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Dokumentarfilme für Kinder

RAUS AUS DER NISCHE IN DER NISCHE

Perspektivisches Fazit des Europäischen Symposiums vom September 2001

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PDF Fazit Symposium "Dokumentarfilme für Kinder"

21. - 23. September 2001, Köln

Kinderfilme sind eine Nische. Dokumentarfilme für Kinder sind eine Nische in der Nische. Der Versuch, die Filme aus dieser Nischennische herauszuholen, ist, so war auf einem Podium zu hören, angeblich "selbstmörderisch". Wenn wir statt dessen lieber von Tollkühnheit sprechen, klingt das nicht nur weniger abschreckend, sondern nach Herausforderung.
Das Europäische Symposium "Dokumentarfilme für Kinder" hat Mittel und Wege aufgezeigt, wie man Redakteure, Produzenten, Regisseure und Verleiher ermutigen kann, das tollkühne Unternehmen zu wagen.

Die folgenden Thesen sollen konstruktiv dazu anregen, dokumentarischen Formen für Kinder eine Chance zu geben.

1. Das Fernsehen

Die Bedingungen des Marktes und die dokumentarische Form für Kinder, heißt es, vertragen sich nicht. Der europäische Vergleich hat gezeigt, dass das nicht stimmt. In anderen Ländern sind Dokumentationen für Kinder in vielfältigster stilistischer und thematischer Form fest etabliert. Auf dem Symposium zu sehen waren Dokumentarfilme mit politischen und Alltagsthemen, witzige und traurige Filme, Docu-Soaps, Tiere spielen immer eine Rolle, auch Magazinbeiträge. In einer lebendigen Kinderfernsehlandschaft wie der deutschen muss das auch möglich sein. Es ist ohnehin nicht einzusehen, warum der so genannte Doku-Boom ausgerechnet vor dem Kinderfernsehen Halt machen sollte. Dabei zeigen diverse Produktionen aus dem Abendprogramm ("Walking with Dinosaurs"/ ProSieben, "Die Schillergang", WDR, "Grünschnäbel" / ZDF -Kleines Fernsehspiel und "Im Nest der Katze"/ ZDF - Kleines Fernsehspiel), dass Kinder durchaus für dokumentarische Formen zu begeistern sind. Und auf dem Symposium haben es einige von ihnen selbst gesagt, aber dabei vorausgesetzt, "wenn das Thema stimmt" und das hieß, wenn ihre Lebenswirklichkeit zum Thema wird.

In Deutschland aber steckt das Genre in einem Teufelskreis: Weil dokumentarische Sendeplätze zu wenig beworben werden, gehen sie in der Masse unter. Weil sie untergehen, wird geschlussfolgert: Das Publikum interessiert sich nicht für diese Fernsehform. Für Produktionen des Kinderfernsehens darf daher nicht weniger Werbung getrieben werden als für das Erwachsenenprogramm. Dass Kinderfilme im allgemeinen und Dokumentationen für Kinder nicht "billiger" sein dürfen als das Erwachsenenfernsehen, versteht sich von selbst.

Der Kinderkanal KIKA von ARD und ZDF plant eine Doku-Schiene im Programm. Eine solche Schiene muss Zeit haben, sich zu etablieren. Und sie muss offen sein für die ganze inhaltliche und stilistische Vielfalt des Genres. Dokumentationen für Kinder richten sich dem betulichen Anschein nach immer noch zu oft an das Bildungsbürgertum. Fernsehen für Kinder aber muss immer auf der Höhe der Zeit sein, muss hip sein, ruhig auch verspielt oder experimentell; Kinder sind in der Regel weitaus offener für ungewohnte Formen als Erwachsene.

Zu überlegen ist auch eine stärkere Kooperation zwischen KIKA und Arte für jene Sendezeit, in der Kinder am meisten fernsehen. Bislang endet das Kika-Programm um 19.00 Uhr. Arte, zu dieser Zeit vermutlich ohnehin kaum wahrgenommen, könnte für die Zeit bis 21.00 verstärkt auf dokumentarisches Fernsehen und entsprechende Sendeplätze setzen, das sich an die ganze Familie richtet und Kinder ausdrücklich mit einbezieht.

Bei Stoffen, die nur mit hohem Aufwand realisiert werden können, wäre zudem eine stärkere und frühe Kooperation der verschiedenen Abteilungen und Redaktionen der Sender wünschenswert, um "Doppelausstrahlungen" von Dokumentarfilmen, die für Kinder und Erwachsene gleichermaßen interessant sind, zu sichern und auch, um Finanzmittel für die Produktionen zusammen zu legen. Das würde allerdings auch bedeuten, im Kinderprogramm Sendeplätze für längere Formate möglich zu machen.

