im Gegenteil deutlich zu machen, dass eben auch der Protagonist nicht ist, sondern agiert, wenn auch in eigener Sache.

Zur Geschichte der Protagonisten im Dokumentarfilm

Seit dem Beginn der Filmgeschichte spielen im Kino neben Gegenständen und Tieren Menschen eine tragende Rolle. Dabei ist dem Blick des frühen Kinos der Status seiner Akteure recht gleichgültig, ob das die Arbeiter des Fabrikdirektors Lumière sind, Artisten, Wilde, oder die vielen gekrönten Häupter, vor denen die Kamera aufgestellt wurde. Der erste Star des frühen Kinos wurde Robert Flahertys „Nanook of the North“ (1923), der nicht nur seinen Regisseur sondern auch den Helden in den USA und Europa berühmt machte. „Nanook“ wurde zum Pionier eines neuen dezidiert dokumentarisches Genres, zum Wegbereiter eines Schwungs ähnlich romantisierend ethnographischer Filme, die ihre Helden beim dramatischen Überlebenskampf gegen Umwelt und Natur zeigten. Spätestens hier aber war der dokumentarische Akteur auch zum Selbst“darsteller“ geworden, der idealisierte Szenen des eigenen und des Stammeslebens vergangener Zeiten für den Film nachspielt.

Der Weg von „Nanook“ zur „Geschichte vom weinenden Kamel“ ist nicht so weit wie die Spanne von Formen, die noch heute unter dem Genre des Dokumentarischen subsumiert werden: Von der „teilnehmenden Beobachtung“ bis zum Zeitzeugen-Interview, vom Einzelporträt zur Doku- Soap ist die Grenze zum Journalistischen wie zum Narrativen dabei immer wieder fließend. Für die Akteure liegt der größte Unterschied zum Spielfilm wohl darin, dass es dort klar formulierten Arbeitsbeschreibungen gibt, die nicht nur Honorare, sondern auch Aufgaben, Ansprüche und Rechte der Partner im Detail regeln, während im Dokumentarfilm meist vieles im informellen Bereich gelassen wurde. In diesem Punkt findet allerdings derzeit wohl ein grundsätzlicher Umbruch statt. Dennoch dürfte es auch in Zukunft – jedenfalls wenn man die Spontaneität des Genres in seiner bisherigen Form im Ansatz erhalten will - schwer sein, einem sozialen Akteur vertraglich vorzuschreiben, welche Aktionen und Pointen er genau zu liefern hat, geschweige denn, diese dann einzuklagen.

Der wesentliche Grund für diese so wenig verrechtlichten Verhältnisse liegt weniger darin, dass die sozialen Akteure nur sich selbst spielen, als in der traditionellen Verwurzelung dokumentarischen Filmschaffens in den sozialen Bewegungen; einer Verwurzelung, die das Filmemachen als Bündnis von Filmemachern und Protagonisten im Dienste der gemeinsamen Sache verstand. Für das Ausagieren gegensätzlicher materieller Interessen ist in diesem Anspruch kein Platz, der das Filmemachen im Wesentlichen als gemeinsames Projekt versteht, das in einem kommunikativen Raum außerhalb der geltenden sozialen und ökonomischen Hierarchien stattfinden soll, der durch Geldzahlungen nur zerstört würde. Informell fließen natürlich auch in Dokumentarfilm Geldströme. Und auch hier gibt es durchaus verschiedene Möglichkeiten des Handelns: Die eher abstrakt idealistische Position etwa von Nicolas Philibert, der argumentiert, dass er schon deshalb keine Honorare an seine Darsteller zahlen würde, weil dadurch unerwünschte Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen würden. (Eine Unkostenerstattung wurde auch hier übrigens trotzdem gezahlt.) Ein ganz anderer – und m. E. transparenterer - Umgang mit diesem Problem ist die Praxis des britischen Amber-Film-Kollektivs, bei Spiel- wie auch bei Dokumentarfilmproduktionen allen Beteiligten das gleiche Honorar auszahlen. Nicht erst seit heute gibt es auch Filme, die diese Ebene ihrer eigenen materiellen Realität miterzählen. Ein aktuelles Beispiel wäre hier Stanislav Muchas „Die Mitte Europas“, der in einer Seqenz auch die mürrischen Geldforderungen eines seiner osteuropäischen Protagonisten in Szene setzt. Und in Peter Otts „Jona (Hamburg)“ ist ein ganzer Erzählstrang den Verhandlungen zwischen dem Protagonisten - einem Junkie - und dem Regisseur um ein angemessenes Honorar gewidmet

Aktuelle Situation

Prinzipiell ist der Status der sozialen Akteure seit Flaherty sehr ähnlich geblieben. Geändert aber hat sich im Konkreten dennoch einiges. Dabei haben diese Änderungen einerseits mit der Integration der früheren ökonomischen Nische Dokumentarfilm in den globalen Medienmarkt zu tun, andererseits mit Entwicklungen in diesem Markt und den Medien selbst, die den Status von Akteuren und Wirklichkeit neu bestimmen.