Für die Nachverwertung sollte es möglich sein, Kinderdokumentarfilme aus dem Fernsehen für nicht-kommerzielle Vertriebe und Verleihe (wie den BJF, Filmothek der Jugend) zu vertretbaren Preisen anzukaufen.

Und nicht zuletzt, weil wir hier vom Fernsehen sprechen, könnten auch die Ausrichter von Fernsehpreisen, die Programme für ihre Qualität auszeichnen und ihnen damit wieder Publizität verschaffen, ihr Augenmerk ebenfalls auf das Kinderprogramm oder für Kinder geeignete Abendprogramme richten.


2. Filmförderung

Ein Sendeplatz wie die neue Doku-Schiene bei KIKA könnte mit einer Förderrichtlinie der Filmförderer kombiniert werden. Denkbar ist eine Koordination zwischen der Nachwuchsförderung der Filmhochschulen und Sendeplätzen wie denen von KIKA, für die die Filmförderer Mittel (d.h. für die Träger von KIKA) bereitstellen und die künstlerische Qualität begutachten.
Ohnehin sollten einige Fördergremien ihre ausschließliche Ausrichtung auf "kulturelle Filmförderung" überdenken und ihre Statuten vielleicht um den Begriff "kulturelle Fernsehförderung" erweitern.

Bei der Abspielförderung sollte mit ein bezogen werden, ob Festivals die Kategorie "Dokumentarfilme für Kinder" einrichten wollen (wie es die Festivals in Berlin und Leipzig offenbar in Erwägung ziehen). Auch bei der Förderung von Programmkinos könnte dieses Genre neben dem Kinderfilm Berücksichtigung finden. Wie attraktive Programme in Kinos aussehen könnten, wurde auf dem Symposium ebenfalls deutlich.

Im Rahmen der Vertriebsförderung sollte erwogen werden, den nicht-gewerblichen Filmverleih stärker zu unterstützen. Dass ein ganz offensichtlich bei Kindern sehr beliebter Film wie "Aligermaas Abenteuer" (von Andra Lasmanis, Dänemark / Schweden 1998) oder auch "Ghetto princess" (von Cathrine Asmussen, Dänemark 1999) in Deutschland nicht zu sehen ist, bloß weil kein Fernsehsender die Synchronisierungskosten übernehmen will und ihn sendet, ist ein Unding. Hier könnten Fördereinrichtungen Synchronisierung und Kopien bezuschussen.

Insgesamt wurde deutlich, dass Filmfördereinrichtungen ihre abwartende Haltung in bezug auf den Eintrag von Drehbüchern und Filmprojekten aufgeben. Sie sollten ihrerseits Regisseure und Produzenten über ihre Richtlinien informieren bzw. sie dahingehend ändern, welche Mittel für die Förderung von Treatments und Drehbüchern von Dokumentarfilmen für Kinder zur Verfügung stehen. Dass Autoren, Regisseure und Produzenten Interesse an dem Genre haben, zeigte nicht zuletzt die rege Beteiligung an der Tagung.

Denkbar wäre auch ein vom Kuratorium junger deutscher Film initiiertes Stimulierungsmodell in Form eines Schul-Wettbewerbs für Doku-Drehbücher nach niederländischem Vorbild. Dieser Wettbewerb könnte beispielsweise in Kooperation mit den Kultusministerien durchgeführt werden.

3. Vertrieb und Verleih

Für den Bereich des Vertriebs und des Verleihs besteht zur Zeit noch die Schwierigkeit, dass viele Filme aus Qualitätsgründen nur auf 16mm vertrieben werden. Die Herstellung von 16-mm-Kopien von Ausgangsmaterial, das inzwischen vielfach auf Digi-Video vorliegt, kostet viel Geld. Der Vertrieb auf DVD und dessen Förderung könnte hier einen Ausweg darstellen.

Nicht-gewerbliche Verleiher wie der Bundesverband Jugend und Film e.V. in Kooperation mit anderen Verleihern könnten zudem Pakete mit Dokumentarfilmen für Kinder für Schulen und die Kinder- und Jugendfilmarbeit zusammenstellen; auch diese Pakete könnten von der Vertriebsförderung profitieren bzw. könnten sie zusätzliche Mittel von den jetzigen Finanziers der Kinder- und Jugendfilmarbeit erhalten.

Auch das FWU sollte in die Förderung von Kinderdokumentarfilmen einbezogen sein und diese unterstützen. Denkbar sind ebenfalls Synchronisationen von Filmen, die für die Unterrichtsfächer der Schulen wie für den außerschulischen Gebrauch Filme verfügbar machen. Ein Film wie "Ghetto princess", 41 Min., über die Freundschaft zwischen einem türkischen und dänischen Mädchen, eignet sich z.B. für den Schulunterricht wie für die außerschulische Verwendung.