Es ist noch nicht so lange, dass - vor allem im globalen Fernsehmarkt - auch im Dokumentarfilm viel Geld zu machen ist. Durch diese Profitmöglichkeiten, die auch Erfolgsdruck bedeuten, wird auch das Verhältnis von Filmemachern und Protagonisten auf eine neue verschärfte Grundlage gestellt. So ist es kein Zufall, dass etwa in den USA, wo diese Integration in den Markt viel weiter fortgeschritten ist, der Status der sozialen Akteure in den letzten Jahren sehr viel deutlich als bei uns in den Vordergrund von Konflikten und Auseinandersetzungen gerückt ist, wie etwa ein Symposium am Rande des Tribeca Film Festivals im Mai 2004 zeigte, das sich mit ethischen Fragen des Dokumentarfilms im Kontext zunehmender ökonomischer Erfolge beschäftigte.

Der ökonomische Erfolgsdruck der Produzenten pflanzt sich auf die Protagonisten fort, deren Funktionieren einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen liefert. Außerdem weist besonders auch die zunehmende Emotionalisierung und Narrativisierung des Genres den Protagonisten eine neue bedeutende Rolle zu. Wer einen emotional aufrührenden Film erzählen will, braucht Charaktere, die diese Emotionen nicht nur leben, sondern auch lebendig und mitreißend darstellen können Ein guter Charakter kann einen Film zum Erfolg machen (was wäre Volker Koepps „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ ohne den Charme seiner Akteure?), ein paar Langeweiler können ihn killen. Wie Aelrun Goette es in ihrem Text im Workshop-Reader „Du musst deine Protagonisten lieben“ ausdrückt: „Wenn ich Personen in den Mittelpunkt stelle, die keine (visuelle) Präsenz haben, bin ich verloren“.

Eine Reaktion auf dieses Risiko, das menschliche Protagonisten für die Produzenten von Dokumentarfilmen bedeuten, ist es, ihre Präsenz durch Formatisierungen und filmische Kontextualisierung so einzubinden, dass die emotionale Wirkung nicht mehr von den Protagonisten selbst kommt, sondern aus dem Schnitt, der Begleitmusik etc. resultiert. Beispiel: Guido Knopp oder Spielberg-Dokumentationen.

Eine andere Möglichkeit ist, die Protagonisten nach ihrem Schauwert auszusuchen: Telegenität wird zu einem immer wichtigeren Auswahlkriterium: Die sozialen Akteure müssen nicht nur wahrhaftig sein, sondern auch noch natürlich spontan und originell erscheinen. Ganz neu ist natürlich auch das nicht: Schon Flaherty hat seine Darsteller gecastet, allerdings damals nich nach Kriterien der emotionalen Tele-Tauglichkeit, sondern danach, ob sie möglichst typische und kompetente Vertreter ihrer Ethnie zu sein schienen.

Solche Kollektivismen sind längst der individuellen Selbstvermarktung auch der eigenen Person gewichen: Natürlich wissen auch die potentiellen Darsteller um die Bedeutung ihrer Figuren und Geschichten und versuchen, sich möglichst interessant zu machen. So berichtete im Workshop Detlev Gumm, Ko-Regisseur der Langzeitstudie „Berlin-Bundesplatz“, wie einzelne der Protagonisten die Filmemacher mit spannenden Geschichten zum Weiterdreh locken wollten, die ihnen angeblich zugestoßen waren. Aber das sind ja fast schon Geschichten aus einer gemütlichen Vergangenheit. Denn natürlich bleibt auch das Verhalten der sozialen Akteure von dem neoliberalen Vermarktungswahn nicht unberührt, der von uns fordert, dass wir auch die eigene Person als Ware täglich zum Höchstgebot anbieten. Auch die Geschichten besonders der amerikanischen Filme werden ja meist in ihrer Grundstruktur auf meist irgendeine Art von Wettkampf oder Konkurrenz zusammengeschnitten. Da ist es eigentlich nur konsequent, dass auch ihre Darsteller um Geld und Aufmerksamkeit buhlen. Und wenn man bei Big Brother oder einer Casting-Show Millionen ergattern kann, warum dann für einen Dokumentarfilm umsonst arbeiten?