TV-Sender können außerdem vom einem Erfahrungsaustausch mit nicht-gewerblichen Verleihern profitieren, weil deren Arbeit mit vielfältigen Kontakten und Aufführungen gewissermaßen eine qualitative Zuschauerforschung darstellt: TV-Sender können auf günstige Weise erfahren, welche Filme beim jungen Publikum langfristig erfolgreich sind. Das bedeutet, dass Redaktionen mögliche Nachverwertungen ihrer Sendungen nicht ganz aus dem Auge verlieren und hier ein Informations- und Erfahrungsaustausch anregend wirken könnte.

4. Medienpädagogik

Im schulischen Kontext ist Medienerziehung spätestens seit Initiativen wie "Schulen ans Netz" auf das Internet fixiert. Filmarbeit beschränkt sich auf Lehrfilme, die direkt auf die Lehrpläne abgestimmt sind. Obwohl selbst dieser Zugang nicht genügend ausgeschöpft wird, wäre es denkbar auch hier initiierend zu wirken: Z.B. wäre der auf dem Symposium gezeigte holländische Film "In Belfast staat en muur", 54 Min., eine ideale Ergänzung zum Englischunterricht, in dessen Lehrbüchern der nordirische Konflikt schon längst Unterrichtsgegenstand ist.
Gemeinsam mit TV-Sendern und den Fördergremien könnten in den Schulen Drehbuchwettbewerbe zu Themen, die Kinder selbst für wichtig halten und die sie entwickeln, stattfinden (wie es sie bereits jetzt auf der Basis von privaten Initiativen gibt und wie es das Modell des holländischen Stimuleringsfonds vormacht). Die TV-Sender stellen die Jurys und verpflichten sich, die besten Drehbücher zu realisieren.

5. Festivals

Die Festivals, das zeigte das Symposium, erfüllen in vielfacher Hinsicht ihre Aufgabe, Filme, die im Land und im Fernsehprogramm nicht zu sehen sind, bereits jetzt an ein Publikum heran zu tragen.


Wünschenswert bleibt für viele Dokumentarfilmfestivals wie Kinderfilmfeste, ihren Fokus um Dokumentarfilme für Kinder zu erweitern - auch wenn dies zunächst mehr Recherchearbeit bedeutet. Das größte europäische Dokumentarfilmfestival in Amsterdam geht bereits diesen Weg und sorgt u.a. so dafür, sich auch in Zukunft sein Publikum zu sichern. Das Kinderfilmfest in Berlin und das Leipziger Dokumentarfilmfestival stellen ähnliche Überlegungen an.

Deutlich wurde auch, dass viele für den Erwachsenenmarkt produzierte Filme für Kinder geeignet sind wie andersherum auch. Diese Erkenntnis gibt den Festivals und der Programmierung und der Filmauswahl mehr Bewegungsmöglichkeiten.

Wünschenswert wäre auch, dass Festivals, noch mehr als bisher, Fernsehre-daktionen auf erfolgreich gelaufenen Filme aufmerksam machen, so dass diese im Massenmedium ein größeres Publikum erreichen könnten.

6. Hochschulen

An den Hochschulen wird in den seltensten Fällen auf die Zielgruppe der Kinder hin Filmarbeit gelehrt. Wenn man berücksichtigt, dass die Freiheit der Studierenden, sich ihre Stoffe auszusuchen und für deren Realisierung die Unterstützung der Hochschulen zu beanspruchen, eine gute Struktur ist, wären im Angebot der Hochschulen doch einige Akzente wünschenswert: etwa Gastprofessuren von Filmemachern, die sich bereits durch die Realisierung von Kinderdokumentarfilmen ausgezeichnet haben, Seminarangebote und Filmreihen. An der HFF Potsdam gibt es bereits Pläne, einen Studiengang "Kinderfilm" einzurichten. Auch hier wäre die Berücksichtigung der dokumentarischen Formen denkbar und wichtig.

Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, dass die verschiedenen Beteiligten - TV-Sender, Fördereinrichtungen, nicht-gewerblicher Vertrieb / Verleih, Schulen und Hochschulen sowie Kultusministerien - beginnen, ihre Erfahrungen mit der Vorführung und dem Bedarf von Dokumentarfilmen für Kinder auszutauschen und Strukturen aufzubauen.

Eine große Koalition für den Dokumentarfilm für Kinder: heute noch eine Utopie. Aber machbar.