In einer Gesellschaft, in der alles seinen Preis hat, bleibt auch der Dokumentarfilm keine Enklave. Es gibt Urheberrechte an Gebäuden, Tieren, Sätzen, Farben und Genen: Warum eigentlich nicht am Ausdruck der eigenen Person? Der Rechtehandel blüht wie noch nie. Fotografen müssen dafür bezahlen, dass sie Landschaften fotografieren. In der medialen Praxis wird die Grenze zwischen PR und künstlerischer Leistung permanent neu ausgehandelt (Muss die Zeitschrift für das Star-Foto auf der Titelseite zahlen – oder wird sie im Gegenteil dafür bezahlt dass sie es abdruckt?). Warum sollte das ausgerechnet im Dokumentarfilm anders sein? Natürlich gibt es immer für jeden Filmemacher auch heute noch die Möglichkeit, gegen den Strom zu agieren und ganz bewusst auf Gegenkonzepte und alternative Produktionsformen zu setzen. Die Analyse des sozialen und ökonomischen Kontextes, in dem man agiert, ist davon ein notwendiger Teil. Die Naivität der frühen Jahre ist definitiv vorbei.

Literatur

Wie oben schon angedeutet, ist das Thema in der Literatur eher randständig behandelt, jedenfalls als systematische Fragestellung. Wenn überhaupt, dann tauchen Überlegungen zu Protagonisten in Texten zum ethnographischen oder anthropologischen Film auf, die dem Verhältnis zum fremden Objekt der Beobachtung naturgemäß großen Stellenwert beimessen. In einigen neueren US-amerikanischen Veröffentlichungen sind Fragen zum Umgang mit Protagonisten auch – meist eher als praktische Hinweise - unter dem Aspekt der „Ethik“ subsumiert.

Timothy Ash: The ethics of ethnographic film-making, in: Peter Ian Crawford, David Turton: Film as Ethnography, Manchester & New York 1992, Manchester University Press, p. 196 – 204.

Ilisa Barbash; Lucien Taylor: Cross-Cultural Filmmaking: A Handbook for Making Documentary and Ethnographic Films and Videos. Berkeley 1997, University of California Press. Kapitel: People, Rapport, Ethics und Reciprocity.

M. Friedrich, A. Hagemann-Doumbia et al (ed.): „Die Fremden sehen. Ethnologie und Film. Katalog zur Filmreihe des Filmmuseums im Münchener Stadtmuseum. Januar mit April 1984.

Larry Gross, John Stuart Katz, Jay Ruby (eds.): Image Ethics. The Moral Rights of Subjects in Photographs, Film and Television. New York 1986, Oxford University Press.

Bill Nichols: Representing Reality. Bloomington 1999, Indiana University Press.

Vivian Sobchack, „Inscribing Ethical Space: Ten Propositions on Death, Representation, and Documentary, in: „Quarterly Review of Film Studies 9, no. 4 (1984), 283-300.

Alan Rosenthal (ed.): New Challenges for Documentary, Berkeley &Los Angeles 1988, Berkeley University Press. Darin besonders die Aufsätze von Brian Winston: The Tradition of the Victim in Griersonian Documentary, p. 269 – 286, und Calvin Pryluck: Ultimately We Are All Outsiders: The Ethics of Documentary Filming, p. 255 - 268

Am meisten Material findet sich aber in verstreuten Äußerungen einzelner Dokumentaristen zu ihrer Arbeitsweise.

Eine Fundgrube sind hier die beiden von der Dokumentarfilminitiative herausgegebenen Bände mit Gesprächen mit deutschsprachigen
Dokumentaristen:

Gabriele Voss (ed.): Dokumentarisch Arbeiten. Christoph Hübner im Gespräch mit Jürgen Böttcher, Richard Dindo, Herz Frank, Johan van der Keuken, Volker Koepp, Peter Nestler, Klaus Wildenhahn. Berlin 2. Auflage 1998. Band 2 der Reihe „Texte zum Dokumentarfilm“.

Gabriele Voss (ed.): Ins Offene – Dokumentarisch Arbeiten 2. Christoph Hübner im Gespräch mit Reni Mertens, Walter Marti, Egon Humer, Hans-Dieter Grabe, Thomas Imbach, Elfi Mikesch, Michael Pilz. Berlin 2000, Band 7 der Reihe „Texte zum Dokumentarfilm“.

aber auch:

Cornelia Bolesch (ed.): Dokumentarisches Fernsehen. Ein Werkstattbericht in 48 Porträts. München 1990. Paul List Verlag.